Alles beginnt mit einem ebenso allgegenwärtigen wie zumeist überhörten Stöhnen: Die Mitarbeiter in der »mittleren Ebene« des IT-Konzerns McWorthy leiden still unter den Zumutungen ihres Jobs. Nie können sie sicher sein, wo sie sich befinden und wohin sie unterwegs sind (oder sein sollten). Letztes Mittel der Selbstbewahrung: die Flucht ins Irrationale. Das Upgrade in die First Class wird zum Lebenszweck; die Opferung eines USB-Sticks zum Karriere-Boost, der eigene Unfalltod im geliebten Cabrio zum irgendwie erleichternden Wunschtraum.
Mit allen möglichen Einbildungen und Fiktionen versuchen die Figuren dieser Erzählungen, sich das Arbeitsleben erträglich zu machen, oder überwinden sich zu neuen Verbiegungen und Unterwerfungen. Unausgesprochen steht hinter allem die Frage: Warum haltet ihr das alles aus?
Mit allen möglichen Einbildungen und Fiktionen versuchen die Figuren dieser Erzählungen, sich das Arbeitsleben erträglich zu machen, oder überwinden sich zu neuen Verbiegungen und Unterwerfungen. Unausgesprochen steht hinter allem die Frage: Warum haltet ihr das alles aus?
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Schon der Titel von Frank Jakubziks Erzählungen stößt einen auf die hochgradige Relevanz des Themas, bemerkt Rezensent Dirk Knipphals: die polierte, globalisierte, moderne Arbeitswelt. Bei solch augenfälligem Gegenwartsbezug wird der Kritiker schnell misstrauisch, im Fall von "In der mittleren Ebene" jedoch unberechtigterweise, muss Knipphals einräumen, denn Jakupziks Erzählungen über den Frust, die Tagträume, Fantasien und inneren Fluchten der mittleren Angestellten seien vor allem literarisch zu würdigen. Besonders im kühlen und genauen Beobachten "mittlerer Verzweiflungslagen" und den Bemühungen des nicht kleinen, nicht großen, aber eben mittelgroßen Mannes, sich auf der Stelle zu halten, beweist der Autor mit viel Feingefühl und Verständnis, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2016Leben als
Kaltakquise
Frank Jakubzik erzählt in
seinem Band „In der mittleren Ebene“
Geschichten vom Kapitalismus
VON LOTHAR MÜLLER
Die Winde über dem Atlantik müssen günstig gewesen sein. Jedenfalls landet der Flieger früher als erwartet in Frankfurt am Main. Jemand, der nicht von den Strategiepapieren geträumt hat, über denen er eingeschlafen ist, könnte jetzt doch schon zu Hause sein, ehe die kleine Tochter eingeschlafen ist. Es ist ihr zweiter Geburtstag. Aber auf dem Mobiltelefon ist eine Nachricht aus dem Büro. Es wird also spät werden.
In den Zeiten der Globalisierung scheinen die einfachen Geschichten ausgespielt zu haben. Wir haben gelernt und wiederholen die Formel immer wieder: Je moderner die Welt, desto komplexer wird sie. Nur wer selber komplex ist, kann hoffen, ihr gewachsen zu sein. Die einfachen Geschichten sind nicht komplex, Ratgeber zur Selbstoptimierung verstehen sie nicht. Manche haben Asyle gefunden, in denen sie nicht unzufrieden weiterleben, in Pop-Songs, im Leinwand-Melodram, in einer Vorabendserie. Aber in der modernen Literatur, die mit der Gegenwart Schritt halten will, haben sie es schwer.
Es ist schließlich eher unwahrscheinlich, auf den Fluren eines IT-Weltkonzerns den Königskindern aus dem Volkslied zu begegnen. Hier aber, in der Erzählung „Großvater erzählt vom Krieg: Jakob und Elvira in der globalen Welt“, in der kein Großvater vom Krieg erzählt, tauchen sie plötzlich auf. Laufen sich auf den Fluren eines IT-Weltkonzerns über den Weg, werden versetzt, verlieren sich aus den Augen, finden wieder zusammen, werden wieder versetzt. So geht das fort, auf wenigen Seiten, als habe ein Dschinn aus „Tausendundeine Nacht“, der einen Kaufmann in Damaskus einschlafen und in Bagdad aufwachen lässt, sich in den Personalchef des Unternehmens verwandelt, und irgendwann bringt eine Erzählerstimme den etwas lächerlichen Titel ins Spiel, den die Geschichte auch tragen könnte: „Königskinder, postdigital.“
Die Erzählerstimme gehört zum Weltkonzern McWorthy, sie ist auf der obersten Leitungsebene angesiedelt, ihr Inhaber wacht über die Abläufe in der mittleren Ebene. Und ist äußerst misstrauisch gegenüber der Geschichte, die er erzählt. Er mag sie nicht, er traut ihr nicht, er glaubt sie nicht, und er befürchtet, dass sie auf den Fluren der mittleren Ebene, wo sie als Gerücht kursiert, nur Unheil stiften kann. „Ein modernes Märchen, eine urbane Legende.“ „Die Mär von den zwei Liebenden, die der globalisierte Geschäftsprozess trennt. Ich weine schon, wenn ich das nur höre.“ Das ist abschätzig gemeint. Aber der Abwehrzauber gelingt nicht. Denn es ist wirklich eine herzzerreißende Geschichte. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.
Frank Jakubzik, geboren 1965 in Kassel, ein Mann von gut fünfzig Jahren, ist ein eher später literarischer Debütant. Aber nicht erst in diesem Buch, „In der mittleren Ebene. Erzählungen aus den kapitalistischen Jahren“, ist sein Name zu finden. Er ist seit langem schon ein gefragter Übersetzer von Sachbüchern, in denen viel Literatur steckt. Franco Morettis Studie über den Bourgeois als Schlüsselfigur der Moderne, die erzählende Soziologie des Engländers Daniel Miller, Roger Silverstones „Mediapolis“, die Bücher von Colin Crouch über den Finanzkapitalismus und die Zählebigkeit des Neoliberalismus hat er ins Deutsche gebracht. Und vieles andere mehr, darunter den Essay des noch jungen Studenten David Foster Wallace über die Modallogik, den Zufall, das Schicksal und die Naturgesetze.
Ein Meister der Metaphern und Vergleiche ist dieser Debütant nicht. „Blicke gaben einander die Klinke in die Hand“ schreibt er, oder „Die Sonne stach wie ein Menetekel schräg durch die noch kaum belaubten Zweige“. Aber dafür entschädigt die Beiläufigkeit, mit der er seine Figuren in Tagträume, Albträume und Aussteigerfantasien verwickelt, Schrecksekunden einfriert und Momente, in denen scheinbar den Wünschen geholfen werden kann. Einmal sitzen die Königskinder in einer Frankfurter Altbauwohnung zusammen, bei geöffnetem Fenster, und sind in den Ton einer einfachen Geschichte gehüllt: „Ziehst du zu mir? Wie soll das gehen? Draußen hupt jemand. Enge Frankfurter Altbaustraßen. Der Vorhang bauscht sich einen Moment lang, als wolle er ins Gespräch eingreifen. Ich will mit dir zusammen sein. Ich auch.“
Jemand, es ist der Unscheinbarste im Großraumbüro, der in der Kantine immer bei den Hydropflanzen sitzt, blickt aus dem Fenster und sieht plötzlich sich selbst, als Helden eines Abenteuers in Südamerika, wo er wie in einer Telenovela die brasilianische Sekretärin vor den Zudringlichkeiten eines rotgesichtigen Chefs rettet. Ein anderer liest in einer E-Mail, was schon in der Betreffzeile steht: „Hans-Günter Kremers ist tot, stand da. Und erst, als er reflexartig am Mausrad drehte: R.I.P. Goofy. Ein Scherz? Ausgeschlossen. Seinem doofen hippiehaften Pseudonym zum Trotz war Goofy ein ausgewiesener, manchmal peinigender Pedant.“ Die Erzählung wird von der Unruhe handeln, die aus der Nüchternheit der Todesnachricht hervorgeht. Und lässig werden die Betriebsabläufe die Lücke schließen, die sich aufgetan hat.
Berichte aus dem wirklichen Leben sind diese Geschichten nicht, da hat der Manager aus der Chefetage schon recht, es sind urban legends. Doch die nähren sich von der Welt, wie sie ist, sonst würden sie kaum so erfolgreich kursieren im IT-Weltkonzern McWorthy, der einzigen Figur, die in allen Erzählungen auftaucht. Einen Dresscode scheint es für diese gehetzten Vielflieger und Großraumbürobewohner, die an einem „Kick-Off“- Meeting teilnehmen, über schrumpfende Margen sinnieren oder im Regen über die Lexington Avenue in New York eilen, nicht zu geben. Aber es gibt die Sprache, die ihren Alltag und sie selbst zusammenhält.
Die Marktdurchdringung soll durch Coldcall-Aktionen gesteigert werden, der halbe Vertrieb schwitzt über solchen Kaltakquisen, ein störrischer Retrieval erzeugt ein Code-Problem, die Tanzfläche zum Abschluss der Software Academy öffnet sich erst, wenn die Breakout-Session über die Cloud-Technologie absolviert ist.
Aber wie sich in den komplexen Lebensverhältnissen die einfachen Geschichten verstecken, so haben in diesem Sprachklima alte Wörter überlebt, der „Grus“ oder ein „zages“ Grün, und in die Geschichte von den Königskindern greifen „die Schlagtürme des Schicksals ein“. Schlagtürme? Ja, Schlagtürme. Sie sind versehentlich ins Deutsche geraten, die Bumpers der Flipperautomaten, von denen die Kugel, die schon immer ein Schicksalssymbol war, in die schräge Spielfläche hochgejagt wird.
Der Kapitalismus als ökonomische Grundstruktur ist hier vorausgesetzt. Erzählt wird vom Kapitalismus als Lebenswelt. Und wie in Ulrich Peltzers Roman „Das bessere Leben“ oder im Erzählungsband „Fallensteller“ von Saša Stanišić schält sich dabei ein wiederkehrendes Muster heraus: das plötzliche Herauskippen aus dieser Lebenswelt, das Sich-Verlorengehen, der Umschlag von höchster Anspannung in rätselhaftes Erschlaffen. „Ein Erstaunen von albtraumhafter Behäbigkeit, diese Müdigkeit in seiner Brust, seinem Kopf, seinem Herzen.“
Einer hofft eher, als dass er befürchtet, die Messe zu verpassen. In einem Referenzkunden, der vor einer Kamera ein werbetaugliches Statement produzieren soll, erschlafft die Betriebssprache: „Zäh verlassen die Silben den Geschäftsführermund.“ Wie die akustischen Mini-Sequenzen aus einem Kraftwerk-Song, die wegen ihrer leichten Wiedererkennbarkeit so wertvoll sind, schlagen in den besten Geschichten Schnipsel aus aktuellen Fiktionswelten den Grundton an.
Ein „Dr. House“-Fan und Autoliebhaber gerät in seinem fliederfarbenen Cabriolet – geträumt oder erlebt? – als Unfallopfer in einen Notarztwagen, ein hochmobiler Mitarbeiter erlebt in einem Wald bei Oslo eine Horrorfilm-Episode vom Typ „Wrong turn“, gedankenverloren sitzt der zu spät heimgekehrte Vater am Bett seines schlafenden Kindes, in dem etwas Unheimliches schlummert. So leben sie hin.
Altmodische Wörter haben im
Sprachklima der Uneigentlichkeit
überwintern können
Frank Jakubzik: In der mittleren Ebene. Erzählungen aus den kapitalistischen Jahren. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 170 Seiten, 16,50 Euro.
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Kaltakquise
Frank Jakubzik erzählt in
seinem Band „In der mittleren Ebene“
Geschichten vom Kapitalismus
VON LOTHAR MÜLLER
Die Winde über dem Atlantik müssen günstig gewesen sein. Jedenfalls landet der Flieger früher als erwartet in Frankfurt am Main. Jemand, der nicht von den Strategiepapieren geträumt hat, über denen er eingeschlafen ist, könnte jetzt doch schon zu Hause sein, ehe die kleine Tochter eingeschlafen ist. Es ist ihr zweiter Geburtstag. Aber auf dem Mobiltelefon ist eine Nachricht aus dem Büro. Es wird also spät werden.
In den Zeiten der Globalisierung scheinen die einfachen Geschichten ausgespielt zu haben. Wir haben gelernt und wiederholen die Formel immer wieder: Je moderner die Welt, desto komplexer wird sie. Nur wer selber komplex ist, kann hoffen, ihr gewachsen zu sein. Die einfachen Geschichten sind nicht komplex, Ratgeber zur Selbstoptimierung verstehen sie nicht. Manche haben Asyle gefunden, in denen sie nicht unzufrieden weiterleben, in Pop-Songs, im Leinwand-Melodram, in einer Vorabendserie. Aber in der modernen Literatur, die mit der Gegenwart Schritt halten will, haben sie es schwer.
Es ist schließlich eher unwahrscheinlich, auf den Fluren eines IT-Weltkonzerns den Königskindern aus dem Volkslied zu begegnen. Hier aber, in der Erzählung „Großvater erzählt vom Krieg: Jakob und Elvira in der globalen Welt“, in der kein Großvater vom Krieg erzählt, tauchen sie plötzlich auf. Laufen sich auf den Fluren eines IT-Weltkonzerns über den Weg, werden versetzt, verlieren sich aus den Augen, finden wieder zusammen, werden wieder versetzt. So geht das fort, auf wenigen Seiten, als habe ein Dschinn aus „Tausendundeine Nacht“, der einen Kaufmann in Damaskus einschlafen und in Bagdad aufwachen lässt, sich in den Personalchef des Unternehmens verwandelt, und irgendwann bringt eine Erzählerstimme den etwas lächerlichen Titel ins Spiel, den die Geschichte auch tragen könnte: „Königskinder, postdigital.“
Die Erzählerstimme gehört zum Weltkonzern McWorthy, sie ist auf der obersten Leitungsebene angesiedelt, ihr Inhaber wacht über die Abläufe in der mittleren Ebene. Und ist äußerst misstrauisch gegenüber der Geschichte, die er erzählt. Er mag sie nicht, er traut ihr nicht, er glaubt sie nicht, und er befürchtet, dass sie auf den Fluren der mittleren Ebene, wo sie als Gerücht kursiert, nur Unheil stiften kann. „Ein modernes Märchen, eine urbane Legende.“ „Die Mär von den zwei Liebenden, die der globalisierte Geschäftsprozess trennt. Ich weine schon, wenn ich das nur höre.“ Das ist abschätzig gemeint. Aber der Abwehrzauber gelingt nicht. Denn es ist wirklich eine herzzerreißende Geschichte. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.
Frank Jakubzik, geboren 1965 in Kassel, ein Mann von gut fünfzig Jahren, ist ein eher später literarischer Debütant. Aber nicht erst in diesem Buch, „In der mittleren Ebene. Erzählungen aus den kapitalistischen Jahren“, ist sein Name zu finden. Er ist seit langem schon ein gefragter Übersetzer von Sachbüchern, in denen viel Literatur steckt. Franco Morettis Studie über den Bourgeois als Schlüsselfigur der Moderne, die erzählende Soziologie des Engländers Daniel Miller, Roger Silverstones „Mediapolis“, die Bücher von Colin Crouch über den Finanzkapitalismus und die Zählebigkeit des Neoliberalismus hat er ins Deutsche gebracht. Und vieles andere mehr, darunter den Essay des noch jungen Studenten David Foster Wallace über die Modallogik, den Zufall, das Schicksal und die Naturgesetze.
Ein Meister der Metaphern und Vergleiche ist dieser Debütant nicht. „Blicke gaben einander die Klinke in die Hand“ schreibt er, oder „Die Sonne stach wie ein Menetekel schräg durch die noch kaum belaubten Zweige“. Aber dafür entschädigt die Beiläufigkeit, mit der er seine Figuren in Tagträume, Albträume und Aussteigerfantasien verwickelt, Schrecksekunden einfriert und Momente, in denen scheinbar den Wünschen geholfen werden kann. Einmal sitzen die Königskinder in einer Frankfurter Altbauwohnung zusammen, bei geöffnetem Fenster, und sind in den Ton einer einfachen Geschichte gehüllt: „Ziehst du zu mir? Wie soll das gehen? Draußen hupt jemand. Enge Frankfurter Altbaustraßen. Der Vorhang bauscht sich einen Moment lang, als wolle er ins Gespräch eingreifen. Ich will mit dir zusammen sein. Ich auch.“
Jemand, es ist der Unscheinbarste im Großraumbüro, der in der Kantine immer bei den Hydropflanzen sitzt, blickt aus dem Fenster und sieht plötzlich sich selbst, als Helden eines Abenteuers in Südamerika, wo er wie in einer Telenovela die brasilianische Sekretärin vor den Zudringlichkeiten eines rotgesichtigen Chefs rettet. Ein anderer liest in einer E-Mail, was schon in der Betreffzeile steht: „Hans-Günter Kremers ist tot, stand da. Und erst, als er reflexartig am Mausrad drehte: R.I.P. Goofy. Ein Scherz? Ausgeschlossen. Seinem doofen hippiehaften Pseudonym zum Trotz war Goofy ein ausgewiesener, manchmal peinigender Pedant.“ Die Erzählung wird von der Unruhe handeln, die aus der Nüchternheit der Todesnachricht hervorgeht. Und lässig werden die Betriebsabläufe die Lücke schließen, die sich aufgetan hat.
Berichte aus dem wirklichen Leben sind diese Geschichten nicht, da hat der Manager aus der Chefetage schon recht, es sind urban legends. Doch die nähren sich von der Welt, wie sie ist, sonst würden sie kaum so erfolgreich kursieren im IT-Weltkonzern McWorthy, der einzigen Figur, die in allen Erzählungen auftaucht. Einen Dresscode scheint es für diese gehetzten Vielflieger und Großraumbürobewohner, die an einem „Kick-Off“- Meeting teilnehmen, über schrumpfende Margen sinnieren oder im Regen über die Lexington Avenue in New York eilen, nicht zu geben. Aber es gibt die Sprache, die ihren Alltag und sie selbst zusammenhält.
Die Marktdurchdringung soll durch Coldcall-Aktionen gesteigert werden, der halbe Vertrieb schwitzt über solchen Kaltakquisen, ein störrischer Retrieval erzeugt ein Code-Problem, die Tanzfläche zum Abschluss der Software Academy öffnet sich erst, wenn die Breakout-Session über die Cloud-Technologie absolviert ist.
Aber wie sich in den komplexen Lebensverhältnissen die einfachen Geschichten verstecken, so haben in diesem Sprachklima alte Wörter überlebt, der „Grus“ oder ein „zages“ Grün, und in die Geschichte von den Königskindern greifen „die Schlagtürme des Schicksals ein“. Schlagtürme? Ja, Schlagtürme. Sie sind versehentlich ins Deutsche geraten, die Bumpers der Flipperautomaten, von denen die Kugel, die schon immer ein Schicksalssymbol war, in die schräge Spielfläche hochgejagt wird.
Der Kapitalismus als ökonomische Grundstruktur ist hier vorausgesetzt. Erzählt wird vom Kapitalismus als Lebenswelt. Und wie in Ulrich Peltzers Roman „Das bessere Leben“ oder im Erzählungsband „Fallensteller“ von Saša Stanišić schält sich dabei ein wiederkehrendes Muster heraus: das plötzliche Herauskippen aus dieser Lebenswelt, das Sich-Verlorengehen, der Umschlag von höchster Anspannung in rätselhaftes Erschlaffen. „Ein Erstaunen von albtraumhafter Behäbigkeit, diese Müdigkeit in seiner Brust, seinem Kopf, seinem Herzen.“
Einer hofft eher, als dass er befürchtet, die Messe zu verpassen. In einem Referenzkunden, der vor einer Kamera ein werbetaugliches Statement produzieren soll, erschlafft die Betriebssprache: „Zäh verlassen die Silben den Geschäftsführermund.“ Wie die akustischen Mini-Sequenzen aus einem Kraftwerk-Song, die wegen ihrer leichten Wiedererkennbarkeit so wertvoll sind, schlagen in den besten Geschichten Schnipsel aus aktuellen Fiktionswelten den Grundton an.
Ein „Dr. House“-Fan und Autoliebhaber gerät in seinem fliederfarbenen Cabriolet – geträumt oder erlebt? – als Unfallopfer in einen Notarztwagen, ein hochmobiler Mitarbeiter erlebt in einem Wald bei Oslo eine Horrorfilm-Episode vom Typ „Wrong turn“, gedankenverloren sitzt der zu spät heimgekehrte Vater am Bett seines schlafenden Kindes, in dem etwas Unheimliches schlummert. So leben sie hin.
Altmodische Wörter haben im
Sprachklima der Uneigentlichkeit
überwintern können
Frank Jakubzik: In der mittleren Ebene. Erzählungen aus den kapitalistischen Jahren. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 170 Seiten, 16,50 Euro.
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»Wie die akustischen Mini-Sequenzen aus einem Kraftwerk-Song ... schlagen in den besten Geschichten Schnipsel aus aktuellen Fiktionswelten den Grundton an.« Lothar Müller Süddeutsche Zeitung 20161018