Produktdetails
- Verlag: Berliner Taschenbuchverlag
- ISBN-13: 9783442760558
- ISBN-10: 3442760550
- Artikelnr.: 23988478
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.1995Treppenhaus mit böser Miene
Rosa Chacel erzählt von der Oase am Rande der Stadt
Es gibt eine Erinnerungsgabe, die bestechend genau ist in den Beobachtungen, die sie aufbewahrt, und gleichzeitig frei und leicht genug, das, was sie erinnern läßt, eigentlich erst zu erfinden. Aus ihr allein wird geboren, was man die Kunst der kleinen Szene nennen könnte. Kafkas "Kinder auf der Landstraße" wäre ein Beispiel dafür. Ebenso Proust, zwar oft seitenlang philosophierend, doch unübertrefflich in seinen Vergleichen. Oder schließlich noch Truman Capote, "Die Grasharfe" und ihr Gesang vom Zauber der wunderbaren Jahre.
Rosa Chacels erster Roman beginnt wie eine Mischung aus allen dreien - wobei von Mischung zu reden die Sache schon allein deshalb nicht ganz trifft, weil Chacel ja lange vor Capote zu schreiben begann (die spanische Erstausgabe ihres Romans erschien 1930). Auch trägt sie den eigenständigen Anspruch ihrer Erzählweise im Fortgang des Romans forciert genug vor, um für unverwechselbar gelten zu können. Nur eben der Anfang evoziert diesen ebenso eigentümlichen wie gleichsam aus der Masse herausdestillierten Zauber einer verlorenen Zeit. Ihr einstiges Refugium hat dem Roman seinen Titel gegeben: "In der Oase".
Die Oase, das ist das Haus am Rande Madrids, in dem der Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend verbringt, seine (der Text selber baut auf das entwicklungspsychologische Fremdwort) "Adoleszenz". Die Straße, in der das Haus steht, ist finster und schmal, aber sein Hof ein einziger Lichtfang. Das Treppenhaus ist "abweisend", ist "kalt", geprägt vom "unguten Einfluß seines Halbdunkels", dem auch seine Bewohner ("wir, die wir wissen, daß seine böse Miene nicht uns gilt") sich nicht erwehren können - und so laufen auch sie, "vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf" -, und doch soll er gerade hier sich ereignen, der erste Kuß, dessen Beschreibung zum Hinreißendsten gehört, was dieses thema con variationi zu bieten hat. "Seit jenem Tag gab es Gespenster im Treppenhaus. Die anderen im Haus merkten, daß sich etwas davonmachte, wenn sie unten eintraten oder aus ihren Wohnungen kamen, worauf das Treppenhaus mit falscher Unschuldsmiene tat, als sei ,nichts gewesen'."
Der Erzähler, kurzum, beginnt mit der Geschichte seiner ersten Liebe. Von der "Oase" aus begibt er sich dann allerdings auf Reisen, und selbst wenn er zuletzt glaubt, wieder von vorne beginnen zu können ("Etwas ist zu Ende. Jetzt kann ich sagen: Anfang!") - seine Unschuld hat er doch für immer eingebüßt. In der zweiten Hälfte des Romans schwindet die Poesie des Anfangs dahin. "So verlor sich mein Leben während jener Tage in Gedankenspielereien", lautet einer der letzten noch halbwegs erzählenden Sätze; der Rest ist Philosophie.
So tritt im weitern Verlauf des Buches zunehmend deutlicher in den Vordergrund, worauf schließlich auch das Nachwort des Übersetzers vor allem abhebt: die Zugehörigkeit der Autorin zum illustren Kreis um Ortega y Gasset, zur "berühmten ,27er Generation'" der Lorca, Alberti, Salinas und anderer. "Ohne Ortega wäre es nie zu diesem Buch gekommen", schrieb Chacel selber, als dieser 1956 starb. Aber so dankbar man darum für die Hiweise zu dieser "intellektuellen Konstellation" auch sein mag, mehr und anders gebührt dem Übersetzer wie dem Verlag großer Dank dafür, dieses Buch an und für sich wiederentdeckt zu haben. Denn das Gedankengut als solches ist es am wenigsten, was in seinen Bann zieht.
Sicher, man kann interessante Theorieelemente bis dato virulenter Debatten finden, etwa der Medientheorie: "Ausgangspunkt war die Sucht, die Dinge wie eine Filmkamera sehen zu wollen . . ." Zudem beweist der Text mehr und mehr jene Risikobereitschaft, die der literarischen Moderne einst ihre avantgardistische Prägung verlieh. Statt geradlinig fortzuerzählen, spinnt er sich immer tiefer in selbstreflexive Phantasien seiner eigenen Genese ein ("Ich werde mein Leben aus neuem Material rekonstruieren") und gerät eben darüber so assoziativ wie folglich sprunghaft: gewollte Stilübung im wiederholten "unvermittelten Einsetzen einer neuen Handlung, was die ihr vorausgehende unbeendet bleiben läßt".
Doch bewahrt er hierin zum einen die Kunst der richtigen, knappen Phrasierung, so daß es zum anderen - immer "kurz bevor es mit der Geduld des Kunden (also des Lesers) endgültig vorbei sein wird" - wohl gar nicht die Gedankenfäden sein wollen, die uns Satz um Satz weitertragen. Alle Schönheit kommt vielmehr bis zuletzt aus ihrem ganzen Gegenteil, aus der Unwiderleglichkeit der Bilder, die schon den Anfang trug. "Manchmal", kann man darum diesem selbst den Schluß überlassen, "wenn wir etwas uns Wesentliches erreichen wollen, setzen wir alles auf die Überzeugungskraft unserer Worte. Gelingt es uns dabei nicht, den Gott des Augenblicks auf unsere Seite zu ziehen, verdreht das Licht die Augen, und die Tür läßt ein Gähnen vernehmen. Bei anderer Gelegenheit jedoch, so wie dieses Mal, mischt er sich mitten im Gespräch ein, die Miene unseres Gegenübers hellt sich schlagartig auf, und wir erreichen kein kühles Beipflichten, sondern begeisterte Zustimmung." BERNHARD DOTZLER
Rosa Chacel: "In der Oase". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Kultzen. Peter Kirchheim Verlag, München 1994. 124 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rosa Chacel erzählt von der Oase am Rande der Stadt
Es gibt eine Erinnerungsgabe, die bestechend genau ist in den Beobachtungen, die sie aufbewahrt, und gleichzeitig frei und leicht genug, das, was sie erinnern läßt, eigentlich erst zu erfinden. Aus ihr allein wird geboren, was man die Kunst der kleinen Szene nennen könnte. Kafkas "Kinder auf der Landstraße" wäre ein Beispiel dafür. Ebenso Proust, zwar oft seitenlang philosophierend, doch unübertrefflich in seinen Vergleichen. Oder schließlich noch Truman Capote, "Die Grasharfe" und ihr Gesang vom Zauber der wunderbaren Jahre.
Rosa Chacels erster Roman beginnt wie eine Mischung aus allen dreien - wobei von Mischung zu reden die Sache schon allein deshalb nicht ganz trifft, weil Chacel ja lange vor Capote zu schreiben begann (die spanische Erstausgabe ihres Romans erschien 1930). Auch trägt sie den eigenständigen Anspruch ihrer Erzählweise im Fortgang des Romans forciert genug vor, um für unverwechselbar gelten zu können. Nur eben der Anfang evoziert diesen ebenso eigentümlichen wie gleichsam aus der Masse herausdestillierten Zauber einer verlorenen Zeit. Ihr einstiges Refugium hat dem Roman seinen Titel gegeben: "In der Oase".
Die Oase, das ist das Haus am Rande Madrids, in dem der Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend verbringt, seine (der Text selber baut auf das entwicklungspsychologische Fremdwort) "Adoleszenz". Die Straße, in der das Haus steht, ist finster und schmal, aber sein Hof ein einziger Lichtfang. Das Treppenhaus ist "abweisend", ist "kalt", geprägt vom "unguten Einfluß seines Halbdunkels", dem auch seine Bewohner ("wir, die wir wissen, daß seine böse Miene nicht uns gilt") sich nicht erwehren können - und so laufen auch sie, "vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf" -, und doch soll er gerade hier sich ereignen, der erste Kuß, dessen Beschreibung zum Hinreißendsten gehört, was dieses thema con variationi zu bieten hat. "Seit jenem Tag gab es Gespenster im Treppenhaus. Die anderen im Haus merkten, daß sich etwas davonmachte, wenn sie unten eintraten oder aus ihren Wohnungen kamen, worauf das Treppenhaus mit falscher Unschuldsmiene tat, als sei ,nichts gewesen'."
Der Erzähler, kurzum, beginnt mit der Geschichte seiner ersten Liebe. Von der "Oase" aus begibt er sich dann allerdings auf Reisen, und selbst wenn er zuletzt glaubt, wieder von vorne beginnen zu können ("Etwas ist zu Ende. Jetzt kann ich sagen: Anfang!") - seine Unschuld hat er doch für immer eingebüßt. In der zweiten Hälfte des Romans schwindet die Poesie des Anfangs dahin. "So verlor sich mein Leben während jener Tage in Gedankenspielereien", lautet einer der letzten noch halbwegs erzählenden Sätze; der Rest ist Philosophie.
So tritt im weitern Verlauf des Buches zunehmend deutlicher in den Vordergrund, worauf schließlich auch das Nachwort des Übersetzers vor allem abhebt: die Zugehörigkeit der Autorin zum illustren Kreis um Ortega y Gasset, zur "berühmten ,27er Generation'" der Lorca, Alberti, Salinas und anderer. "Ohne Ortega wäre es nie zu diesem Buch gekommen", schrieb Chacel selber, als dieser 1956 starb. Aber so dankbar man darum für die Hiweise zu dieser "intellektuellen Konstellation" auch sein mag, mehr und anders gebührt dem Übersetzer wie dem Verlag großer Dank dafür, dieses Buch an und für sich wiederentdeckt zu haben. Denn das Gedankengut als solches ist es am wenigsten, was in seinen Bann zieht.
Sicher, man kann interessante Theorieelemente bis dato virulenter Debatten finden, etwa der Medientheorie: "Ausgangspunkt war die Sucht, die Dinge wie eine Filmkamera sehen zu wollen . . ." Zudem beweist der Text mehr und mehr jene Risikobereitschaft, die der literarischen Moderne einst ihre avantgardistische Prägung verlieh. Statt geradlinig fortzuerzählen, spinnt er sich immer tiefer in selbstreflexive Phantasien seiner eigenen Genese ein ("Ich werde mein Leben aus neuem Material rekonstruieren") und gerät eben darüber so assoziativ wie folglich sprunghaft: gewollte Stilübung im wiederholten "unvermittelten Einsetzen einer neuen Handlung, was die ihr vorausgehende unbeendet bleiben läßt".
Doch bewahrt er hierin zum einen die Kunst der richtigen, knappen Phrasierung, so daß es zum anderen - immer "kurz bevor es mit der Geduld des Kunden (also des Lesers) endgültig vorbei sein wird" - wohl gar nicht die Gedankenfäden sein wollen, die uns Satz um Satz weitertragen. Alle Schönheit kommt vielmehr bis zuletzt aus ihrem ganzen Gegenteil, aus der Unwiderleglichkeit der Bilder, die schon den Anfang trug. "Manchmal", kann man darum diesem selbst den Schluß überlassen, "wenn wir etwas uns Wesentliches erreichen wollen, setzen wir alles auf die Überzeugungskraft unserer Worte. Gelingt es uns dabei nicht, den Gott des Augenblicks auf unsere Seite zu ziehen, verdreht das Licht die Augen, und die Tür läßt ein Gähnen vernehmen. Bei anderer Gelegenheit jedoch, so wie dieses Mal, mischt er sich mitten im Gespräch ein, die Miene unseres Gegenübers hellt sich schlagartig auf, und wir erreichen kein kühles Beipflichten, sondern begeisterte Zustimmung." BERNHARD DOTZLER
Rosa Chacel: "In der Oase". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Kultzen. Peter Kirchheim Verlag, München 1994. 124 S., geb., 28,- DM.
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