Tadeusz Rózewicz hat sich in seinen Erzählungen der dramatischen Geschichte der polnischen Kriegsgeneration gewidmet: Leben und Sterben der Partisanen im Untergrund, der Verlust an sinnvollen Lebenskonzeptionen, die Brutalität und die Menschlichkeit unter dem Kriegsrecht. Nun endlich erscheint eine umfangreiche Sammlung dieser wunderbaren, prosaischen Texte. In seiner knappen, bildhaften Sprache beweist Tadeusz Rózewicz, dass die Geschichten bis heute nichts von ihrer Kraft, Schönheit und moralischen Sicherheit eingebüßt haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2006Das Sein als Seifenblase
Erstmals auf deutsch: Erzählungen von Tadeusz Rózewicz
Über die Quantität der Ausgaben seiner Werke konnte er sich nie beklagen: Seit Jahrzehnten gehört er zu den meist-übersetzten polnischen Autoren. Der Weltruhm, den seine drei Dichterkollegen Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert und Wislawa Szymborska genießen durften, wurde dem Breslauer Dichter und Dramatiker Tadeusz Rózewicz dennoch nie zuteil. "Stets im oktober (an meinem geburtstag) / fragen die mich ob ich mich freue / daß ein anderer den nobelpreis bekam", schrieb er 1999 in seinem selbstironischen Langgedicht "Ruhm", drei Jahre, nachdem Szymborska die hohe Auszeichnung bekommen hatte. Die Chancen, daß auch er in diesen literarischen Höchstgenuß kommen könnte, standen seitdem in der Tat schlecht, allerdings scheint ihm dies mittlerweile nicht das geringste auszumachen: In seinem fünfundachtzigsten Lebensjahr, das er an diesem Montag vollendet, wirkt er gelassener und selbstbewußter denn je.
In Deutschland ist die Rezeption seiner Werke gewissermaßen zweispurig verlaufen. Als Dramatiker ist er vermutlich nur noch dem älteren Teil des deutschen Publikums ein Begriff. Seine beiden frühen Parade-Stücke "Die Kartothek" und "Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung" wurden hierzulande Anfang der sechziger Jahre gespielt. Sein größter Erfolg der späteren Jahre, "Die Falle", ein vielschichtiges Drama, das scheinbar vom Leben Franz Kafkas, in Wirklichkeit aber von dem Druck der gesellschaftlichen Verhaltensnormen handelt und in Form beklemmender Massenvernichtungsvisionen die Enthumanisierung des zwanzigsten Jahrhunderts beklagt, wurde nur von wenigen Theatern aufgeführt.
Als Lyriker hingegen dürfte Rózewicz größeren Kreisen ein Begriff sein. Nachdem sein Erstlingsband "Unruhe" (1947) zu einer der meistgefeierten Lyrikpublikationen der Nachkriegsjahre und er selbst zum Sprecher seiner Generation wie zum Hoffnungsträger der polnischen Dichtung geworden war, drang sein Ruhm schnell auch nach Deutschland durch. Seine knappen, sprachlich asketischen Gedichte fanden hier viele weitere Bewunderer. Sie spiegelten in einer unnachahmlichen Weise seine Kriegserfahrungen wider, zumal sie in krassem Widerspruch zu seiner elementaren Lebensunerfahrenheit standen: "Vierundzwanzig bin ich / gerettet / auf dem weg zum schlachten." Es waren die Gedichte eines Geschockten, der die ihm fremd gewordene Welt neu benennen und den Rahmen der eigenen Weiterexistenz neu lernen mußte.
Die psychischen und moralischen Folgen des Krieges wurden zu seinem Lebensthema, allerdings ließ er von Anfang an unmißverständlich erkennen, daß er unter "Folgen" weit mehr verstand als die Befindlichkeit seiner Generation oder das Klima der Nachkriegszeit. Diese Sehweise behielt er nämlich auch dann, als er sich scheinbar von der Kriegsthematik entfernte und der Gegenwart, von der kommunistischen Realität bis hin zu den Auswüchsen der jungen Demokratie, zuwandte. Auch dann erschien ihm das menschliche Dasein oft als eine Seifenblase, als ein mühsamer, sinnloser Zweikampf mit dem Nichts.
Diesem Gefühl gab er Ausdruck in seiner Lyrik und in seinen Dramen, in denen er sich den gesellschaftlichen Zwängen und dem bürgerlichen Moralkodex verweigerte und für die man bald die Bezeichnung "inneres Theater" erfand. Und er tat es auch in seinen Erzählungen, die seit den fünfziger Jahren, mal einzeln in Zeitschriften, mal in Buchform, erschienen. Die umfangreichste Sammlung dieser Texte kam auf polnisch Mitte der neunziger Jahre heraus; nun liegen zwölf von ihnen erstmals in einer deutschen Ausgabe vor. Zwölf Prosastücke, in denen Rózewicz sich nicht nur erneut mit dem Trauma des Krieges auseinandersetzt, sondern dies auch in einer im Vergleich zu seinen lyrischen und dramatischen Werken überaus realistischen Weise tut.
Schon mancher Titel signalisiert, daß er hier eine Zeit heraufbeschwört, die für die Betroffenen beides, eine Zäsur und eine extreme Belastung, darstellte. "Die unterbrochene Prüfung", "Das Gift", "Die Beichte", "Versuch einer Rekonstruktion": Unter diesen Überschriften ruft er die prägenden Kriegserlebnisse auf, sinniert über deren moralische Auswirkungen, beklagt den Verlust klarer Perspektiven. Aber er hält auch die damals langsam aufkeimende Hoffnung auf einen Neuanfang fest. "Alles ist stehen geblieben", heißt es etwa in der Erzählung "Neue philosophische Schule", "Wie gut! Die Toten sind begraben. Die Lebenden sterben nicht mehr. Ich bleibe in meinem Loch. Liege auf dem Bett und lese in der alten Zeitung. Schließe die Augen und überlege, ob ich noch irgendwelche Wünsche habe. Ich habe keine."
Diese Erzählungen stehen nicht nur für Rózewicz' vielbewunderte stilistische Vielseitigkeit, sondern auch für seinen Hang, die Grenzen zwischen den Gattungen zu verwischen. Offenbar sieht er in einer Form, die zwischen Dichtung und Prosa balanciert, das adäquateste Ausdrucksmittel für eine Welt, die längst ihre klaren Konturen verloren hat. Schon die ersten Zeilen der Auftakterzählung "Gesichter" muten wie ein Gedicht an. Die knappen Sätze, die karge Sprache, der klare Rhythmus - es gibt hier nichts, was die Präzision der Aussage stören würde: "Ein Gelände, ein Gefilde, eine Landschaft, ein Bild, das war und das ist für mich das menschliche Gesicht. Die Landschaft eines Gesichts. Die Gesichter der Eltern. Die Gesichter der Geschwister. Die Gesichter Fremder . . ."
Daß Rózewicz' Texte oft einen autobiographischen Charakter haben, erkennt natürlich nur, wer mit dem Leben des Dichters ein wenig vertraut ist. Allerdings wird er sein Wissen aus anderen Quellen bezogen haben - aus diesem Band erfährt man es nicht. Die Herausgeberin und Übersetzerin Roswitha Matwin-Buschmann, die in ihrer zweiten Funktion wieder einmal glänzt, gibt dem Leser leider keine Chance, aus einem Vor- oder Nachwort zu erfahren, inwieweit Rózewicz den Krieg am eigenen Leib erfahren hat. Etwa, daß er zwei Jahre lang als Partisan kämpfte oder daß er nach dem Krieg den Verlust seines von der Gestapo ermordeten Bruders zu beklagen hatte. Ebenso vermißt man einen Hinweis auf die Entstehungsdaten der Erzählungen. Bei einem Band, in dem das Kriegserlebnis eine so dominierende Rolle spielt und den man durchaus als, um den Titel einer der Erzählungen zu paraphrasieren: "Versuch einer literarischen Selbstkonstruktion" lesen kann, wäre beides dringend zu empfehlen gewesen.
MARTA KIJOWSKA
Tadeusz Rózewicz: "In der schönsten Stadt der Welt". Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt und herausgegeben von Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München 2006. 184 S., geb., 17,90 [Euro].
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Erstmals auf deutsch: Erzählungen von Tadeusz Rózewicz
Über die Quantität der Ausgaben seiner Werke konnte er sich nie beklagen: Seit Jahrzehnten gehört er zu den meist-übersetzten polnischen Autoren. Der Weltruhm, den seine drei Dichterkollegen Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert und Wislawa Szymborska genießen durften, wurde dem Breslauer Dichter und Dramatiker Tadeusz Rózewicz dennoch nie zuteil. "Stets im oktober (an meinem geburtstag) / fragen die mich ob ich mich freue / daß ein anderer den nobelpreis bekam", schrieb er 1999 in seinem selbstironischen Langgedicht "Ruhm", drei Jahre, nachdem Szymborska die hohe Auszeichnung bekommen hatte. Die Chancen, daß auch er in diesen literarischen Höchstgenuß kommen könnte, standen seitdem in der Tat schlecht, allerdings scheint ihm dies mittlerweile nicht das geringste auszumachen: In seinem fünfundachtzigsten Lebensjahr, das er an diesem Montag vollendet, wirkt er gelassener und selbstbewußter denn je.
In Deutschland ist die Rezeption seiner Werke gewissermaßen zweispurig verlaufen. Als Dramatiker ist er vermutlich nur noch dem älteren Teil des deutschen Publikums ein Begriff. Seine beiden frühen Parade-Stücke "Die Kartothek" und "Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung" wurden hierzulande Anfang der sechziger Jahre gespielt. Sein größter Erfolg der späteren Jahre, "Die Falle", ein vielschichtiges Drama, das scheinbar vom Leben Franz Kafkas, in Wirklichkeit aber von dem Druck der gesellschaftlichen Verhaltensnormen handelt und in Form beklemmender Massenvernichtungsvisionen die Enthumanisierung des zwanzigsten Jahrhunderts beklagt, wurde nur von wenigen Theatern aufgeführt.
Als Lyriker hingegen dürfte Rózewicz größeren Kreisen ein Begriff sein. Nachdem sein Erstlingsband "Unruhe" (1947) zu einer der meistgefeierten Lyrikpublikationen der Nachkriegsjahre und er selbst zum Sprecher seiner Generation wie zum Hoffnungsträger der polnischen Dichtung geworden war, drang sein Ruhm schnell auch nach Deutschland durch. Seine knappen, sprachlich asketischen Gedichte fanden hier viele weitere Bewunderer. Sie spiegelten in einer unnachahmlichen Weise seine Kriegserfahrungen wider, zumal sie in krassem Widerspruch zu seiner elementaren Lebensunerfahrenheit standen: "Vierundzwanzig bin ich / gerettet / auf dem weg zum schlachten." Es waren die Gedichte eines Geschockten, der die ihm fremd gewordene Welt neu benennen und den Rahmen der eigenen Weiterexistenz neu lernen mußte.
Die psychischen und moralischen Folgen des Krieges wurden zu seinem Lebensthema, allerdings ließ er von Anfang an unmißverständlich erkennen, daß er unter "Folgen" weit mehr verstand als die Befindlichkeit seiner Generation oder das Klima der Nachkriegszeit. Diese Sehweise behielt er nämlich auch dann, als er sich scheinbar von der Kriegsthematik entfernte und der Gegenwart, von der kommunistischen Realität bis hin zu den Auswüchsen der jungen Demokratie, zuwandte. Auch dann erschien ihm das menschliche Dasein oft als eine Seifenblase, als ein mühsamer, sinnloser Zweikampf mit dem Nichts.
Diesem Gefühl gab er Ausdruck in seiner Lyrik und in seinen Dramen, in denen er sich den gesellschaftlichen Zwängen und dem bürgerlichen Moralkodex verweigerte und für die man bald die Bezeichnung "inneres Theater" erfand. Und er tat es auch in seinen Erzählungen, die seit den fünfziger Jahren, mal einzeln in Zeitschriften, mal in Buchform, erschienen. Die umfangreichste Sammlung dieser Texte kam auf polnisch Mitte der neunziger Jahre heraus; nun liegen zwölf von ihnen erstmals in einer deutschen Ausgabe vor. Zwölf Prosastücke, in denen Rózewicz sich nicht nur erneut mit dem Trauma des Krieges auseinandersetzt, sondern dies auch in einer im Vergleich zu seinen lyrischen und dramatischen Werken überaus realistischen Weise tut.
Schon mancher Titel signalisiert, daß er hier eine Zeit heraufbeschwört, die für die Betroffenen beides, eine Zäsur und eine extreme Belastung, darstellte. "Die unterbrochene Prüfung", "Das Gift", "Die Beichte", "Versuch einer Rekonstruktion": Unter diesen Überschriften ruft er die prägenden Kriegserlebnisse auf, sinniert über deren moralische Auswirkungen, beklagt den Verlust klarer Perspektiven. Aber er hält auch die damals langsam aufkeimende Hoffnung auf einen Neuanfang fest. "Alles ist stehen geblieben", heißt es etwa in der Erzählung "Neue philosophische Schule", "Wie gut! Die Toten sind begraben. Die Lebenden sterben nicht mehr. Ich bleibe in meinem Loch. Liege auf dem Bett und lese in der alten Zeitung. Schließe die Augen und überlege, ob ich noch irgendwelche Wünsche habe. Ich habe keine."
Diese Erzählungen stehen nicht nur für Rózewicz' vielbewunderte stilistische Vielseitigkeit, sondern auch für seinen Hang, die Grenzen zwischen den Gattungen zu verwischen. Offenbar sieht er in einer Form, die zwischen Dichtung und Prosa balanciert, das adäquateste Ausdrucksmittel für eine Welt, die längst ihre klaren Konturen verloren hat. Schon die ersten Zeilen der Auftakterzählung "Gesichter" muten wie ein Gedicht an. Die knappen Sätze, die karge Sprache, der klare Rhythmus - es gibt hier nichts, was die Präzision der Aussage stören würde: "Ein Gelände, ein Gefilde, eine Landschaft, ein Bild, das war und das ist für mich das menschliche Gesicht. Die Landschaft eines Gesichts. Die Gesichter der Eltern. Die Gesichter der Geschwister. Die Gesichter Fremder . . ."
Daß Rózewicz' Texte oft einen autobiographischen Charakter haben, erkennt natürlich nur, wer mit dem Leben des Dichters ein wenig vertraut ist. Allerdings wird er sein Wissen aus anderen Quellen bezogen haben - aus diesem Band erfährt man es nicht. Die Herausgeberin und Übersetzerin Roswitha Matwin-Buschmann, die in ihrer zweiten Funktion wieder einmal glänzt, gibt dem Leser leider keine Chance, aus einem Vor- oder Nachwort zu erfahren, inwieweit Rózewicz den Krieg am eigenen Leib erfahren hat. Etwa, daß er zwei Jahre lang als Partisan kämpfte oder daß er nach dem Krieg den Verlust seines von der Gestapo ermordeten Bruders zu beklagen hatte. Ebenso vermißt man einen Hinweis auf die Entstehungsdaten der Erzählungen. Bei einem Band, in dem das Kriegserlebnis eine so dominierende Rolle spielt und den man durchaus als, um den Titel einer der Erzählungen zu paraphrasieren: "Versuch einer literarischen Selbstkonstruktion" lesen kann, wäre beides dringend zu empfehlen gewesen.
MARTA KIJOWSKA
Tadeusz Rózewicz: "In der schönsten Stadt der Welt". Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt und herausgegeben von Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München 2006. 184 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Gefasst legt Ulrich M. Schmid demjenigen Leser, der auf gnadenlose Selbsterforschung aus ist, die pechschwarzen Erzählungen des 85-jährigen polnischen Autors Tadeusz Rozewicz, tja, wohl eher in die Hand als ans Herz. Getränkt von der pessimistischen und sinnleugnenden Haltung des seinerseits von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs samt seinen unsagbaren Greueln, allem voran des Holocausts, geprägten Rozewicz, verstören und schockieren die Geschichten ihre Leser mit Szenarien, denen Tod und Zerstörung ihren Stempel aufdrücken. Diese "Momentaufnahmen aus dem beschädigten Leben", die erzählerisch offenbar alle während des Zweiten Weltkriegs verortet sind und in existenziellen Horrormomenten ablaufen, würden denn auch von seinem nihilistischen Autor konsequenterweise für überflüssig gehalten, worin ihm der Rezensent allerdings aus Gründen der kathartischen Selbsterkenntnis nicht beipflichten mag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"In allen Erzählungen schwingt neben der Trauer zugleich eine verzweifelte Sehnsucht nach dem Leben mit. (...) Tadeusz Rozewicz (führt) mit seinen Erzählungen in die Grenzbereiche menschlicher Existenz. Wer ihm auf diesem Weg folgt, wird nach der Lektüre nicht mehr der Gleiche wir vorher sein."
Claus-Ulrich Bielefeld, Tages-Anzeiger-Zürich, 11.11.06
"Im Kopf des Lesers zumindest entfalten seine Erzählungen enorme Wirkung, zumal sie sich (...) als zeitlos erweisen. Alles deutet darauf hin, dass die Werke des skeptischen Einzelgängers Rózewicz auch im 21. Jahrhundert zu den wichtigen zählen."
Michael Kohtes, Die Zeit, 09.11.06
Claus-Ulrich Bielefeld, Tages-Anzeiger-Zürich, 11.11.06
"Im Kopf des Lesers zumindest entfalten seine Erzählungen enorme Wirkung, zumal sie sich (...) als zeitlos erweisen. Alles deutet darauf hin, dass die Werke des skeptischen Einzelgängers Rózewicz auch im 21. Jahrhundert zu den wichtigen zählen."
Michael Kohtes, Die Zeit, 09.11.06