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Navid Kermani ist vom Süden Madagaskars bis in die Nuba-Berge im Sudan gereist. Behutsam, am einfühlsam beobachteten Detail, ohne große Thesen, lässt er den Osten Afrikas lebendig werden. Aber zugleich, aus neuer Perspektive, denkt Kermani über die Themen auch unserer Gegenwart nach, über Klimawandel, Krieg oder Identität sowie die grundsätzlichen Fragen der Existenz. Bis heute gilt Afrika als der "vergessene Kontinent", dabei ist es spätestens seit dem 19. Jahrhundert vor allem der umkämpfte Kontinent. Europäische Kolonialmächte haben hier tiefe Wunden hinterlassen. Der arabische Norden trägt…mehr

Produktbeschreibung
Navid Kermani ist vom Süden Madagaskars bis in die Nuba-Berge im Sudan gereist. Behutsam, am einfühlsam beobachteten Detail, ohne große Thesen, lässt er den Osten Afrikas lebendig werden. Aber zugleich, aus neuer Perspektive, denkt Kermani über die Themen auch unserer Gegenwart nach, über Klimawandel, Krieg oder Identität sowie die grundsätzlichen Fragen der Existenz. Bis heute gilt Afrika als der "vergessene Kontinent", dabei ist es spätestens seit dem 19. Jahrhundert vor allem der umkämpfte Kontinent. Europäische Kolonialmächte haben hier tiefe Wunden hinterlassen. Der arabische Norden trägt seine Religion und Kultur in den Süden, oft mit Gewalt. China und der Westen konkurrieren um Bodenschätze und Einfluß. Vergessen ist Afrika vor allem da, wo es nichts zu holen gibt, etwa auf Madagaskar. Hier haben die Vereinten Nationen die erste Hungersnot deklariert, die vom Klimawandel verursacht wurde. Hier beginnt die Reise, die Navid Kermani für DIE ZEIT unternommen hat. Sie führt ihn weiter über die Komoren, Tansania, Kenia und Äthiopien bis in den Sudan. Wo andere Schriftsteller Ursprünglichkeit suchten, entdeckt Kermani Bevölkerungen und Kulturen in Bewegung, oft auf der Flucht vor Krieg und Dürre. Vor allem aber haben sie schon immer kreativ neue kulturelle Einflüsse aufgegriffen und zu etwas Eigenem gemacht. Das zeigt sich nirgends so deutlich wie in der Musik. Sie bildet den heimlichen roten Faden des glänzend geschriebenen Buches, das einem unwiderstehlichen literarischen Rhythmus folgt.
Autorenporträt
Navid Kermani ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem Kleist-Preis, dem Breitbach-Preis, den Hölderlin-Preis und dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. 2024 erhält er den Thomas-Mann-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2024

Die ganze Misere
der Welt
Der Schriftsteller Navid Kermani hat seine
eindrücklichen Krisenreportagen aus Afrika
in einem neuen Band versammelt.
VON MICHAEL BITALA
Es ist dieses eine Bild, an das man sich noch lange erinnern wird. Navid Kermani erwähnt es erst gegen Ende seines Buchs, als er die Nuba-Berge im Sudan längst wieder verlassen hat. Er hatte dort die Station eines amerikanischen Arztes besucht und ein zwei- oder dreijähriges Mädchen gesehen, die Tochter eines osteuropäischen Mitarbeiters: „Strohblond und engelsgleiches Gesicht, wie sich der Weiße eben Engel vorstellt, es spielte in einer Sandmulde mit tiefschwarzen Kindern aus dem Dorf, Kleidung und Gesicht staubig wie sie“, schreibt er, und weiter: „Das war in seiner Normalität eine Überraschung, ja, fast ein Schock.“
Ein weißes Kind spielt mit schwarzen Kindern in einer der abgelegensten Ecken Afrikas im Dreck. Gibt es denn kein schöneres Bild für die Gleichheit aller Menschen, egal, wo sie herkommen, egal, wie sie aussehen? Warum also diese Irritation? Warum dieser Schock?
Weil diese unschuldige Situation schon die ganze Misere der Welt zeigt. Das weiße Kind mag noch so staubig sein, mag noch so wenig wissen über Rassismus und Klassismus, es ist allein aufgrund seiner Geburt privilegiert. „Seine Speisen werden nahrhafter sein“, schreibt Kermani, „bestimmt hat es ein Bett, und seine Zukunft ist viel offener, allein dank des europäischen Passes, den es haben wird, Krankenkasse, Sozialversicherung, so viele Möglichkeiten für den weiteren Lebensweg.“ Und dann zitiert er die Großmutter aus Mia Coutos Roman „Der Kartograf des Vergessens“: „Manche Leute behaupten, sie sähen keine Rasse, sie sähen nur Menschen. Das ist hübsch gesagt. Aber in der Welt von heute, mein lieber Enkel, kann für Rassen blind sein auch bedeuten, dass man Rassismus nicht sieht.“
Navid Kermani ist wieder einmal in die Winkel der Welt gereist, die fernab der Nachrichten liegen, fernab der internationalen Aufmerksamkeit. Diesmal nach Afrika, genauer gesagt nach Madagaskar, auf die Komoren, nach Mosambik, Tansania, Kenia, Äthiopien und in den Sudan. Es sind Reportagen, die er für Die Zeit geschrieben und jetzt in seinem Buch „In die andere Richtung jetzt – Eine Reise durch Ostafrika“ versammelt hat. Kermani, der Orientalist, Schriftsteller und Intellektuelle, reist seit Jahrzehnten immer wieder als Krisenreporter durch die Welt, mal geht es die Balkanroute entlang, mal nach Asien oder Arabien, mal zu den Flüchtlingen auf Lampedusa. All seinen Afrika-Reportagen ist gemein, dass man sich mit ihrer sprachlichen und stilistischen Qualität nicht lange aufhalten muss, natürlich erfüllen sie die Erwartungen an einen Autor, der die großen Auszeichnungen des Landes schon bekommen hat. Als ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, fragten sich manche: Echt? Hat er den nicht schon lange? Am 27. September wird ihm der Thomas-Mann-Preis in Lübeck verliehen. Man weiß also, bevor man auch nur eine Zeile gelesen hat, dass er einen wieder mitnimmt auf seine Reisen, so nah, so plastisch, als wäre man die ganze Zeit über dabei.
Kermanis Texte unterscheiden sich jedoch von den großen Afrika-Reportagen deutscher Autoren, von Bartholomäus Grill, Klaus Brinkbäumer, Andrea Böhm oder Michael Obert, in einem entscheidenden Punkt: Er stellt sich ins Zentrum seiner Erzählungen, da mag er noch so bescheiden, zweifelnd, suchend auftreten. Er schildert, was er sieht, was er fühlt, was er denkt. Das wirkt zwar transparent und ist gerade bei einem Autor wie ihm auch oft erhellend.
Aber die Texte bleiben in Teilen oberflächlich. Weil er sich vieles nicht genauer erklären lässt, weil ihm die Erkenntnisse aus Gesprächen mit Fischern, Flüchtlingen, Geistlichen, Musikern oder den Ärmsten der Armen ausreichen und er nicht weiter recherchiert oder versucht, Dinge gründlicher zu erklären. Das enttäuscht dann nicht nur Leserinnen und Leser, die sich in diesen Ländern auskennen, es schließt auch diejenigen aus, die das nicht tun.
Wie problematisch das sein kann, zeigt sich an vielen Stellen. Im Süden Madagaskars etwa, wo die Vereinten Nationen 2021 die erste klimabedingte Hungersnot der Welt ausgerufen haben, weil der Klimawandel Landverödung und Missernten verursacht, lässt er sich von Bauern und Geistlichen ihr Leben und ihr Elend erzählen. Und dass sie sich von der Regierung nichts erwarten könnten. Denn, so Kermani: „Es ist eine Elite, die von der Kolonialherrschaft das Plündern übernommen hat.“ Das war es, recht viel mehr hat er zur Politik auf Madagaskar nicht zu erzählen.
Man erfährt nicht, wer gerade regiert oder wie die Politik überhaupt auf der Insel funktioniert, und von der Geschichte, zumal der Kolonialgeschichte, liest man auch nichts. Man lernt nur, dass der Süden Madagaskars unfassbar vernachlässigt wird und die Gegend so ab vom Schuss ist, dass die Bauern vom Klimawandel noch nie gehört haben. Und vom Krieg in der Ukraine auch nicht, der maßgeblich schuld daran ist, dass die Lebensmittelpreise auf Madagaskar so exorbitant gestiegen sind.
Ein ähnliches Problem zeigt sich im Norden von Mosambik. Dort, vor der Küste, wurden riesige Gasfelder entdeckt. Die Vorkommen könnten ganz Deutschland für die nächsten sechzig Jahre versorgen. Aber es kann nicht gefördert werden, weil eine islamistische Miliz die Gegend terrorisiert. Kermani erzählt hier zumindest ein paar politische Hintergründe, von der regierenden Frelimo-Partei und der Korruption, vom maroden Militär und vom zunehmenden Einfluss radikaler Islamisten im Norden.
Die zentrale Frage ist: Warum bekommt niemand dieses Lumpen-Militariat in den Griff? Da ziehen ein paar Hundert bewaffnete Typen in Flipflops umher, plündern, vergewaltigen und morden. Und niemand ist ihnen gewachsen? Nicht das Land, nicht die Eingreiftruppe aus Ruanda, nicht das Militär, nicht die internationale Gemeinschaft und auch nicht die Ölkonzerne, denen dort ein Milliardengeschäft entgeht?
Natürlich stellt sich auch Kermani diese Frage. Aber er lässt sie von Leuten beantworten, die selbst nicht viel wissen und nur mutmaßen können: von einem Geschäftsmann oder einem Imam. Dadurch kann man nicht mehr erfahren als Geraune über dunkle Geschäfte und verborgene Interessen. Das ist in etwa so, als ob ein Reporter aus Mosambik in ein oberbayerisches Bergdorf fährt und dort einen Ladenbesitzer und den Pfarrer fragt, ob es in Deutschland einen „tiefen Staat“ gibt, und welche Indizien sie dafür haben.
Um nicht ungerecht zu werden: Kermanis Texte aus Äthiopien und dem Sudan sind großartige Erzählungen. Allein schon die Episode, wie er den Bildband der Hitler-Fotografin Leni Riefenstahl mit in die Nuba-Berge schleppt und ihn in den Dörfern herumzeigt, ist das Buch wert. Wie die Alten mit den Jungen über die Fotos aus den Siebzigerjahren diskutieren – die Jungen finden sie peinlich, die Alten verteidigen sie –, und wie grotesk es ist, dass Riefenstahl die Leute „Meine Nubas“ nannte, sie zu „edlen Wilden“ erklärte und zum „glücklichsten Volk der Welt“.
Kermanis Buch hat sehr viele solcher Szenen, die man nicht vergessen wird: das kleine weiße Mädchen im Staub. Der äthiopische Jazzmusiker Mulatu Astatke, der hinreißend erklärt, dass es zwar achtzig Völker in seinem Land gibt, aber dass ihre Musik immer dieselbe Grundlage hat: vier Tonleitern. „Musikalisch betrachtet sind wir ein Volk.“ Oder der Geschäftsmann auf den Komoren, der bestechend klar aufzeigen kann, warum mit Reis-Spenden aus Japan – „sie glaubten, etwas Gutes zu tun“ – der Niedergang auf der Inselgruppe angefangen hat. Letztlich zerstörten die Spenden die Landwirtschaft. Die Entwicklungshilfe stoppte die Entwicklung.
So bleiben am Ende des Buchs vor allem diese kleinen, großartigen Perlen. Auch wenn diese Reportagensammlung sicher kein Stimmungsaufheller ist. Es geht vor allem um Kriege, Krisen, Katastrophen. Um all das also, was der Afrika-Berichterstattung seit Jahrzehnten pauschal und oft zu Unrecht vorgeworfen wird. Bei Kermani trifft es zu. Das weiß er auch selbst – und verspricht Besserung. Beim nächsten Buch.
Er stellt sich ins Zentrum,
da mag er noch so
bescheiden auftreten
Kermani beschreibt
viele Szenen, die man
nicht vergessen wird
Navid Kermani: In die andere Richtung jetzt – Eine Reise durch Ostafrika. 272 Seiten, C. H. Beck, München, 26 Euro.
Navid Kermani in den Nuba-Bergen im Sudan im Januar.
Foto: Saman/Magnum
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicht durchweg überzeugt ist Rezensent Michael Bitala von diesem Band, der journalistische Texte Navid Kermanis über die Reisen des Autors nach Ostafrika sammelt. Literarisch ist an Kermanis Prosa selbstverständlich nichts auszusetzen, stellt Bitala klar, und immer wieder finden sich großartige Episoden, etwa wenn ein Jazzmusiker in Äthiopien über die integrative Kraft der Musik nachdenkt oder Kermani eine Diskussion unter den Nuba auslöst, als er vor Ort Leni Riefenstahls Bildband über sie aufschlägt. Was Bitala jedoch vermisst, sind Hintergrundrecherchen. Kermani beschränkt sich darauf, mit ein paar Leuten vor Ort zu reden, und der Rezensent legt anhand einiger Beispiele dar, warum das oft nicht ausreicht. So wird in Kermanis Buch etwa, kritisiert Bitala, nicht dargelegt, wie es möglich ist, dass Mosambik von schlecht ausgerüsteten islamistischen Milizen terrorisiert werden kann. Kein ungetrübtes Lesevergnügen also, aber abschließend möchte Bitala das Buch aufgrund der eingangs erwähnten Highlights doch empfehlen.

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