Susanne Neuffer ist eine Künstlerin der Kurzgeschichte. In wenigen Worten erschafft sie eine Welt. Sie erzählt in dieser Sammlung von gewöhnlichen und sichtlich außergewöhnlichen Alltagssituationen. Ihre Figuren lässt sie aber nicht zu weit abrutschen, auch wenn sie ihnen buchstäblich schon mal den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Schauplätze und Stimmungen der Erzählungen sind vielfältig: Neuffer, eine hervorragende Menschenbeobachterin, schildert schräge, tragikomische und tapfere Situationen in präziser und geistreicher Sprache.
So unterschiedlich Susanne Neuffers Protagonisten sind, so sind sie alle versucht, durch ihren unsicher gewordenen Alltag zu kommen. Im Mittelpunkt der Geschichten stehen u.a. illusionslose und vernaschte Lebensmittelretter, die im Auftrag der "Königin der effektiven Barmherzigkeit" auf Schatzsuche sind, ein Gast, der nicht gehen will, eine Orientalistin, die ihre Meinung auf einem Psychologenkongress kundtut und dabei wenigstens satt wird, ein Eifersuchtsdrama im Altersheim, Mordgedanken am Ende einer Ehe und eine Auferstehung im Krankenhaus.
So unterschiedlich Susanne Neuffers Protagonisten sind, so sind sie alle versucht, durch ihren unsicher gewordenen Alltag zu kommen. Im Mittelpunkt der Geschichten stehen u.a. illusionslose und vernaschte Lebensmittelretter, die im Auftrag der "Königin der effektiven Barmherzigkeit" auf Schatzsuche sind, ein Gast, der nicht gehen will, eine Orientalistin, die ihre Meinung auf einem Psychologenkongress kundtut und dabei wenigstens satt wird, ein Eifersuchtsdrama im Altersheim, Mordgedanken am Ende einer Ehe und eine Auferstehung im Krankenhaus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2016Scheidungsurkunden hat man gerne verfügbar
Die Wohngemeinschaft als zeitgenössischer Venusberg: Neue Erzählungen aus abgründigem Alltag von Susanne Neuffer
Oberflächlich betrachtet, geht es den Menschen in Susanne Neuffers jüngstem Erzählungsband gut, richtig gut sogar. Jung sind sie nicht mehr, ihren Platz im Leben haben sie gefunden. Sie leisten sich individuelle Urlaubsreisen und Konzertbesuche, verstehen etwas von Kino und Philosophie, schätzen Markenkleidung und engagieren sich in humanitären Hilfsprojekten. In zweiundzwanzig kleinen Geschichten - zwei davon preisgekrönt - erkundet Susanne Neuffer, Jahrgang 1951, die Sehnsüchte von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, Männer und Frauen im besten Alter, wie man sie früher einmal genannt hätte.
Die Träume der Jugend liegen hinter ihnen, die eigenen Kinder - falls vorhanden - sind aus dem Gröbsten heraus, die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen werden gewissenhaft absolviert, und der Freundeskreis ist so gefestigt, dass man getrost kleine Spitzen und Sticheleien austauschen kann. Man hat sich arrangiert und versucht, irgendwie miteinander auszukommen. So weit die Oberfläche.
Darunter öffnen sich indes Abgründe, die noch tiefer und unheimlicher sind als das Loch, das plötzlich in einer Wohnstraße klafft, Unmengen Kies verschluckt und in das die Anwohner nur zu gern den Ballast ihres Alltags entsorgen. Die Scheidungsurkunde allerdings, überlegt einer der namenlosen Protagonisten, "würde ich vielleicht noch brauchen".
In beiläufigen Bemerkungen blitzen die tiefen Verletzungen dieser Figuren auf. Viele Worte verliert die Erzählerin nicht über die Vorgeschichte ihrer Alltagshelden, die alle irgendwo ein Geheimnis mit sich herumtragen. So etwa jene Reisende, die wieder einmal mit dem Freundeskreis Urlaub im Norden macht und großzügig ins Hotel zieht, als der Platz in der gebuchten Herberge knapp wird. Tatsächlich genießt die hilfsbereite Freundin die Einsamkeit, kann sie doch nun umso leichter ihrem heimlichen Laster nachgehen: Regelmäßig stiehlt sie private Fotos fremder Menschen, stets auf der Suche nach den Sensationen, die sie im eigenen Leben vermisst. Und wieder wird sie enttäuscht: "Da war das Leben, und war es doch nicht. Keine Leiche, kein Sex, keine Geburt. Kein Augenblick der Entscheidung. Die Leute sind harmloser, als man es erwarten würde."
Susanne Neuffers Figuren werden von Sehnsüchten getrieben, die sie oft selbst nicht genau beschreiben können. Die vielen Aufbrüche in diesen Geschichten spiegeln diese Unruhe, doch den Reisenden ergeht es in der Fremde kaum besser als daheim. Wer zu Hause bleibt, verfällt womöglich der Versuchung, nach und nach alle Habseligkeiten dem Wertstoffhof zu übergeben. Dort werden sie Teil einer höheren Ordnung, auch wenn der "diensthabende Afrikaner mit dem Schaffnertäschchen" Mühe hat, die Anweisungen für die Kategorie "unbelastetes Altholz" korrekt auszusprechen. In solchen Miniaturen - der Migrant als oberster Mülltrenner - gelingt es Susanne Neuffer, Absonderlichkeiten des bürgerlichen deutschen Alltagslebens einzufangen. Verfremdung entsteht durch Genauigkeit; wie in einem Brennglas erscheint Vertrautes plötzlich bizarr. Was geht in dem Mann vor, der zum Einschlafen unbedingt die Nationalhymne hören muss? Und was ist von dem angesehenen forensischen Gutachter zu halten, der während der Abwesenheit seines Sohnes in dessen Studentenquartier einzieht, um sich noch einmal jung zu fühlen?
Dass sich mit dem väterlichen WG-Leben auf Zeit erotische Wünsche und Gefährdungen verbinden, vermittelt bereits der Titel dieser Erzählung: "Tannhäuser. Embedded". Die Wohngemeinschaft also ein zeitgenössischer Venusberg, den niemand unbekümmert und unversehrt verlassen kann? Susanne Neuffer lässt es offen und spielt auf der Klaviatur der literarischen Anspielungen, vertraut dem Assoziationsvermögen und der Bildung ihrer Leserschaft. Denn nicht alle literarischen Verweise drängen sich so direkt auf. Subtiler geht es zu, wenn ein scheinbar unfähiger armer Geiger zu einem modernen Wiedergänger von Grillparzers "Armem Spielmann" wird oder wenn Goethes "Wahlverwandtschaften" ihr Echo in einem luxuriösen Altenheim finden. Ein moderner Jona schließlich, mit dem exotischen Beruf "Walrestaurateur", kommt in einem Walkadaver zu Tode. Falls er eine Botschaft zu verkünden hatte, bleibt sie ungehört.
Hinter den literarischen Spielereien verbirgt sich ein existentieller Ernst, der für Susanne Neuffer auch eine religiöse Dimension hat. Nur sind ihre Figuren für das, was den unmittelbaren Augenschein übersteigt, oft nicht empfänglich. Zur Karikatur aufgeklärter Theologie wird eine Vikarin, die im Krankenhaus beflissen erklärt: "Also wir verstehen Auferstehung heute symbolisch." Abstrakte Lehrsätze können aber nicht das Unbehagen derer beschwichtigen, die sich in ihrem wohlgeordneten Leben nicht mehr zurechtfinden. Der schlaflose Liebhaber der Nationalhymne kennt die Diagnose genau. Er zitiert skeptisch Lukács' berühmtes Diktum von der "transzendentalen Obdachlosigkeit", ohne damit wirklich etwas anfangen zu können.
Auch Susanne Neuffer hat keine Patentlösungen bereit, weder für ihre Figuren noch für ihre Leser. Am Ende bleibt ein verstörendes Unbehagen, wenn das unheimliche Straßenloch verkündet, was bereits Rilke gewusst hat: "Es ist einfach da und schluckt alles und sagt: Du musst dein Leben ändern."
SABINE DOERING
Susanne Neuffer: "In diesem Jahr der letzte Gast". Erzählungen. Mit Illustrationen von Yvonne Kuschel.
Maro Verlag, Augsburg 2016. 164 S., 12 Abb.,
br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wohngemeinschaft als zeitgenössischer Venusberg: Neue Erzählungen aus abgründigem Alltag von Susanne Neuffer
Oberflächlich betrachtet, geht es den Menschen in Susanne Neuffers jüngstem Erzählungsband gut, richtig gut sogar. Jung sind sie nicht mehr, ihren Platz im Leben haben sie gefunden. Sie leisten sich individuelle Urlaubsreisen und Konzertbesuche, verstehen etwas von Kino und Philosophie, schätzen Markenkleidung und engagieren sich in humanitären Hilfsprojekten. In zweiundzwanzig kleinen Geschichten - zwei davon preisgekrönt - erkundet Susanne Neuffer, Jahrgang 1951, die Sehnsüchte von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, Männer und Frauen im besten Alter, wie man sie früher einmal genannt hätte.
Die Träume der Jugend liegen hinter ihnen, die eigenen Kinder - falls vorhanden - sind aus dem Gröbsten heraus, die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen werden gewissenhaft absolviert, und der Freundeskreis ist so gefestigt, dass man getrost kleine Spitzen und Sticheleien austauschen kann. Man hat sich arrangiert und versucht, irgendwie miteinander auszukommen. So weit die Oberfläche.
Darunter öffnen sich indes Abgründe, die noch tiefer und unheimlicher sind als das Loch, das plötzlich in einer Wohnstraße klafft, Unmengen Kies verschluckt und in das die Anwohner nur zu gern den Ballast ihres Alltags entsorgen. Die Scheidungsurkunde allerdings, überlegt einer der namenlosen Protagonisten, "würde ich vielleicht noch brauchen".
In beiläufigen Bemerkungen blitzen die tiefen Verletzungen dieser Figuren auf. Viele Worte verliert die Erzählerin nicht über die Vorgeschichte ihrer Alltagshelden, die alle irgendwo ein Geheimnis mit sich herumtragen. So etwa jene Reisende, die wieder einmal mit dem Freundeskreis Urlaub im Norden macht und großzügig ins Hotel zieht, als der Platz in der gebuchten Herberge knapp wird. Tatsächlich genießt die hilfsbereite Freundin die Einsamkeit, kann sie doch nun umso leichter ihrem heimlichen Laster nachgehen: Regelmäßig stiehlt sie private Fotos fremder Menschen, stets auf der Suche nach den Sensationen, die sie im eigenen Leben vermisst. Und wieder wird sie enttäuscht: "Da war das Leben, und war es doch nicht. Keine Leiche, kein Sex, keine Geburt. Kein Augenblick der Entscheidung. Die Leute sind harmloser, als man es erwarten würde."
Susanne Neuffers Figuren werden von Sehnsüchten getrieben, die sie oft selbst nicht genau beschreiben können. Die vielen Aufbrüche in diesen Geschichten spiegeln diese Unruhe, doch den Reisenden ergeht es in der Fremde kaum besser als daheim. Wer zu Hause bleibt, verfällt womöglich der Versuchung, nach und nach alle Habseligkeiten dem Wertstoffhof zu übergeben. Dort werden sie Teil einer höheren Ordnung, auch wenn der "diensthabende Afrikaner mit dem Schaffnertäschchen" Mühe hat, die Anweisungen für die Kategorie "unbelastetes Altholz" korrekt auszusprechen. In solchen Miniaturen - der Migrant als oberster Mülltrenner - gelingt es Susanne Neuffer, Absonderlichkeiten des bürgerlichen deutschen Alltagslebens einzufangen. Verfremdung entsteht durch Genauigkeit; wie in einem Brennglas erscheint Vertrautes plötzlich bizarr. Was geht in dem Mann vor, der zum Einschlafen unbedingt die Nationalhymne hören muss? Und was ist von dem angesehenen forensischen Gutachter zu halten, der während der Abwesenheit seines Sohnes in dessen Studentenquartier einzieht, um sich noch einmal jung zu fühlen?
Dass sich mit dem väterlichen WG-Leben auf Zeit erotische Wünsche und Gefährdungen verbinden, vermittelt bereits der Titel dieser Erzählung: "Tannhäuser. Embedded". Die Wohngemeinschaft also ein zeitgenössischer Venusberg, den niemand unbekümmert und unversehrt verlassen kann? Susanne Neuffer lässt es offen und spielt auf der Klaviatur der literarischen Anspielungen, vertraut dem Assoziationsvermögen und der Bildung ihrer Leserschaft. Denn nicht alle literarischen Verweise drängen sich so direkt auf. Subtiler geht es zu, wenn ein scheinbar unfähiger armer Geiger zu einem modernen Wiedergänger von Grillparzers "Armem Spielmann" wird oder wenn Goethes "Wahlverwandtschaften" ihr Echo in einem luxuriösen Altenheim finden. Ein moderner Jona schließlich, mit dem exotischen Beruf "Walrestaurateur", kommt in einem Walkadaver zu Tode. Falls er eine Botschaft zu verkünden hatte, bleibt sie ungehört.
Hinter den literarischen Spielereien verbirgt sich ein existentieller Ernst, der für Susanne Neuffer auch eine religiöse Dimension hat. Nur sind ihre Figuren für das, was den unmittelbaren Augenschein übersteigt, oft nicht empfänglich. Zur Karikatur aufgeklärter Theologie wird eine Vikarin, die im Krankenhaus beflissen erklärt: "Also wir verstehen Auferstehung heute symbolisch." Abstrakte Lehrsätze können aber nicht das Unbehagen derer beschwichtigen, die sich in ihrem wohlgeordneten Leben nicht mehr zurechtfinden. Der schlaflose Liebhaber der Nationalhymne kennt die Diagnose genau. Er zitiert skeptisch Lukács' berühmtes Diktum von der "transzendentalen Obdachlosigkeit", ohne damit wirklich etwas anfangen zu können.
Auch Susanne Neuffer hat keine Patentlösungen bereit, weder für ihre Figuren noch für ihre Leser. Am Ende bleibt ein verstörendes Unbehagen, wenn das unheimliche Straßenloch verkündet, was bereits Rilke gewusst hat: "Es ist einfach da und schluckt alles und sagt: Du musst dein Leben ändern."
SABINE DOERING
Susanne Neuffer: "In diesem Jahr der letzte Gast". Erzählungen. Mit Illustrationen von Yvonne Kuschel.
Maro Verlag, Augsburg 2016. 164 S., 12 Abb.,
br., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Doering spürt ein tiefes Unbehagen von den Miniaturen der Autorin Susanne Neuffer ausgehen. Die Autorin hat keine Lösungen für die Sehnsüchte, die unter der spiegelnden Oberfläche der Lebensgeschichten ihrer Figuren aufbrechen, erklärt Doering. Von den Abgründen und Geheimnissen unter Elternschaft und sozialer Sicherheit erzählt Neuffer schlaglichtartig und recht wortkarg, meint Doering. Absonderlichkeiten des deutschen Bürgertums werden so für die Rezensentin sichtbar. Dass Neuffer mit literarischen Anspielungen arbeitet, täuscht laut Doering nicht darüber hinweg, dass in den Texten ein existenzieller Ernst liegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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