Produktdetails
- Verlag: Ammann
- ISBN-13: 9783250104841
- ISBN-10: 3250104841
- Artikelnr.: 20934515
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2007Und ich immer so fern, so am Rande des Abgrunds
Schlafes Schwester: Die autobiographischen Aufzeichnungen der argentinischen Dichterin Alejandra Pizarnik sind ein künstlerischer Bildungsroman in Tagebuchform.
Dass eine selbsternannte "Tochter des Windes" Staub aufwirbelt, kann nicht überraschen. Zweifellos gehörte das dichterische Werk der Argentinierin Alejandra Pizarnik zu den größten lateinamerikanischen Entdeckungen der letzten Jahre. In ihrer Heimat eine Schlüsselfigur der Gegenwartslyrik, im deutschen Sprachraum bis vor kurzem nahezu unbekannt, hat diese Grenzgängerin zwischen den Welten, zwischen deutscher Romantik, Pariser Moderne und argentinischer Gegenwart, nun auch hier einige frische Böen ins literarische Leben gebracht.
Eine ungewöhnliche und bedeutende Neuerscheinung sind nun die Tagebücher von Alejandra Pizarnik. Sechzehn Jahre ihres kurzen Lebens hat die Dichterin in persönlichen Aufzeichnungen festgehalten. Entstanden ist dabei ein packender Einblick in ein Künstlerleben - und zugleich eine eigenständige literarische Kreation, die dem lyrischen Werk auf Augenhöhe gegenübertreten kann: eine Art Bildungsroman in Tagebuchform. Kaum idealer könnten dafür die äußeren Ausgangsbedingungen der Zeit zwischen 1955 und 1971 sein: Alejandra Pizarnik lebte im Buenos Aires von Borges, Bioy Casares, Olga Orozco und Cortázar; im Paris von Sartre, Camus, der Nouvelle Vague, des Jazz von St-Germain-des-Prés und wiederum von Julio Cortázar, der ihr in einer Figur seines Romans "Himmel und Hölle" ein literarisches Denkmal gesetzt haben soll.
Doch was die eigentliche Überraschung der Tagebücher ausmacht: diese legendenumwobenen Welt, die in Form eines Zeitzeugnisses zu dokumentieren eine leichte Beute gewesen wäre, ist in den Tagebüchern nur am Rande zu spüren. Vielmehr scheinen die auf dem Grat zwischen Lyrik und Prosa wandernden Texte einem geradezu gespenstisch zeitlosen Raum zu entstammen, in den die Ereignisse der Außenwelt wie ferne Schatten in einen erleuchteten Raum dringen. Alejandra Pizarniks Suche ist nicht von dieser Welt. Ihre Aufzeichnungen sind die Chronik einer literarischen Obsession, ihre Sehnsucht gilt einem "Buch wie einem Haus, in das ich eintreten und wo ich mich wärmen, wo ich Schutz suchen kann". Wenn es ein literarisches Vorbild hat, dann Baudelaires "Mein entblößtes Herz", in dem der Leser ebenso vergeblich nach dem Widerhall einer skandalumwitternden Boheme-Biographie heischt.
Was in diesem von der Literatur bestimmten Raum von der äußeren Wirklichkeit bleibt, sind allenfalls die Schatten des Alltags auf den Straßen, in den Ausländerbehörden von Paris, in einem Literatencafé oder in einer Psychoanalysepraxis von Buenos Aires. Historische Ereignisse glänzen durch Abwesenheit. "Habe geträumt, ich lebte zu Beginn des Jahrhunderts", schreibt die Dichterin, während Fidel Castro im Januar 1959 in Havanna einmarschiert. "Es beginnt die Furcht, dass sie mich aufschneiden und aufgeschnitten liegenlassen", phantasiert sie, während andere Altersgenossen im Frühjahr 1968 die Phantasie an die Macht zu bringen glaubten. Und in dem Augenblick, da sich dort die Hippiebewegung 1969 für ihren ikonischen Höhepunkt in Woodstock rüstet, schreibt Pizarnik auf einer Reise nach New York: "Ich ahne, ich muss mir eine neue Methode für das Reparieren oder Korrigieren oder Wiedererschaffen des Gedichtes ausdenken." Die deutsche Übersetzung von Klaus Laabs wird dieser paradoxen Situation mit großer sprachlicher Klarheit gerecht und trägt durch ihr stilistisches Niveau stets der Tatsache Rechnung, dass wir einem elaborierten Sprachkunstwerk gegenüberstehen.
Dennoch spricht aus der stets spürbaren Weltabgekehrtheit weniger eine Rebellion gegen die um sich greifende Zwangspolitisierung von Literatur und Kunst als die der Dichterin schmerzhaft bewusst werdende Erkenntnis, der Welt der anderen unversöhnlich fremd zu sein. In emblematischer Weise äußert sich dies, als Alejandra Pizarnik am Strand von Saint-Tropez Marguerite Duras begegnet - und in fast unfreiwillig komischer Entrüstung feststellen muss, dass die Kollegin an diesem im Sommer 1962 wohl mondänsten Künstlertreffpunkt der Welt schlicht und einfach ihren Urlaub genießt: "Sie erzählte mir von ihren Freunden, ihrem Sohn, ihrem Hund, von Essen, Sportwagen, und alles kommentiert ohne Angst, ohne bleibende Sätze, ohne Literatur, wie jemand, der zu dieser Welt gehört und voll an ihr teilhat. Und ich immer so fern, so am Rande des Abgrunds."
Die Tagebücher bieten einen Blick in diesen Abgrund - als Spiegel eines durch und durch konvulsivischen Innenlebens, eines von sexuellen und alkoholischen Exzessen, wechselweise von wilden Selbstvorwürfen und manischer Selbstüberschätzung geprägten Aufenthalts in der Hölle. "Ich kann nicht anders, als im Rausch leben", bekennt die Autorin und entwickelt in ihren Texten das zentrale Motiv vom "grenzenlosen Durst", vom "Durst nach allem, nach allem", gesteigert zur Allegorie eines "Engels des Trinkens" - lebensspendend, aber auch von Anfang an schmerzhaft und zerstörerisch. Sie sei, so schreibt Pizarnik bereits in sehr jungen Jahren, "offen wie eine Wunde, trinke alles, was kommt (Finger, Salz, Sperma, Schnaps)". Zum Ende ihres Lebens wird diese Gier zusehends finster und auf Zerstörung gerichtet: ein "Durst nach Ruinen", zugleich aber auch ein Durst nach dem eigenen Tod, der ihr mal als Schrecknis, mal - denn "la muerte" ist auf Spanisch weiblich - als erotisch-inzestuöse Freundin, als eine Art Schlafes Schwester entgegentritt. Und diese Sehnsucht findet ihren Zielpunkt in von früher Jugend an immer wiederauftauchenden Selbstmordplänen.
Allein durch die besessene literarische Tätigkeit scheint Alejandra Pizarnik diesen Abgrund zwischen Lebensdurst und Todessehnsucht überbrückt zu haben. Doch auch das lyrische Schreiben entwickelt sich zu "stillen kleinen Selbstmorden", zum Akt der selbstgerichteten Gewalt: "Was ich mit meinem Körper tue: ihn kasteien, bis er Wörter sagt, das heißt Gedichte." Komplementär dazu macht sich das Tagebuchschreiben als eine geradezu postume Tätigkeit aus, die nach solchen Selbstfolterungen einsetzt. "Ein Tagebuch zu schreiben bedeutet, mich zu sezieren, als sei ich tot." Mag sein, dass deshalb die Tagebücher fast ein Jahr vor dem Tod der Autorin mit dem utopischen Plan abbrechen, aus Textfragmenten ihres gesamten Lebens einen gewaltigen Text namens "Zitatehaus" zu montieren - gleich, als gäbe es nichts Neues mehr zu erleben und zu finden, als wäre die Sezierung somit abgeschlossen. Am 25. September 1972 nahm sich Alejandra Pizarnik in Buenos Aires das Leben.
FLORIAN BORCHMEYER
Alejandra Pizarnik: "In einem Anfang war die Liebe Gewalt". Tagebücher. Herausgegeben von Anna Becciu. Aus dem Spanischen übersetzt von Klaus Laabs. Ammann Verlag, Zürich 2007. 500 S., geb., 39,30 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlafes Schwester: Die autobiographischen Aufzeichnungen der argentinischen Dichterin Alejandra Pizarnik sind ein künstlerischer Bildungsroman in Tagebuchform.
Dass eine selbsternannte "Tochter des Windes" Staub aufwirbelt, kann nicht überraschen. Zweifellos gehörte das dichterische Werk der Argentinierin Alejandra Pizarnik zu den größten lateinamerikanischen Entdeckungen der letzten Jahre. In ihrer Heimat eine Schlüsselfigur der Gegenwartslyrik, im deutschen Sprachraum bis vor kurzem nahezu unbekannt, hat diese Grenzgängerin zwischen den Welten, zwischen deutscher Romantik, Pariser Moderne und argentinischer Gegenwart, nun auch hier einige frische Böen ins literarische Leben gebracht.
Eine ungewöhnliche und bedeutende Neuerscheinung sind nun die Tagebücher von Alejandra Pizarnik. Sechzehn Jahre ihres kurzen Lebens hat die Dichterin in persönlichen Aufzeichnungen festgehalten. Entstanden ist dabei ein packender Einblick in ein Künstlerleben - und zugleich eine eigenständige literarische Kreation, die dem lyrischen Werk auf Augenhöhe gegenübertreten kann: eine Art Bildungsroman in Tagebuchform. Kaum idealer könnten dafür die äußeren Ausgangsbedingungen der Zeit zwischen 1955 und 1971 sein: Alejandra Pizarnik lebte im Buenos Aires von Borges, Bioy Casares, Olga Orozco und Cortázar; im Paris von Sartre, Camus, der Nouvelle Vague, des Jazz von St-Germain-des-Prés und wiederum von Julio Cortázar, der ihr in einer Figur seines Romans "Himmel und Hölle" ein literarisches Denkmal gesetzt haben soll.
Doch was die eigentliche Überraschung der Tagebücher ausmacht: diese legendenumwobenen Welt, die in Form eines Zeitzeugnisses zu dokumentieren eine leichte Beute gewesen wäre, ist in den Tagebüchern nur am Rande zu spüren. Vielmehr scheinen die auf dem Grat zwischen Lyrik und Prosa wandernden Texte einem geradezu gespenstisch zeitlosen Raum zu entstammen, in den die Ereignisse der Außenwelt wie ferne Schatten in einen erleuchteten Raum dringen. Alejandra Pizarniks Suche ist nicht von dieser Welt. Ihre Aufzeichnungen sind die Chronik einer literarischen Obsession, ihre Sehnsucht gilt einem "Buch wie einem Haus, in das ich eintreten und wo ich mich wärmen, wo ich Schutz suchen kann". Wenn es ein literarisches Vorbild hat, dann Baudelaires "Mein entblößtes Herz", in dem der Leser ebenso vergeblich nach dem Widerhall einer skandalumwitternden Boheme-Biographie heischt.
Was in diesem von der Literatur bestimmten Raum von der äußeren Wirklichkeit bleibt, sind allenfalls die Schatten des Alltags auf den Straßen, in den Ausländerbehörden von Paris, in einem Literatencafé oder in einer Psychoanalysepraxis von Buenos Aires. Historische Ereignisse glänzen durch Abwesenheit. "Habe geträumt, ich lebte zu Beginn des Jahrhunderts", schreibt die Dichterin, während Fidel Castro im Januar 1959 in Havanna einmarschiert. "Es beginnt die Furcht, dass sie mich aufschneiden und aufgeschnitten liegenlassen", phantasiert sie, während andere Altersgenossen im Frühjahr 1968 die Phantasie an die Macht zu bringen glaubten. Und in dem Augenblick, da sich dort die Hippiebewegung 1969 für ihren ikonischen Höhepunkt in Woodstock rüstet, schreibt Pizarnik auf einer Reise nach New York: "Ich ahne, ich muss mir eine neue Methode für das Reparieren oder Korrigieren oder Wiedererschaffen des Gedichtes ausdenken." Die deutsche Übersetzung von Klaus Laabs wird dieser paradoxen Situation mit großer sprachlicher Klarheit gerecht und trägt durch ihr stilistisches Niveau stets der Tatsache Rechnung, dass wir einem elaborierten Sprachkunstwerk gegenüberstehen.
Dennoch spricht aus der stets spürbaren Weltabgekehrtheit weniger eine Rebellion gegen die um sich greifende Zwangspolitisierung von Literatur und Kunst als die der Dichterin schmerzhaft bewusst werdende Erkenntnis, der Welt der anderen unversöhnlich fremd zu sein. In emblematischer Weise äußert sich dies, als Alejandra Pizarnik am Strand von Saint-Tropez Marguerite Duras begegnet - und in fast unfreiwillig komischer Entrüstung feststellen muss, dass die Kollegin an diesem im Sommer 1962 wohl mondänsten Künstlertreffpunkt der Welt schlicht und einfach ihren Urlaub genießt: "Sie erzählte mir von ihren Freunden, ihrem Sohn, ihrem Hund, von Essen, Sportwagen, und alles kommentiert ohne Angst, ohne bleibende Sätze, ohne Literatur, wie jemand, der zu dieser Welt gehört und voll an ihr teilhat. Und ich immer so fern, so am Rande des Abgrunds."
Die Tagebücher bieten einen Blick in diesen Abgrund - als Spiegel eines durch und durch konvulsivischen Innenlebens, eines von sexuellen und alkoholischen Exzessen, wechselweise von wilden Selbstvorwürfen und manischer Selbstüberschätzung geprägten Aufenthalts in der Hölle. "Ich kann nicht anders, als im Rausch leben", bekennt die Autorin und entwickelt in ihren Texten das zentrale Motiv vom "grenzenlosen Durst", vom "Durst nach allem, nach allem", gesteigert zur Allegorie eines "Engels des Trinkens" - lebensspendend, aber auch von Anfang an schmerzhaft und zerstörerisch. Sie sei, so schreibt Pizarnik bereits in sehr jungen Jahren, "offen wie eine Wunde, trinke alles, was kommt (Finger, Salz, Sperma, Schnaps)". Zum Ende ihres Lebens wird diese Gier zusehends finster und auf Zerstörung gerichtet: ein "Durst nach Ruinen", zugleich aber auch ein Durst nach dem eigenen Tod, der ihr mal als Schrecknis, mal - denn "la muerte" ist auf Spanisch weiblich - als erotisch-inzestuöse Freundin, als eine Art Schlafes Schwester entgegentritt. Und diese Sehnsucht findet ihren Zielpunkt in von früher Jugend an immer wiederauftauchenden Selbstmordplänen.
Allein durch die besessene literarische Tätigkeit scheint Alejandra Pizarnik diesen Abgrund zwischen Lebensdurst und Todessehnsucht überbrückt zu haben. Doch auch das lyrische Schreiben entwickelt sich zu "stillen kleinen Selbstmorden", zum Akt der selbstgerichteten Gewalt: "Was ich mit meinem Körper tue: ihn kasteien, bis er Wörter sagt, das heißt Gedichte." Komplementär dazu macht sich das Tagebuchschreiben als eine geradezu postume Tätigkeit aus, die nach solchen Selbstfolterungen einsetzt. "Ein Tagebuch zu schreiben bedeutet, mich zu sezieren, als sei ich tot." Mag sein, dass deshalb die Tagebücher fast ein Jahr vor dem Tod der Autorin mit dem utopischen Plan abbrechen, aus Textfragmenten ihres gesamten Lebens einen gewaltigen Text namens "Zitatehaus" zu montieren - gleich, als gäbe es nichts Neues mehr zu erleben und zu finden, als wäre die Sezierung somit abgeschlossen. Am 25. September 1972 nahm sich Alejandra Pizarnik in Buenos Aires das Leben.
FLORIAN BORCHMEYER
Alejandra Pizarnik: "In einem Anfang war die Liebe Gewalt". Tagebücher. Herausgegeben von Anna Becciu. Aus dem Spanischen übersetzt von Klaus Laabs. Ammann Verlag, Zürich 2007. 500 S., geb., 39,30 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Nach der Ausgabe sämtlicher zu Lebzeiten erschienenen Gedichtbände von Alejandra Pizarnik publiziert der Amman Verlag nun fünf Jahre später auch die Tagebücher der argentinischen Lyrikerin, teilt Jan Wagner mit. Er begrüßt dies mit Freude, weil er sich über die Tagebuchnotizen auch Aufschluss über das lyrische Werk verspricht. Erschüttert hat ihn, wie prominent in den Eintragungen der Todeswunsch Pizarniks ist, die sich dann auch 1972 36-jährig das Leben nahm, wie der Rezensent beklommen berichtet. Daneben finden sich aber auch sehr komische Bemerkungen von großem Scharfsinn und "hinreißende Sentenzen", wie der Vergleich von Rimbaud mit zeitgenössischen Dichtern, so der Rezensent begeistert. Einzig zu bedauern hat er an dieser Ausgabe, dass eine Chronik fehlt, die über die Lebensstationen der Lyrikerin Auskunft geben könnte. Insgesamt aber zeigt er sich von der Lektüre sehr beeindruckt und sie bringt ihm, wie er betont, erschütternd und eindrücklich eine außergewöhnliche Persönlichkeit näher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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