Produktdetails
  • Verlag: Lehmstedt Verlag
  • ISBN-13: 9783937146409
  • ISBN-10: 3937146407
  • Artikelnr.: 22622010
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2007

Im Zwischenreich des puren Lebens
„In einem stillen Land”: Der Bildband des Fotografen Roger Melis porträtiert die DDR der Jahre 1965 bis 1989
Wenn heute von der DDR die Rede ist, dann geht es, wie einfach und verkürzend, meist um die Stasi oder um die Alltagskultur. Das Bösartige und das Banale, das Heimtückische und das Heimelige. Jeder dieser Pole ist mittlerweile für jeden klar sichtbar und von jedem leicht beschreibbar. Dazwischen klafft ein großes Loch. Es wird, so scheint es, größer mit jedem Jahr. Aber da war doch mal was, wo jetzt das Loch ist? Etwas, das sich der bequemen Einordnung entzieht. Was? Und ist es erzählbar? Und wenn es erzählbar ist, auf welche Weise?
Der Fotograf Roger Melis hat aus Tausenden Bildern, die er in der DDR gemacht hat, knapp 200 ausgewählt und zu einem großartigen Band zusammengefügt. Man beginnt, darin zu blättern, und nach vielleicht 20, 30 Seiten meint man, noch einmal tief in jenem Land zu versinken, kein Postkartenwiedererkennungseffekt, sondern das Aufsteigen eines schmerzhaften Gefühls, dieser Kloß, der einem plötzlich im Hals steckt, weil Selbstachtung und Scham, Mut und Hoffnungslosigkeit sich noch einmal verbinden, heute beim Betrachten der Bilder wie damals im gewöhnlichen Leben, dieses seltsame Zusammenspiel.
Die pro forma führende Klasse
In dem Band enthalten sind Fotos von Landschaften und Häusern, vor allem aber Porträts einfacher Leute. Das mag jene überraschen, die Melis als den wichtigsten Fotografen der widerspenstigen DDR-Schriftsteller und des Wolf Biermann aus der Chausseestraße (mit dem er fast Tür an Tür wohnte) kennen. War er nicht in dieser Szene zu Hause? Biermann als Ikarus auf der Weidendammer Brücke, dem das ND aus der Manteltasche lugt, dieses berühmte spöttische Bild und die nicht weniger hintergründige Aufnahme von Sarah Kirsch, die kurz vor ihrer Ausreise in den Westen auf Umzugskisten unverkennbar sowjetischer Provenienz thront, finden sich auch in diesem Buch. Doch damit hat es sich schon. Melis hatte immer auch Zugang zur pro forma führenden Klasse, den Arbeitern, in gewisser Weise war und ist er selber einer. Sein Wochenendhaus in der Uckermark hat er eigenhändig hochgezogen, den Traktor, mit dem er dort dieses und jenes bewegte, hat er aus zig Einzelteilen zusammengeschraubt. Es hat seine Logik, dass er, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, regelmäßig mit Reportern der Wochenpost und der Neuen Berliner Illustrierten unterwegs war, um lange Texte aus der Arbeitswelt zu bebildern.
Ein Foto aus dem Jahre 1981 zeigt die Ansprache einer Parteitagsdelegierten im Kraftwerk Vetschau. Es ist, wie alle DDR-Fotos von Melis, schwarz-weiß, und doch meint man, das Rot des Stoffes zu sehen, mit dem die viel zu große Tribüne ummantelt ist, auf der die Delegierte steht, ein junges, sorgfältig gescheiteltes, ebenso beflissenes wie unbedarftes Ding. Vor dem Rot, unter ihr, am Rande des Bildes und doch im Zentrum der Aufmerksamkeit des Betrachters, lehnen zwei ebenso junge Arbeiter. Man könnte auch sagen, sie lümmeln, aber sie lümmeln nun wieder nicht so, dass irgendwer sie zur Rechenschaft ziehen könnte.
Ein maßvolles, intuitiv zur Schau gestelltes Desinteresse, mit dem sie dem Pflichttermin Genüge tun. Im Grunde ist so ein Bild eine Zusammenfassung der Geschichte der DDR-Arbeiterklasse: Wie die Partei erklärte, es sei nun deren Diktatur; wie die Arbeiterklasse sich einen feuchten Kehricht darum und um die ganze Politik scherte; wie sie umschwirrt war von Parolen und doch auch frei von ihnen, niemand konnte ihr was, kein plapperndes Mädchen und kein Parteisekretär, das machte ihren Stolz und ihre Lässigkeit aus, einen Stolz und eine Lässigkeit, wie man sie jetzt nirgendwo mehr findet, weder in Ost noch in West, auch das erzählt dieses Foto, wenn man es nur lange genug anschaut.
Kaum eines der Bilder hat irgendwas Spektakuläres. Das bedeutet auch: Melis verlangt den Menschen keine Posen ab, stellt sie nicht wie Schaufensterpuppen vor überdimensionale weiße Tücher, kitzelt aus ihnen nicht auf Gedeih und Verderb das Außergewöhnliche hervor. Übervorteilt sie also nicht, um sein Bild zu kriegen. Im Gegenteil, das Außergewöhnliche – so es denn überhaupt in ihnen ist – soll von ihnen abfallen, das Wesen soll sich zeigen, darauf legt er es an.
Wie aber tut er das, wie gelingt es ihm? Nach der Wende hat Melis zuweilen auch für die Süddeutsche gearbeitet, und dabei konnte man beobachten, wie zwei Eigenschaften zusammenflossen: Scheu und Menschenkenntnis. Er ist zu einem Termin gekommen, hat ein wenig mit dem verkrampften Mann oder der überspannten Frau geredet, hat dabei seine Kamera ausgepackt und wie nebenher angefangen zu fotografieren. Und meist war es so, dass der Mensch vor ihm sich unmerklich verändert hat, unmerklich jedenfalls für einen Dritten. Keine Worte mehr, nur noch das Klicken des Auslösers. Seltsam, die Leute kennen ihn ja nicht, aber binnen Minuten – es dauert nie Stunden – beginnen sie, ihm zu vertrauen und sich so zu geben, wie sie sind. Er merkt genau, wenn es so weit ist. Schnelleres Klicken. Und plötzlich Stille. Manchmal hört er mitten im Film auf zu fotografieren. Das war’s, er spürt, dass es besser nicht mehr werden kann. Der Porträtierte schaut dann verwundert, fast enttäuscht. Schon vorbei? Als ob er selbst weniger über sich wisse als der fremde Fotograf.
Wo ist in diesen Bildern der Kick, wo der Trick? Dafür ist Melis nicht zuständig, dafür ist er letztlich auch zu sicher, dass es alles richtig ist, so, wie er es anstellt. Man muss nicht vom Letzten verstanden werden. Außerdem gibt es Schlimmeres. Fotos wie das von der Parteitagsdelegierten sind ja von den Zeitschriften, die Melis in die Spur schickten, nicht gedruckt worden. Zu präzise, zu realistisch, zu wahr. Aus den Serien, die er ablieferte, sind damals die Motive ausgewählt worden, die am wenigsten wehtaten. Und ab 1982 ist gar nichts mehr ausgewählt, gar nichts mehr von der Presse bei ihm in Auftrag gegeben worden. Er hatte für einen Text die Bilder gemacht, den Erich Loest, Persona non grata bei den Funktionären und Chefredakteuren, für Geo geschrieben hatte. Er war nun ein Geschnittener, ein Verdammter.
Und zugleich ein Privilegierter. Es gehört zu den Absurditäten, die es in der DDR zuhauf gab, dass er in eben jenem Jahr, 1982, für mehrere Wochen nach Paris reisen durfte. Ein Jahr zuvor hatte er die Arbeitsgruppe Fotografie im Künstlerverband mitgegründet. Hier schien die Freiheit auf, die im Journalismus fehlte. Melis fotografierte also für einen Paris-Bildband. Der dann, weil geeignetes Papier nicht zur Verfügung stand, vier Jahre nicht gedruckt werden konnte. Schließlich kamen 40 000 Exemplare in den Verkauf, 40 000 Bücher über eine unerreichbare Stadt. Das war ein Riesenerfolg, künstlerisch wie politisch.
Die blanke Beiläufigkeit
Und, ein Lieblingsbild im jetzigen Band vielleicht noch? Schwer zu sagen, gestern wäre es dieses gewesen, morgen könnte es jenes sein. Heute also: Eine Aufnahme, man muss sagen, ein Schnappschuss vom Teterower Bergringrennen, dem größten Motorradwettkampf der DDR. Kein Fahrer zu sehen. Dafür Menschen auf einem Hügel, von hinten fotografiert, die auf die Fahrer, welche sich in der Senke unter ihnen befinden müssen, herabschauen. Zwei Männer hocken auf Bierkästen. Ein Dritter steht, seine Jeansjacke gerade abstreifend, so dass eine Tätowierung sichtbar wird, hinter den Kästen. Zwischen seinen Beinen ein halb entblößter Junge, der ein Mädchen umarmt, in einer Haltung, die vermuten lässt, dass er zuvor kräftig in die Kästen gelangt hat, und hinter diesen beiden wiederum, der Länge nach ausgestreckt, in komatösen Schlaf gefallen, der Letzte der Szene, oder der Erste, ganz wie man will, er ist am weitesten weg von den Fahrern und am nächsten dran am Betrachter; die blanke Beiläufigkeit jedenfalls, das pure Leben. BIRK MEINHARDT
ROGER MELIS: In einem stillen Land. Fotografien 1965–1989. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2007. 192 Seiten, 19,90 Euro.
Oben: Zwei kleine Demonstranten am 1. Mai 1969 in Berlin, Hauptstadt der DDR. Unten: Straßenszene mit Winkenden in Bitterfeld im Jahre1975. Abb. aus dem besprochenen Band
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2007

Erzählungen aus einer versunkenen Welt

Im erklärten Land des sozialen Fortschritts schien die Zeit in Wahrheit eher stehenzubleiben. Der Fotograf Roger Melis hat in einem Band Bilder von 1965 bis zum Mauerfall versammelt. Sie halten Arbeitswelt und Alltag der DDR in einer Weise fest, die hinter der Idylle die Fragilität der Verhältnisse erkennbar werden lässt.

Von Christoph Hein

Das wohl verwirrendste Bild in dem Band der Fotografien von Roger Melis zeigt einen Müller in Dabel bei Parchim. Es ist ein Stehpult zu sehen mit einem aufgeschlagenen Buch, daneben ein schwarzes Telefon, das noch aus der Vorkriegszeit zu stammen scheint. Über dem Pult hängen Urkunden, Zeitungsausschnitte, Bilder. Eine Treppe ist zu sehen, die offenbar zum oberen Mühlenwerk führt, eine Sackkarre und einige Säcke sind unter der Treppe abgestellt, weitere in einer Ecke des Raums. Darüber hängt eine Grafik, die eine Landschaft abbildet, wie man sie auch durch die Fenster der Mühle sehen oder doch erahnen kann. In der Bildmitte sitzt der Müller auf einem mit einem Schafsfell bedeckten Sessel und liest oder blättert in einem Buch. Neben ihm im Fenster steht ein Kofferradio, der einzige Hinweis, dass die Aufnahme aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stammt.

Möglicherweise blättert der Müller in einem Arbeitsbuch, einem Diarium, in dem seine Kunden und Aufträge notiert sind, aber er sitzt so still und versonnen in dem Sessel, dass man eher zu der Vermutung neigt, er schaue sich in einer Arbeitspause ein unterhaltsameres Buch an, vielleicht einen Band mit Bildern jenes Fotografen, der ihn soeben porträtiert.

Verwirrend an dieser Fotografie ist der sich aufdrängende Gedanke, dass dieses Bild, ganz genau dieses Bild, vor mehr als hundertfünfzig Jahren auch von einem Carl Spitzweg gemalt worden sein könnte. Abgesehen von dem altertümlichen Telefon und dem auf diesem Bild geradezu futuristisch wirkenden Kofferradio gibt es nichts, was nicht aus der Spitzweg-Zeit stammt oder stammen könnte.

Aber es ist kein Ölbild von 1850, es ist ein Foto aus der DDR, aus dem Jahre 1987. Die Zeit scheint stillzustehen auf diesem Foto, sie war stillgestanden in diesem stillen Land.

Alle Fotografien dieses Buches (Roger Melis: "In einem stillen Land". Fotografien 1965-1989. Lehmstedt-Verlag Leipzig 2007, 191 S., geb., 19,90 Euro) tragen den Geruch dieser Ruhe und einer seltsam zeitlosen Behaglichkeit. In jener Welt, die uns dieser Fotoband präsentiert, war die Moderne scheinbar noch nicht angekommen, ist sie nirgends vorhanden, hier weiß man noch nichts von ihren Vorzügen und ihren Nachteilen, nichts von ihrem Heil ist zu sehen und nichts von ihrem Schrecken. Hier ist Hightech ein Fremdwort, unsinnig, abstrakt, aus einer anderen Galaxie. Die Maschinen, sieht man, sind kostbar und selten, nichts wird weggeworfen, man repariert selbst oder gibt es zur Reparatur. Es ist noch viel Handarbeit zu leisten, schwere körperliche Arbeit, nur einfache mechanische Hilfsmittel sind zu sehen, eine Karre, Forken und Brechstangen. Und wären nicht gelegentlich, neben dem vorsintflutlichen Ackergerät, auch mal eine Drehbank, Motorräder, ein Fernseher oder ein Lenin-Plakat zu sehen, könnte man leicht geneigt sein, die Fotos dieses Bandes für Zeugnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert zu halten und nach dem Bild einer Weißnäherin zu suchen.

Und selbst das den Band beschließende Foto von jenen Menschen, die im Herbst 1989 in Berlin auf die Straße gingen, zeigt vor allem die besonnene Ruhe der Demonstranten und ihre gelassene Aufmerksamkeit. Sie tragen Binden mit der Aufschrift "Keine Gewalt", und dieser Schriftzug ist der einzige Hinweis auf jenen gewaltfreien und trotzdem alles umstürzenden Prozess, der sich 1989 vollzog und den diese Menschen offensichtlich ohne Hektik und fuchtelnde Erregung zuwege brachten, vielmehr mit der ruhigen Kraft eines stabilen Selbstbewusstseins.

Doch auch diese Fotografie wird für uns seltsam und bizarr, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese Menschen und ihre Mitstreiter in Leipzig und Warschau, Prag und Moskau eine der für die Welt folgenreichsten Veränderungen auslösten. Umberto Eco sprach davon, dass gewaltige gesellschaftliche Ereignisse langfristige und zuvor kaum absehbare Wirkungen haben. Er vermeinte, nachweisen zu können, dass der Zusammenbruch des Römischen Reiches noch achthundert Jahre später die europäische Geschichte beeinflusst habe.

Der Umbruch von 1989 könnte für die Welt und die menschliche Geschichte sogar folgenreicher sein. Erst mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Reiches konnte die Globalisierung einsetzen, begann das Ende der Aufteilung unserer Welt in eine erste, zweite und dritte. Durch diesen Umbruch eröffnete sich erstmals die Möglichkeit, eine Egalité herzustellen, die die Welt bisher nie erlebt hatte.

Denn die nach dem Mauerfall so rasant einsetzende wirtschaftliche Globalisierung wird sich erst beruhigen und zu einem Ende kommen, wenn ein weltweiter Gleichstand der Produktion erreicht ist und in keiner Region der Welt kostengünstiger produziert werden kann, wenn der Profit nirgends mehr ein Wohlstandsgefälle für sich nutzen kann und wenn dadurch eine weltumfassende Gerechtigkeit für die gesamte Menschheit und gleiche Lebensbedingungen auf dem gesamten Globus herrschen. Diese Gerechtigkeit ist eine Hoffnung für die einen, für die anderen ein Schrecknis, werden doch in dieser so geeinten Welt annähernd gleiche Standards und Lebensbedingungen herrschen, wird die gesamte Menschheit auf einem sich gleichenden Niveau leben, auf einem Stand weit über dem früheren der zweiten und dritten Welt, aber auch weit unter dem gewohnten der einstmals ersten Welt.

Auch die bislang vernachlässigten und benachteiligten Weltregionen verlangen nach ihrem Anteil an den Ressourcen und dem Reichtum dieser Welt, und die Gerechtigkeit zwingt uns, es ihnen zuzugestehen, es ihnen zu geben. Und sie verlangen auch nach ihrem Anteil an der Zerstörung unserer Welt, wollen zur Klimaveränderung beitragen, zu der sich abzeichnenden Katastrophe. Sie wollen teilhaben an einer Entwicklung, die unsere Welt und Umwelt zerstört, so dass wohl schon in einhundert Jahren die physische Gestalt der Welt eine völlig andere sein wird und unsere heutigen Landkarten und Globen noch Erdteile aufzeigen, die dann versunken sind.

Welche Möglichkeiten und welche Schrecken auch immer auf uns zukommen, wir können kaum bestreiten, dass es die Gerechtigkeit ist, die erfolgreich und beängstigend und zerstörerisch ihren Siegeszug angetreten hat. Fiat iustitia, pereat mundi. Und den diese gewaltigen Veränderungen auslösenden Moment hat Roger Melis mit jenem Foto festgehalten, auf dem diese freundlichen und besonnenen Demonstranten zu sehen sind.

Die Fotografien zeigen Alltag und Arbeitswelt in der DDR. Eine ruhige Gelassenheit, ein fast idyllisches Selbstvertrauen ist auf allen Bildern erkennbar. Sehr bescheidene, fast ärmliche Verhältnisse sind zu sehen, doch die Handwerker und Arbeiter schauen selbstbewusst in die Kamera, sie sind mit sich und ihrer Arbeit zufrieden und haben scheinbar alle Zeit der Welt. Die Holzfäller und Schornsteinfeger, Dachdecker und Bäcker, Gießer und Bauern scheinen keine Hektik zu kennen und keinerlei Stress. Sie unterscheiden sich in nichts von jenen Kollegen, die viele Jahrzehnte zuvor ein Pionier der Fotokunst, August Sander, ablichtete. Die Dorfhochzeit, die junge Familie, die Rummelplatzbesucher, die miteinander plaudernden Straßenpassanten, auf allen Fotos zeigt sich eine Welt, die unseren Großvätern und Urgroßvätern noch vertraut war. Und was auf jedem Foto von August Sander auffällt, was seine Porträts auszeichnete, der direkte Blick der Porträtierten, die stolze und sehr selbstbewusste Haltung, prägt auch die Fotos von Roger Melis.

Woher kommt dieses Selbstbewusstsein, diese scheinbare Unangreifbarkeit, diese Ruhe? Sind es doch Porträts von Menschen, die in einem ärmlichen Land zu leben hatten, in einem Land mit einer allgegenwärtigen und scheinbar allmächtigen Polizei, einem Geheimdienst, der in seiner Hybris und Angst keine Grenzen kannte und in seiner Maßlosigkeit an sich selbst zugrunde gehen musste. Ein Erklärungsmuster sprach von der Nischengesellschaft DDR, in der sich das Individuum den notwendigen Freiraum seiner Existenz im familiären und sehr persönlichen Raum eroberte und sicherte. Aber die Unangreifbarkeit zeigt sich nicht nur im privaten Raum, selbst auf dem Foto einer Betriebsversammlung, bei der eine Parteitagsdelegierte zu den Arbeitern spricht, ist dieser ruhige Stolz zu sehen, das Desinteresse an allen staatlichen Forderungen, die Ruhe eines Lebens, in das man sich nicht hineinreden lassen will.

Vielleicht brachte die Abgeschlossenheit des Landes, das sich gegen den Westen, aber auch gegen den Osten abgeschottet hatte, diese Ruhe, denn es gab kaum beunruhigende, irritierende Begegnungen, die Tage und Jahre ähnelten sich, das Leben eines jeden war weitgehend vor Veränderungen gefeit. Auch Langeweile erzeugt Ruhe.

Gewiss trug die soziale Lage zu der scheinbaren Unangreifbarkeit bei, denn der Staat war unfähig, die Wirtschaft des Landes produktiv zu gestalten. Es wurde nicht effizient produziert, wodurch ständig Arbeitskräfte benötigt wurden. Durch diese Unfähigkeit der Wirtschaftsführung gab es keine Arbeitslosigkeit, ein jeder wurde gebraucht, war unkündbar und daher sich seines Wertes bewusst. Der Mangel gab das Gefühl von Selbstwert.

Und der Fotograf ist zu nennen, denn diese Arbeiten von Roger Melis, schwarzweiße Fotografien, die in ihrer Klarheit und ihrem Bildaufbau an die durchdachte, sorgfältige Komposition alter Gemälde erinnern, zeigen eine andere Welt und andere Menschen als die in der staatlich gelenkten Presse veröffentlichten Fotos. Melis verstand zu warten, bis der Blick ins Offene ging, der Mensch sichtbar wurde, er bei sich war und sich zeigte. Dann ist das Besondere eines jeden Menschen zu erkennen und seine Würde.

Gelegentlich ist in dem Band ein Landschaftsfoto zu sehen, ein Waldstück, Lastkähne, eine Baumallee, ein Feld, und diese Bilder, die naturgegeben sich über Jahrhunderte hin wohl immer gleichen werden, verstärken den Eindruck, dass Melis Fotos, nein, Lichtbilder einer Welt vorlegt, die unveränderlich war, in der sich über viele Jahrzehnte nichts bewegte, die in sich ruhte, aber auch stillstand.

Mühelos sind Stolz und Würde der Porträtierten zu sehen, die beeindruckenden Gesichter vermögen dem Betrachter ihr Leben zu erzählen. Wie überhaupt die Fotos von Melis etwas Narratives haben: es sind winzige Geschichten aus einem untergegangenen Land. Ein Band mit Fotos, von denen ein jedes eine Short Story ist. Manchmal erfasst man die erzählte Kurzgeschichte mit einem Blick, gelegentlich zwingt das Bild zum Innehalten und Nachdenken, und einige Bilder bleiben im Gedächtnis haften, erzählen uns eine Geschichte, die wir zuvor gesehen und erfahren haben, viel früher, die aber erst durch die Bilder in unser Bewusstsein gehoben wird. Da wird ein jeder eine andere Geschichte entdecken, werden sich seine Erinnerungen melden.

Aber die Bilder aus diesem stillen Land zeigen auch auf, dass die geringste Bewegung, die in diese Verhältnisse kommt, sie nicht zu verändern und zu modernisieren vermag, sondern dass dieses ganze Gebilde bei dem leisesten Windzug zu Staub zerbröseln wird.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Bewegt ist Rezensent Christoph Dieckmann noch einmal in die DDR-Welt von gestern getaucht, der er in den Fotografien dieses Bandes wieder begegnet ist, den er schlicht als "wunderbar" preist. Den Fotografen Roger Melis feiert er als "Meister des ostdeutschen Fotorealismus", dessen Realismus den Oberen oft sogar schon zu realistisch gewesen sei. Ulbricht-Bilder schleppende Kinder auf Mai-Paraden, Omis mit gereckter Faust und Regenhaube, öde Braunkohlereviere, Spreewaldkanäle oder Dichter wie Sarah Kirsch oder Wolf Biermann als Preußischer Ikarus - all das betrachtet der Rezensent mit größter Bewunderung und Melancholie für ein untergegangenes Land. Trotzdem will er richtig stellen: die Stille des Landes ist in Wahrheit die Ruhe dieses Fotografen, mit der er das Objektiv damals auf das Eigentümliche und die Menschen in ihrer Zeit gerichtet hat.

© Perlentaucher Medien GmbH