Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.1996Verdächtige Dorfluft
Erinnerung an Soma Morgenstern · Von Lothar Müller
Vor zwanzig Jahren, am 17. April 1976, starb in New York der Schriftsteller Soma Morgenstern. Außer Adolf Frisé, dem Herausgeber Robert Musils, nahm damals kaum jemand davon öffentlich Notiz (siehe F.A.Z. vom 26. April 1976). Allenfalls aufmerksamen Lesern der Korrespondenz Walter Benjamins, der im Jahr 1974 erschienenen Joseph-Roth-Biographie von David Bronsen oder der Brief-Anthologie "Deutsche Literatur im Exil" von Hermann Kesten mochte der Name etwas sagen. Morgenstern stammte aus dem ostgalizischen Dorf Budzanów südlich von Tarnopol. Als er am 3. Mai 1890 geboren wurde und von seinen orthodox-jüdischen Eltern den Namen "Salomo" erhielt, war das "Königreich Galizien und Lodomerien" ein Kronland der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Es wurde dort Polnisch und Ukrainisch gesprochen, im Elternhaus Jiddisch. Westeuropa war weit weg, aber nicht aus der Welt. In einer der Kindheitserinnerungen Morgensterns singt der blinde Leierkastenmann Srul Jankel außer der polnischen Nationalhymne auch ein jiddisches Lied mit dem Refrain: "Un wejstu, Dreyfus, / far wos dos is? / Wajl du bist a jidele, / Oj, di jelole!" Morgenstern flüchtete am Tage der Annexion Österreichs im März 1938 von Wien nach Paris, entkam im Frühjahr 1940 aus dem Internierungslager Audierne über Marseille und Casablanca nach Lissabon. Von dort aus gelangte er Mitte April 1941 mit dem Dampfschiff "Guiné" nach New York. Unter den Passagieren befanden sich auch Hans Sahl und Valeriu Marcu.
Seit dem 18. Jahrhundert, seit der "Eigenen Lebensgeschichte" (1792/93) des Philosophen Salomon Maimon, bilden die deutschsprachigen Autobiographien von Ostjuden, die nach Westen gingen, eine eindrucksvolle Tradition. Es ist das Verdienst des kleinen Lüneburger Verlages zu Klampen, ihr den New Yorker Nachlaß Morgensterns und damit ein Fragment gebliebenes Erinnerungswerk ganz eigener Prägung erschlossen zu haben - das literarische Hauptwerk, die Romantrilogie "Funken im Abgrund", soll im Herbst wiederveröffentlicht werden.
Die Jugendjahre in Ostgalizien sind in Morgensterns Erinnerungen eingerahmt von den Porträts der Freunde Joseph Roth und Alban Berg. Alle drei Bände zusammen ergeben ein autobiographisches Triptychon, das sich als ein Stück deutsch-österreichisch-jüdischer Kulturgeschichte zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg lesen läßt. Sie sind darüber hinaus ein Dokument des Exils. Stets ist das New York, in dem der Autor schreibt und die Schicksale anderer Emigranten verfolgt, in den Texten anwesend.
Aus westlicher Perspektive ist die verschwundene Welt des Ostjudentums vor allem die Welt des Schtetl. Morgensterns Kindheitserinnerungen handeln jedoch nicht vom Ghetto, sondern vom Leben der Juden auf dem Lande, unter christlichen Bauern. Das Porträt des Vaters, eines von der chassidischen Frömmigkeit tief geprägten Mannes, der eigens zum Schuldirektor geht, um den Sohn für den Sabbat vom Schreiben befreien zu lassen, steht im Zentrum der Kindheit. Der Respekt des Vaters vor der deutschen Sprache als der Lingua franca der Gebildeten geht auf den Sohn über. Als er ins Gymnasium von Tarnopol eintritt, spricht der junge Morgenstern Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Polnisch und Ukrainisch. Publizieren freilich wird er später ausschließlich in Deutsch. Die weitgehend autodidaktisch erworbene profane Bildung setzt - wie schon bei Salomon Maimon - die Übertretung der Gesetze des Vaters voraus. Zur Lektürebiographie gehören - nicht untypisch - Wilhelm Wundts "Einleitung in die Philosophie" (1901) und Friedrich Albert Langes "Geschichte des Materialismus" (1866). Die "finstere Offenbarung des Atheismus" aber ist Ludwig Büchners "Kraft und Stoff" (1855). Morgenstern schildert im Rückblick die Erschütterung des Kinderglaubens durch den Atheismus des 19. Jahrhunderts als pubertäre Exaltation, der die gelassene Rückkehr des Aufgeklärten zur Tradition des jüdischen Glaubens folgt.
Der Ton seiner Erinnerungen folgt dem Ideal der "einfachen Geschichten", wie sie - freilich auf hebräisch - der gelegentlich erwähnte Literaturnobelpreisträger Samuel Joseph Agnon schrieb. Figuren wie "Jukel der Glach" oder "der Sattler Reb Rachmiel" führen in die Nähe der alten Geschichten vom Baal-Schem. Polemisch setzt Morgenstern seine schmucklosen Versionen gegen die "schöne Aufputzung" der chassidischen Wundergeschichten in Martin Bubers "Legende des Baalschem". Die Nähe zur ursprünglich mündlichen Erzählung prägt Morgensterns autobiographisches Triptychon insgesamt. Sein Grundelement ist die Anekdote.
Morgenstern hat den um vier Jahre jüngeren Joseph Roth bereits um 1910 auf einer Landesdelegiertenkonferenz der zionistischen Mittelschüler Galiziens kennengelernt. Roth besuchte in Brody ein Gymnasium, in dem Deutsch die Unterrichtssprache war, und konnte kein Polnisch. Der Sprachphysiognomiker Morgenstern notiert solche Details stets als Spezialist für die Bedeutung minimaler Differenzen im Kulturraum seiner Herkunftswelt. Interessant ist seine Stellung zum Zionismus als Student im Wien am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Er nennt sich einen "halben Zionisten". "Denn es gibt eigentlich keine jüdische Frage. Die Frage ist vielmehr, ob es je gelingen wird, die Katholiken und auch einen Teil der antisemitischen Protestanten zum Christentum zu bekehren. Solange das nicht geschieht, haben die Zionisten einen guten Grund, für einen jüdischen Staat einzutreten, und ich bin auch dafür. Aber das wird nur den Juden helfen, die nach Palästina auswandern."
Morgenstern ist in den zwanziger Jahren nach Berlin gegangen und dort im November 1927 in die Feuilletonredaktion der "Frankfurter Zeitung" eingetreten, als deren Kulturkorrespondent er im folgenden Jahr nach Wien zurückkehrte. Aus der Fülle von Anekdoten zum Journalismus der späten zwanziger Jahre, vor allem zu Joseph Roths schlingerndem Kurs, geht nicht zuletzt die Distanz hervor, in der Roth zu den "Theoretikern" im Feuilleton der Zeitung - wie Siegfried Kracauer und Walter Benjamin - stand. Als Morgenstern dem Romanautor die "Theorie des Romans" von Georg Lukács empfiehlt, legt der Freund das Buch nach wenigen Seiten aus der Hand. Der Hochschätzung Kafkas durch Morgenstern und Musil begegnet er mit Unverständnis: "Kafka ist ein Schriftsteller für Schriftsteller."
Das Ende Joseph Roths im Pariser Exil erzählt Morgenstern nicht als Legende vom heiligen Trinker, sondern als triste Verfalls- und Krankengeschichte mit monströsen Zügen. In der Entschiedenheit, mit der er den Feuilletonisten Joseph Roth über den Romancier stellt, verdichtet sich die Skepsis des Anwalts jüdischen Selbstbewußtseins gegen das monarchisch-katholische Spätwerk des Freundes. Im Band über die Jugend in Galizien findet sich die Schlüsselgeschichte über das Schwierige an dieser Freundschaft. Ihr Held ist "Schulem Jossel, der Verschwundene", der eines Tages als Händler mit christlichen Devotionalien ins Dorf zurückkehrt, erkannt und fortgejagt wird. Morgenstern findet diese Figur der Kindheit in Joseph Roth wieder: den entlaufenen Juden, der mit unechtem Christentum handelt.
Verglichen mit Joseph Roth ist der Komponist Alban Berg in diesem Triptychon eine ungetrübte Lichtgestalt. Die Verehrung, die Morgenstern ihm entgegenbringt, steht in scharfem Kontrast zu seiner Ablehnung des "Fackel"-Herausgebers Karl Kraus. Wie Elias Canetti in seinen Erinnerungen ironisiert er dessen Gemeinde und ihren Dogmatismus, mit Anton Kuh sieht er in seinen Polemiken den "Minderwertigkeitskomplex" am Werk. Vor allem aber attackiert er ihn als bösartige Variante des abtrünnigen Juden. Morgensterns nicht ganz erfolgloser Versuch, Alban Berg von seiner Kraus-Bewunderung abzubringen, steht am Beginn dieser bis zu Bergs frühem Tod im Jahr 1935 reichenden Freundschaft. Der bisher unveröffentlichte Briefwechsel zwischen beiden fügt den Quellen zur Geschichte der zweiten Wiener Schule eine weitere hinzu.
Die Anti-Pfitzner-Polemik in diesen Büchern begleitet leitmotivisch das durchgängige Ressentiment gegen Thomas Mann. Im Mißtrauen gegen dessen "Josephs-Roman" ist der Verdacht des Sachwalters der jüdischen Tradition gegen die Christen zu spüren, der sich ihrer zu eigenen Zwecken bedient. Der fromme Vater aus dem ostgalizischen Dorf überlebt als urteilende Instanz in Morgenstern, dem Sohn, den Ersten Weltkrieg, den Faschismus und den Holocaust. Wenn das Ich dieser Erinnerungen sich immer wieder zum Mann vom Dorfe macht, der sich in den Städten der Welt durchschlägt, so im Sinne dieser Bindung. Sie ist noch in Details greifbar wie dem spitzzüngig-spöttischen Porträt des jungen Theodor Wiesengrund Adorno. In einem Brief an Walter Benjamin vom Dezember 1934 war Adorno nicht weniger spitz: ,Morgensterns Dorfluft war mir immer schon verdächtig." Das zielt auf die Begründung seiner Bewunderung für Kafka, die Morgenstern in einem Gespräch mit Walter Benjamin gab: "in Kafkas Büchern wehe Dorfluft wie bei allen Religionsstiftern".
Soma Morgenstern: "Joseph Roths Flucht und Ende". Erinnerungen. 330 S., geb., 68,- DM.
"In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien". 420 S., geb., 76,- DM.
"Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe". 412 S., geb., 76,- DM.
Alle Verlag zu Klampen, Lüneburg 1995.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerung an Soma Morgenstern · Von Lothar Müller
Vor zwanzig Jahren, am 17. April 1976, starb in New York der Schriftsteller Soma Morgenstern. Außer Adolf Frisé, dem Herausgeber Robert Musils, nahm damals kaum jemand davon öffentlich Notiz (siehe F.A.Z. vom 26. April 1976). Allenfalls aufmerksamen Lesern der Korrespondenz Walter Benjamins, der im Jahr 1974 erschienenen Joseph-Roth-Biographie von David Bronsen oder der Brief-Anthologie "Deutsche Literatur im Exil" von Hermann Kesten mochte der Name etwas sagen. Morgenstern stammte aus dem ostgalizischen Dorf Budzanów südlich von Tarnopol. Als er am 3. Mai 1890 geboren wurde und von seinen orthodox-jüdischen Eltern den Namen "Salomo" erhielt, war das "Königreich Galizien und Lodomerien" ein Kronland der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Es wurde dort Polnisch und Ukrainisch gesprochen, im Elternhaus Jiddisch. Westeuropa war weit weg, aber nicht aus der Welt. In einer der Kindheitserinnerungen Morgensterns singt der blinde Leierkastenmann Srul Jankel außer der polnischen Nationalhymne auch ein jiddisches Lied mit dem Refrain: "Un wejstu, Dreyfus, / far wos dos is? / Wajl du bist a jidele, / Oj, di jelole!" Morgenstern flüchtete am Tage der Annexion Österreichs im März 1938 von Wien nach Paris, entkam im Frühjahr 1940 aus dem Internierungslager Audierne über Marseille und Casablanca nach Lissabon. Von dort aus gelangte er Mitte April 1941 mit dem Dampfschiff "Guiné" nach New York. Unter den Passagieren befanden sich auch Hans Sahl und Valeriu Marcu.
Seit dem 18. Jahrhundert, seit der "Eigenen Lebensgeschichte" (1792/93) des Philosophen Salomon Maimon, bilden die deutschsprachigen Autobiographien von Ostjuden, die nach Westen gingen, eine eindrucksvolle Tradition. Es ist das Verdienst des kleinen Lüneburger Verlages zu Klampen, ihr den New Yorker Nachlaß Morgensterns und damit ein Fragment gebliebenes Erinnerungswerk ganz eigener Prägung erschlossen zu haben - das literarische Hauptwerk, die Romantrilogie "Funken im Abgrund", soll im Herbst wiederveröffentlicht werden.
Die Jugendjahre in Ostgalizien sind in Morgensterns Erinnerungen eingerahmt von den Porträts der Freunde Joseph Roth und Alban Berg. Alle drei Bände zusammen ergeben ein autobiographisches Triptychon, das sich als ein Stück deutsch-österreichisch-jüdischer Kulturgeschichte zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg lesen läßt. Sie sind darüber hinaus ein Dokument des Exils. Stets ist das New York, in dem der Autor schreibt und die Schicksale anderer Emigranten verfolgt, in den Texten anwesend.
Aus westlicher Perspektive ist die verschwundene Welt des Ostjudentums vor allem die Welt des Schtetl. Morgensterns Kindheitserinnerungen handeln jedoch nicht vom Ghetto, sondern vom Leben der Juden auf dem Lande, unter christlichen Bauern. Das Porträt des Vaters, eines von der chassidischen Frömmigkeit tief geprägten Mannes, der eigens zum Schuldirektor geht, um den Sohn für den Sabbat vom Schreiben befreien zu lassen, steht im Zentrum der Kindheit. Der Respekt des Vaters vor der deutschen Sprache als der Lingua franca der Gebildeten geht auf den Sohn über. Als er ins Gymnasium von Tarnopol eintritt, spricht der junge Morgenstern Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Polnisch und Ukrainisch. Publizieren freilich wird er später ausschließlich in Deutsch. Die weitgehend autodidaktisch erworbene profane Bildung setzt - wie schon bei Salomon Maimon - die Übertretung der Gesetze des Vaters voraus. Zur Lektürebiographie gehören - nicht untypisch - Wilhelm Wundts "Einleitung in die Philosophie" (1901) und Friedrich Albert Langes "Geschichte des Materialismus" (1866). Die "finstere Offenbarung des Atheismus" aber ist Ludwig Büchners "Kraft und Stoff" (1855). Morgenstern schildert im Rückblick die Erschütterung des Kinderglaubens durch den Atheismus des 19. Jahrhunderts als pubertäre Exaltation, der die gelassene Rückkehr des Aufgeklärten zur Tradition des jüdischen Glaubens folgt.
Der Ton seiner Erinnerungen folgt dem Ideal der "einfachen Geschichten", wie sie - freilich auf hebräisch - der gelegentlich erwähnte Literaturnobelpreisträger Samuel Joseph Agnon schrieb. Figuren wie "Jukel der Glach" oder "der Sattler Reb Rachmiel" führen in die Nähe der alten Geschichten vom Baal-Schem. Polemisch setzt Morgenstern seine schmucklosen Versionen gegen die "schöne Aufputzung" der chassidischen Wundergeschichten in Martin Bubers "Legende des Baalschem". Die Nähe zur ursprünglich mündlichen Erzählung prägt Morgensterns autobiographisches Triptychon insgesamt. Sein Grundelement ist die Anekdote.
Morgenstern hat den um vier Jahre jüngeren Joseph Roth bereits um 1910 auf einer Landesdelegiertenkonferenz der zionistischen Mittelschüler Galiziens kennengelernt. Roth besuchte in Brody ein Gymnasium, in dem Deutsch die Unterrichtssprache war, und konnte kein Polnisch. Der Sprachphysiognomiker Morgenstern notiert solche Details stets als Spezialist für die Bedeutung minimaler Differenzen im Kulturraum seiner Herkunftswelt. Interessant ist seine Stellung zum Zionismus als Student im Wien am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Er nennt sich einen "halben Zionisten". "Denn es gibt eigentlich keine jüdische Frage. Die Frage ist vielmehr, ob es je gelingen wird, die Katholiken und auch einen Teil der antisemitischen Protestanten zum Christentum zu bekehren. Solange das nicht geschieht, haben die Zionisten einen guten Grund, für einen jüdischen Staat einzutreten, und ich bin auch dafür. Aber das wird nur den Juden helfen, die nach Palästina auswandern."
Morgenstern ist in den zwanziger Jahren nach Berlin gegangen und dort im November 1927 in die Feuilletonredaktion der "Frankfurter Zeitung" eingetreten, als deren Kulturkorrespondent er im folgenden Jahr nach Wien zurückkehrte. Aus der Fülle von Anekdoten zum Journalismus der späten zwanziger Jahre, vor allem zu Joseph Roths schlingerndem Kurs, geht nicht zuletzt die Distanz hervor, in der Roth zu den "Theoretikern" im Feuilleton der Zeitung - wie Siegfried Kracauer und Walter Benjamin - stand. Als Morgenstern dem Romanautor die "Theorie des Romans" von Georg Lukács empfiehlt, legt der Freund das Buch nach wenigen Seiten aus der Hand. Der Hochschätzung Kafkas durch Morgenstern und Musil begegnet er mit Unverständnis: "Kafka ist ein Schriftsteller für Schriftsteller."
Das Ende Joseph Roths im Pariser Exil erzählt Morgenstern nicht als Legende vom heiligen Trinker, sondern als triste Verfalls- und Krankengeschichte mit monströsen Zügen. In der Entschiedenheit, mit der er den Feuilletonisten Joseph Roth über den Romancier stellt, verdichtet sich die Skepsis des Anwalts jüdischen Selbstbewußtseins gegen das monarchisch-katholische Spätwerk des Freundes. Im Band über die Jugend in Galizien findet sich die Schlüsselgeschichte über das Schwierige an dieser Freundschaft. Ihr Held ist "Schulem Jossel, der Verschwundene", der eines Tages als Händler mit christlichen Devotionalien ins Dorf zurückkehrt, erkannt und fortgejagt wird. Morgenstern findet diese Figur der Kindheit in Joseph Roth wieder: den entlaufenen Juden, der mit unechtem Christentum handelt.
Verglichen mit Joseph Roth ist der Komponist Alban Berg in diesem Triptychon eine ungetrübte Lichtgestalt. Die Verehrung, die Morgenstern ihm entgegenbringt, steht in scharfem Kontrast zu seiner Ablehnung des "Fackel"-Herausgebers Karl Kraus. Wie Elias Canetti in seinen Erinnerungen ironisiert er dessen Gemeinde und ihren Dogmatismus, mit Anton Kuh sieht er in seinen Polemiken den "Minderwertigkeitskomplex" am Werk. Vor allem aber attackiert er ihn als bösartige Variante des abtrünnigen Juden. Morgensterns nicht ganz erfolgloser Versuch, Alban Berg von seiner Kraus-Bewunderung abzubringen, steht am Beginn dieser bis zu Bergs frühem Tod im Jahr 1935 reichenden Freundschaft. Der bisher unveröffentlichte Briefwechsel zwischen beiden fügt den Quellen zur Geschichte der zweiten Wiener Schule eine weitere hinzu.
Die Anti-Pfitzner-Polemik in diesen Büchern begleitet leitmotivisch das durchgängige Ressentiment gegen Thomas Mann. Im Mißtrauen gegen dessen "Josephs-Roman" ist der Verdacht des Sachwalters der jüdischen Tradition gegen die Christen zu spüren, der sich ihrer zu eigenen Zwecken bedient. Der fromme Vater aus dem ostgalizischen Dorf überlebt als urteilende Instanz in Morgenstern, dem Sohn, den Ersten Weltkrieg, den Faschismus und den Holocaust. Wenn das Ich dieser Erinnerungen sich immer wieder zum Mann vom Dorfe macht, der sich in den Städten der Welt durchschlägt, so im Sinne dieser Bindung. Sie ist noch in Details greifbar wie dem spitzzüngig-spöttischen Porträt des jungen Theodor Wiesengrund Adorno. In einem Brief an Walter Benjamin vom Dezember 1934 war Adorno nicht weniger spitz: ,Morgensterns Dorfluft war mir immer schon verdächtig." Das zielt auf die Begründung seiner Bewunderung für Kafka, die Morgenstern in einem Gespräch mit Walter Benjamin gab: "in Kafkas Büchern wehe Dorfluft wie bei allen Religionsstiftern".
Soma Morgenstern: "Joseph Roths Flucht und Ende". Erinnerungen. 330 S., geb., 68,- DM.
"In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien". 420 S., geb., 76,- DM.
"Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe". 412 S., geb., 76,- DM.
Alle Verlag zu Klampen, Lüneburg 1995.
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»(Morgensterns) Erinnerungen an seine Kindheit (...) haben eine eigentümliche Unmittelbarkeit, das anekdotische Erzählen entwickelt einen starken Sog. Man erkennt den jüdischen Geschichtenerzähler und den journalistischen Vollprofi.« Benedict Neff in: Neue Zürcher Zeitung, 3. September 2022