Ein Roman über einen Schriftsteller und die Geheimnisse seines Lebens
Seit Tagen wartet die Dokumentarfilmerin Andrea mit ihrem Team auf Richard Wechsler in seinem Heimatort in der Schweiz. Bei ersten Aufnahmen in Paris hatte der bekannte Schriftsteller wenig von sich preisgeben wollen und nun droht der ganze Film zu scheitern. In den kleinen Straßen und Gassen des Ortes sucht Andrea entgegen der Absprache nach Spuren von Wechslers Leben. Doch erst als sie wieder seine Bücher liest, entdeckt sie einen Hinweis auf eine Jugendliebe, die noch immer in dem kleinen Ort leben könnte. Eine Jugendliebe, die sein ganzes Leben beeinflusst hat und von der nie jemand wusste.
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© Perlentaucher Medien GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Die Wirklichkeit? Von vielen Möglichkeiten nur eine: Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" erzählt vom Scheitern eines Films.
Die Pfarrerin Judith verlässt ihren Mann. Sie teilt es ihm mit, als sie nach dem Mittagessen noch in der Küche sitzen und er Kaffee für sie beide macht. Erst versucht er noch, sie umzustimmen, danach, so rekapituliert es eine Freundin der Pfarrerin, "hat er es aufgegeben und ist in den Garten gegangen. Er recht das Laub auf der Wiese zusammen, irgendetwas muss er ja tun. Ein schönes Bild: der abgeerntete Garten im Nebel, das nasse Grün des Grases, das Braun und Gelb des Laubes, die Verwesung, dieser ratlose Mann mit dem langen Rechen. Klaviermusik, Satie oder so, etwas Ruhiges, Nachdenkliches. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben."
Andrea, so heißt Judiths Freundin, erzählt diese Auflösung einer jahrzehntelangen Ehe ersichtlich als Film, die Musik liefert sie gleich mit, das über die Bilder gelegte Rilke-Zitat auch. Das ist kein Wunder, nicht nur weil sie als Dokumentarfilmerin arbeitet oder gearbeitet hat, sondern auch weil sie keine Augenzeugin jener Trennung war und sie darum in ihrer Vorstellung modelliert. Das Ergebnis sagt deshalb nichts über das Ehepaar und sehr viel über Andrea aus. Es ist ihre Phantasie, die jene kitschigen, gründlich verbrauchten Bilder, Töne und Worte hervorbringt, ein Konglomerat, das auf eine bestimmte Wirkung zielt, ohne dass sich Andrea dessen bewusst wäre. Stattdessen berichtet sie davon, wie sie die nun wohnsitzlose Judith bei sich aufnimmt - "ich habe Kerzen angezündet, jetzt fehlt nur noch sanfter Jazz, und die Szene wäre perfekt" -, und spätestens hier fragt man sich, ob Andrea mit ihren ästhetischen Vorstellungen beim Werbefernsehen nicht besser aufgehoben wäre als ausgerechnet auf dem Feld des Dokumentarfilms.
Immerhin gelingt es ihr, den Schweizer Erfolgsautor Richard Wechsler für ein solches Projekt zu interessieren - er soll der Protagonist einer Dokumentation sein, die Andrea zusammen mit ihrem Kameramann Tom an Wechslers jetzigem Wohnsitz Paris von ihm erstellen möchte. Der Autor steht dem sichtlich skeptisch gegenüber, macht aber mit und lässt sich filmen, wie er durch die Straßen läuft; einmal kauft er, weil derlei in solchen Filmen wohl dazugehört, für die Kamera einen Bildband bei einem Straßenhändler und legt ihn, als die Aufnahme beendet ist, wieder zurück in den Bücherwagen. Sein Geld lässt er sich von dem Händler wiedergeben.
Wie viel Erkenntnis über den Autor lässt sich auf diesem Weg gewinnen? Andrea, die behauptet, Wechslers Bücher "fast alle" gelesen zu haben, weiß nicht genau, wohin das führen soll. Mit Wechsler verabredet sie sich in dessen Heimatdorf in der Schweiz und reist ihm schon mal voraus, um Gesprächspartner und Schauplätze für weitere Aufnahmen zu finden. Wechsler aber lässt sich nicht blicken. Immerhin findet Andrea Wechslers Jugendliebe, eben Judith, bevor sie den Film endgültig als gescheitert ansieht. Von Wechsler hört sie erst wieder, als sie die Nachricht seines Todes erreicht.
So etwa könnte man die Handlung von Peter Stamms Roman "In einer dunkelblauen Stunde" zusammenfassen - und würde dabei das verfehlen, was das Buch eigentlich ausmacht. Denn dieser Strang ist nur einer von mehreren, derjenige, der als Gerüst für all die Vorstellungen und Seitenwege dienen kann, die teils im offenen Widerspruch zu ihm stehen.
Das ist im Werk Peter Stamms nichts Neues, das Spiel mit den Möglichkeiten einer Handlung betreibt der 1963 geborene Autor seit jeher mit Ausdauer und Virtuosität. Hier öffnet der nicht zustande gekommene Film den Raum für Andreas Phantasien darüber, was Wechsler wohl von sich preisgegeben hätte, wenn er in dem Dorf erschienen wäre. All das geht oft bruchlos, manchmal etwas deutlicher markiert ineinander über, und ist man erst gewohnt, bei diesen Berichten jederzeit die Möglichkeit einer phantastischen Abschweifung Andreas in Betracht zu ziehen, dann wird man diese Bereitschaft auch auf das ausdehnen, was der Romananfang enthält - einen festen Boden der Handlung gibt es nicht, alles schwankt, alles könnte so sein oder auch anders, je nach Andreas Verfassung.
Für diese Schwingung, in die die Welt gerät, findet der Roman ein schönes Bild. Andrea und Tom unterhalten sich über einen Dokumentarfilm "über Leute, die zum ersten Mal von einem Zehnmeterturm springen" oder sich im letzten Moment dagegen entscheiden. Andrea spinnt das weiter aus, sie stellt sich ein junges Paar vor, das in dieser Situation erst richtig zusammenfindet, und malt sich wiederum filmisch dessen weiteres gemeinsames Leben aus. Springen, sich auf das Fallen einlassen oder diesen Schritt eben nicht unternehmen - dieser folgenreichen Weichenstellung, die der Film offenbar eher andeutet als explizit macht, entspricht Andreas Zugang zu Wechsler und seiner Lebensgeschichte, zu Judith, zu ihrem Freund Tom, der plötzlich lieber Thomas genannt werden würde, zu sich selbst.
Dass wir Leser früh und nachhaltig darauf gestoßen werden, in den Berichten die Möglichkeitsform mitzudenken, ist Programm. Es geht um Andrea, wir sehen aus ihren Augen und misstrauen ihrem Blick, und für einen Roman könnte genau darin ein großer Reiz liegen. Auch dass Stamm uns eine Erzählerin entwirft, die bei aller Redefreude Hürden um die eigene Person aufbaut, die viel erzählt, manchmal in Floskeln wie "ich bin kein Kind von Traurigkeit", und manchmal überdeutliche Lücken lässt, tut dem Roman gut. Ihre Suche nach sich selbst wird deutlich abgebildet, und besonders ihre dezenten Versuche, das Spiel mit Schein und Sein, das Wechsler treibt, durch Eingriffe wieder zurechtzurücken, lassen Facetten von ihr deutlich werden, die sie selbst womöglich gar nicht überschaut - den Bildband, den der Autor vor laufender Kamera nur scheinbar kauft, wird Andrea anschließend selbst erwerben.
Andererseits macht Stamm überdeutlich, in welcher Vorstellungswelt seine Erzählerin gefangen ist: "Ist es von Anfang an nur um mich gegangen?", fragt sie, und schließt: "Ich bin Richards Vermächtnis, eine Figur, die er nicht zu Ende geschrieben hat und die jetzt umherirrt im Limbus der ungeborenen Romanfiguren und nicht weiß, wo sie hingehört." Die Figur Wechsler wechselt die Seiten, Andrea ist nun eine andere - beglückwünschen möchte man die Erzählerin zu dem schematischen Rollentausch nicht, den sie entwirft. Aus ihrer Werbefilmästhetik kommt sie bis zum Ende nicht mehr heraus. Und der Leser auch nicht. TILMAN SPRECKELSEN
Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wirklichkeit? Von vielen Möglichkeiten nur eine: Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" erzählt vom Scheitern eines Films.
Die Pfarrerin Judith verlässt ihren Mann. Sie teilt es ihm mit, als sie nach dem Mittagessen noch in der Küche sitzen und er Kaffee für sie beide macht. Erst versucht er noch, sie umzustimmen, danach, so rekapituliert es eine Freundin der Pfarrerin, "hat er es aufgegeben und ist in den Garten gegangen. Er recht das Laub auf der Wiese zusammen, irgendetwas muss er ja tun. Ein schönes Bild: der abgeerntete Garten im Nebel, das nasse Grün des Grases, das Braun und Gelb des Laubes, die Verwesung, dieser ratlose Mann mit dem langen Rechen. Klaviermusik, Satie oder so, etwas Ruhiges, Nachdenkliches. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben."
Andrea, so heißt Judiths Freundin, erzählt diese Auflösung einer jahrzehntelangen Ehe ersichtlich als Film, die Musik liefert sie gleich mit, das über die Bilder gelegte Rilke-Zitat auch. Das ist kein Wunder, nicht nur weil sie als Dokumentarfilmerin arbeitet oder gearbeitet hat, sondern auch weil sie keine Augenzeugin jener Trennung war und sie darum in ihrer Vorstellung modelliert. Das Ergebnis sagt deshalb nichts über das Ehepaar und sehr viel über Andrea aus. Es ist ihre Phantasie, die jene kitschigen, gründlich verbrauchten Bilder, Töne und Worte hervorbringt, ein Konglomerat, das auf eine bestimmte Wirkung zielt, ohne dass sich Andrea dessen bewusst wäre. Stattdessen berichtet sie davon, wie sie die nun wohnsitzlose Judith bei sich aufnimmt - "ich habe Kerzen angezündet, jetzt fehlt nur noch sanfter Jazz, und die Szene wäre perfekt" -, und spätestens hier fragt man sich, ob Andrea mit ihren ästhetischen Vorstellungen beim Werbefernsehen nicht besser aufgehoben wäre als ausgerechnet auf dem Feld des Dokumentarfilms.
Immerhin gelingt es ihr, den Schweizer Erfolgsautor Richard Wechsler für ein solches Projekt zu interessieren - er soll der Protagonist einer Dokumentation sein, die Andrea zusammen mit ihrem Kameramann Tom an Wechslers jetzigem Wohnsitz Paris von ihm erstellen möchte. Der Autor steht dem sichtlich skeptisch gegenüber, macht aber mit und lässt sich filmen, wie er durch die Straßen läuft; einmal kauft er, weil derlei in solchen Filmen wohl dazugehört, für die Kamera einen Bildband bei einem Straßenhändler und legt ihn, als die Aufnahme beendet ist, wieder zurück in den Bücherwagen. Sein Geld lässt er sich von dem Händler wiedergeben.
Wie viel Erkenntnis über den Autor lässt sich auf diesem Weg gewinnen? Andrea, die behauptet, Wechslers Bücher "fast alle" gelesen zu haben, weiß nicht genau, wohin das führen soll. Mit Wechsler verabredet sie sich in dessen Heimatdorf in der Schweiz und reist ihm schon mal voraus, um Gesprächspartner und Schauplätze für weitere Aufnahmen zu finden. Wechsler aber lässt sich nicht blicken. Immerhin findet Andrea Wechslers Jugendliebe, eben Judith, bevor sie den Film endgültig als gescheitert ansieht. Von Wechsler hört sie erst wieder, als sie die Nachricht seines Todes erreicht.
So etwa könnte man die Handlung von Peter Stamms Roman "In einer dunkelblauen Stunde" zusammenfassen - und würde dabei das verfehlen, was das Buch eigentlich ausmacht. Denn dieser Strang ist nur einer von mehreren, derjenige, der als Gerüst für all die Vorstellungen und Seitenwege dienen kann, die teils im offenen Widerspruch zu ihm stehen.
Das ist im Werk Peter Stamms nichts Neues, das Spiel mit den Möglichkeiten einer Handlung betreibt der 1963 geborene Autor seit jeher mit Ausdauer und Virtuosität. Hier öffnet der nicht zustande gekommene Film den Raum für Andreas Phantasien darüber, was Wechsler wohl von sich preisgegeben hätte, wenn er in dem Dorf erschienen wäre. All das geht oft bruchlos, manchmal etwas deutlicher markiert ineinander über, und ist man erst gewohnt, bei diesen Berichten jederzeit die Möglichkeit einer phantastischen Abschweifung Andreas in Betracht zu ziehen, dann wird man diese Bereitschaft auch auf das ausdehnen, was der Romananfang enthält - einen festen Boden der Handlung gibt es nicht, alles schwankt, alles könnte so sein oder auch anders, je nach Andreas Verfassung.
Für diese Schwingung, in die die Welt gerät, findet der Roman ein schönes Bild. Andrea und Tom unterhalten sich über einen Dokumentarfilm "über Leute, die zum ersten Mal von einem Zehnmeterturm springen" oder sich im letzten Moment dagegen entscheiden. Andrea spinnt das weiter aus, sie stellt sich ein junges Paar vor, das in dieser Situation erst richtig zusammenfindet, und malt sich wiederum filmisch dessen weiteres gemeinsames Leben aus. Springen, sich auf das Fallen einlassen oder diesen Schritt eben nicht unternehmen - dieser folgenreichen Weichenstellung, die der Film offenbar eher andeutet als explizit macht, entspricht Andreas Zugang zu Wechsler und seiner Lebensgeschichte, zu Judith, zu ihrem Freund Tom, der plötzlich lieber Thomas genannt werden würde, zu sich selbst.
Dass wir Leser früh und nachhaltig darauf gestoßen werden, in den Berichten die Möglichkeitsform mitzudenken, ist Programm. Es geht um Andrea, wir sehen aus ihren Augen und misstrauen ihrem Blick, und für einen Roman könnte genau darin ein großer Reiz liegen. Auch dass Stamm uns eine Erzählerin entwirft, die bei aller Redefreude Hürden um die eigene Person aufbaut, die viel erzählt, manchmal in Floskeln wie "ich bin kein Kind von Traurigkeit", und manchmal überdeutliche Lücken lässt, tut dem Roman gut. Ihre Suche nach sich selbst wird deutlich abgebildet, und besonders ihre dezenten Versuche, das Spiel mit Schein und Sein, das Wechsler treibt, durch Eingriffe wieder zurechtzurücken, lassen Facetten von ihr deutlich werden, die sie selbst womöglich gar nicht überschaut - den Bildband, den der Autor vor laufender Kamera nur scheinbar kauft, wird Andrea anschließend selbst erwerben.
Andererseits macht Stamm überdeutlich, in welcher Vorstellungswelt seine Erzählerin gefangen ist: "Ist es von Anfang an nur um mich gegangen?", fragt sie, und schließt: "Ich bin Richards Vermächtnis, eine Figur, die er nicht zu Ende geschrieben hat und die jetzt umherirrt im Limbus der ungeborenen Romanfiguren und nicht weiß, wo sie hingehört." Die Figur Wechsler wechselt die Seiten, Andrea ist nun eine andere - beglückwünschen möchte man die Erzählerin zu dem schematischen Rollentausch nicht, den sie entwirft. Aus ihrer Werbefilmästhetik kommt sie bis zum Ende nicht mehr heraus. Und der Leser auch nicht. TILMAN SPRECKELSEN
Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
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