Peter Handkes Roman erzählt eine immer wieder ans Wunderbare grenzende, zugleich zeitgemäße Abenteuer- und Liebesgeschichte: Der Apotheker von Taxham, einer kleinen, beinahe unzugänglichen Ortschaft außerhalb Salzburgs, trifft zwei Personen: einen ehemals berühmten Skifahrer und einen einst gleichfalls berühmten Dichter.
Mit ihnen begibt er sich auf eine Reise. Damit setzt die unerhörte Geschichte des Apothekers ein. Doch ist sie ein reines Abenteuer? Warum trennt sich der Apotheker in dem Ort jenseits der Grenze von seinen Gefährten? Warum setzt er sich den Gefahren der Steppe aus? Welche Rolle spielt jene Frau, die den Apotheker verführt und die auch er verfolgt? Sind seine Prüfungen Stationen einer Liebesgeschichte? Doch welcher Art kann diese Liebesgeschichte sein, wenn der Apotheker nach seiner Rückkehr unverändert sein Leben weiterführt? - All diese Fragen stellt und umspielt der Roman von Peter Handke und erzählt, damit in der Schwebe haltend, eine bisher nicht dagewesene Abenteuer- und Liebesgeschichte für unsere Tage.
»Was ich an der Sprache von Handke zunehmend bewundere, ist die
Einfachheit und gleichzeitig Präzision ... Einer der größten Autoren,
die wir haben.« Sigrid Löffler, Die Zeit
»Der Apotheker von Taxham ist eine durch und durch - Handke
würde sagen: erfrischende Figur.« Iris Radisch, Die Zeit
Mit ihnen begibt er sich auf eine Reise. Damit setzt die unerhörte Geschichte des Apothekers ein. Doch ist sie ein reines Abenteuer? Warum trennt sich der Apotheker in dem Ort jenseits der Grenze von seinen Gefährten? Warum setzt er sich den Gefahren der Steppe aus? Welche Rolle spielt jene Frau, die den Apotheker verführt und die auch er verfolgt? Sind seine Prüfungen Stationen einer Liebesgeschichte? Doch welcher Art kann diese Liebesgeschichte sein, wenn der Apotheker nach seiner Rückkehr unverändert sein Leben weiterführt? - All diese Fragen stellt und umspielt der Roman von Peter Handke und erzählt, damit in der Schwebe haltend, eine bisher nicht dagewesene Abenteuer- und Liebesgeschichte für unsere Tage.
»Was ich an der Sprache von Handke zunehmend bewundere, ist die
Einfachheit und gleichzeitig Präzision ... Einer der größten Autoren,
die wir haben.« Sigrid Löffler, Die Zeit
»Der Apotheker von Taxham ist eine durch und durch - Handke
würde sagen: erfrischende Figur.« Iris Radisch, Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.1997Der Gerechte
Peter Handke an den Quellen des Erzählens · Von Hubert Spiegel
Ein Bild wird dem Leser von Peter Handkes neuem Roman im Gedächtnis bleiben: die Gestalt eines einsamen Wanderers, der stumm die Steppe durchquert, bedächtig einen Fuß hinter den anderen setzend. Er setzt tatsächlich einen Fuß hinter den anderen, denn der Mann geht rückwärts, und es sieht aus, als sei er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen.
Später wird der Wanderer seine Reise mit dem Bus fortsetzen. Nun hat er die Sprache wiedergefunden und auch eine Begleiterin, die ihn chauffiert. Er sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, den Blick fest auf das Steppenparadies gerichtet, das seinem Blick entschwindet. Fortan, sagt er, will er immer so reisen. Im Hauptberuf ist der Wanderer der Apotheker von Taxham. Im Nebenberuf ist er der Engel des Erzählens.
In seiner Freizeit sammelt der Apotheker Pilze, der Engel des Erzählens aber liest mittelalterliche Heldenepen. Und zunächst erscheint diese Lektüre, der "Ywain" des Chrestien de Troyes, den Hartmann von Aue übertragen und bearbeitet hat, als das Modell, dem Peter Handkes neuer Roman "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus" folgt. Wie die Ritter der Artus-Welt verläßt der Held sein Haus und begibt sich auf eine Aventure. Was dem Apotheker bevorsteht, sind die matten Abenteuer der Ereignislosigkeit, wie man sie seit der "Linkshändigen Frau" aus so vielen Büchern Handkes kennt. Dem Leser aber begegnet eines jener Handkeschen Märchen, durch die wir "an nichts und an alles erinnert werden sollen".
Als Handke diesen Satz Goethes vor siebzehn Jahren seiner "Lehre der Sainte-Victoire" als Motto voranstellte, hatte er sein Programm gefunden. Seit damals erinnert uns Handke mit hohlen Worten an nichts: an das "Erhabene", das "Unerhörte" und das "Allerwirklichste", an die "Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr" und die "Wiederholung" des "Beispielschönen" einer fernen Vergangenheit. Und mit meisterhaften Beschreibungen an alles: an die "lieben" und die "winzkleinen Dinge", an Erdkrumen und Regentropfen und Luftblasen im Eis einer Gebirgsquelle. In einer Welt, in der die "Alltäglichkeit böse geworden ist", sucht der Schriftsteller seit zwanzig Jahren das Heil in der Wahrheit des Alltäglichen. Deshalb müssen Weltzuwendung und Weltflucht, muß die Präzision der Beschreibung und die Verklärung ihres Gegenstandes bei Handke so eng beisammenliegen. Noch in der stundenlangen Beobachtung und in der konzentriertesten Vertiefung in die kleinsten Dinge wirkt dieser Autor so, als wende er seinem Gegenstand zugleich den Rücken zu. Aus dieser seltsamen Haltung erwachsen die eigentümliche Faszination und Irritation, die von Handkes Büchern ausgehen.
Es ist ein verschlungener Weg durch Raum und Zeit, auf den Handke seinen Apotheker schickt: von Taxham, dem Salzburger Vorort, nach Spanien und wieder zurück, von der Gegenwart in eine unbestimmbare Zeitsphäre, in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eins zu fallen scheinen. Aber nicht nur die Zeitstruktur, auch die Topographie des Romans ist verrätselt und wirr. Taxham, die auf den ersten fünfzig, sechzig Seiten meisterlich beschriebene "Zwickelwelt", eine gesamteuropäische Niemandsbucht, geschichts- und gesichtslos, bevölkert von Flüchtlingen, Heimatvertriebenen und Zuwanderern, ist von Rollbahnen, Eisenbahngeleisen und Autobahntrassen umgeben. Ein Nirgendwo mit ICE-Anschluß, ein Ort, von dem man nur aufbrechen, in dem man aber nie ankommen kann.
Und auch Spanien, getaucht in ein "alleuropäisches scharfkaltes Licht", vereint viele Orte innerhalb seiner Grenzen. So durchquert der Apotheker Löwen und Venedig, Boston und Jericho, Dallas und Lustenau, bevor er schließlich die Stadt Santa Fe erreicht, die erste Station seiner wunderlichen Wallfahrt. Dort nimmt er mit seinen beiden Begleitern, einem ruhmlosen Dichter und einem abgetakelten ehemaligen Skistar, an einem Fest teil, bevor er allein in die Steppe aufbricht. Endlich nach Taxham zurückgekehrt, berichtet der Apotheker dem Erzähler, seinem "Aufschreiber", sein Abenteuer.
Wer dieser Fahrt mit dem Finger auf der Landkarte folgen wollte, würde sich unweigerlich im "Don Quijote" des Cervantes wiederfinden, dessen unbefangener Umgang mit der Geographie einen genauen Leser wie Nabokov zur Resignation trieb: "Machen wir uns nichts vor. Cervantes ist kein Landvermesser." Das gilt, so scheint es, auch für Peter Handke. Und doch ist auf seinen Landkarten jede Erhebung, jeder Hohlweg und jeder Bachlauf exakt verzeichnet. Dieses Kartenwerk, das mehr als zwanzig Romane und Erzählungen umfaßt, ist zuverlässig allein in der Handke-Welt. Wo unsere Wirklichkeit beginnt, verzeichnet der Schriftsteller wie auf den alten Landkarten eine kahle Fläche, mehr grau als weiß. An ihren Rändern hausen die blassen Ungeheuer der Wirklichkeit.
Die Handke-Welt kennt lichte Auen und versteckte Seitentäler, dunkle Wälder, geheime Pfade und zuweilen sogar Abkürzungen. Von der "Lehre der Sainte-Victoire" (1980) über den "Chinesen des Schmerzes" (1983) und "Noch einmal für Thukydides" (1990) bis zur "Niemandsbucht" und der skandalumwitterten "Winterlichen Reise", den jüngsten Werken also, reichen die Anspielungen und Verweise, die den neuen Roman mit früheren Büchern verknüpfen. Aber es gibt auch falsche Fährten in diesem Buch, und es kann durchaus Vergnügen bereiten, ihnen ein Weilchen zu folgen. So ist hier die deutlichste Spur jene, die am sichersten in die Irre führt: der mittelalterliche "Ywain", das Modell des Heldenepos.
Doch dieser Apotheker ist kein Recke, sondern ein sonderlicher Heilkundiger und Pilzsammler, verschroben, vereinsamt, versponnen. Während Ywains erste Fahrt ihn zu einer Quelle führt, an der er einen Ritter erschlägt, ist des Apothekers Dame bereits Witwe, als er ihr begegnet. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht tritt sie, die "Siegerin", an des Apothekers Lager und prügelt ihren stummen Gast windelweich. Aus Hartmanns Ywain, dem heldenhaften "Löwenritter", wird bei Handke ein stummer Steppenläufer, der den sanftmütigen Igel im Wappen trägt. Als ihm das Stacheltier in der Einöde begegnet, erscheint es ihm "riesenhaft und urtümlich", "das größte Tier überhaupt meiner Reise".
Aufregender sind sie nicht, die Abenteuer dieses Apothekers, und die Ironie, mit der Handke den Ritterroman zitiert, hat ihren Grund. Denn nicht Hartmanns Heldenepos ist Handkes literarisches Modell, sondern die Kritik daran, die Parodie des Cervantes. Wie Don Quijote, der große Unzeitgemäße, seinen "Amadís von Gallien", so verschlingt der Apotheker seinen "Ywain". Er ist sein tägliches "Morgenbrot", das er in der Arbeitspause in seinem hortus conclusus verzehrt. Wie Don Quijote ist er verwirrt, als er seine Reise beginnt, denn er hat im Wäldchen einen harten Schlag gegen die Stirn erhalten, der ihn die Sprache verlieren ließ. Und als er sich von seinen beiden Reisegefährten trennt und zu Fuß die Steppe durchquert, da ist ihm, als ob er "ritte, im Galopp, hoch zu Roß". Kein Zweifel, wenn Handkes Apotheker die Ritter der Heldenepen in den Blick nehmen will, dann steigt er dazu auf die Schultern des Mannes von La Mancha. Aber was er sieht er von dort?
Handkes Blick gilt der literaturgeschichtlichen Konstellation, in der das mittelalterliche Heldenepos entstanden ist, dem Übergang von der Tradition mündlichen Erzählens zur Großform des Epos. Der Apotheker von Taxham, der die Sprache verloren hat, ist unterwegs zu den Quellen des Erzählens. In der Steppe kehrt die Sprache, tonlos noch, zu ihm zurück, und in jenem Selbstgespräch, das er auf seinen Wanderungen führt, erkennt er den Ursprung der Literatur. Vielleicht habe so, im Selbstgespräch des Gerechten, alles "überhaupt erst einmal angefangen", vielleicht sei gerade dies, so erklärt er dem Aufschreiber, "das ursprüngliche Erzählen".
"Seit ich denken kann", so schrieb Handke in "Die Lehre der Sainte-Victoire", "hatte ich, immer wieder, das Bedürnis nach einem Lehrmeister." Jetzt, schon seit vielen Jahren, hat Peter Handke das Bedürfnis nach Schülern, die an ihm, dem Erzähler und Aufschreiber der Welt und all ihrer großen und winzkleinen Erscheinungen, erkennen sollen, was Walter Benjamin als "epische Seite der Wahrheit" bezeichnet hat: die Weisheit. Es ist vor allem dieser Gestus, der Handkes neuen Roman so schwer erträglich macht, obwohl das Buch, genau konstruiert und meisterlich erzählt, sicherlich zum Besten gehört, was Handke seit langem geschrieben hat. Es lebt aus der Sicherheit des Schlafwandlers, der über den schmalsten Dachfirst läuft, unanfechtbar, solange er träumt.
Wie Walter Benjamin in seinem Essay über den russischen Schriftsteller Nikolai Lesskow den Erzähler als Weltweisen, als Ratgeber und Gerechten mit fast messianischen Zügen beschrieben hat, so versteht auch Handke die eigene Profession. Wer erkennen will, was diesen Dichter antreibt, muß zusammenfügen, was er selbst getrennt hat: die beiden Hauptfiguren, die zwei Seelen des Erzählers, den Apotheker und den "Aufschreiber". Dann erblicken wir Peter Handke, wie er sich selbst sieht: Der Erzähler, so heißt es bei Benjamin, ist die Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet.
Peter Handke: "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 316 S., geb., 48,- DM.
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Peter Handke an den Quellen des Erzählens · Von Hubert Spiegel
Ein Bild wird dem Leser von Peter Handkes neuem Roman im Gedächtnis bleiben: die Gestalt eines einsamen Wanderers, der stumm die Steppe durchquert, bedächtig einen Fuß hinter den anderen setzend. Er setzt tatsächlich einen Fuß hinter den anderen, denn der Mann geht rückwärts, und es sieht aus, als sei er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen.
Später wird der Wanderer seine Reise mit dem Bus fortsetzen. Nun hat er die Sprache wiedergefunden und auch eine Begleiterin, die ihn chauffiert. Er sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, den Blick fest auf das Steppenparadies gerichtet, das seinem Blick entschwindet. Fortan, sagt er, will er immer so reisen. Im Hauptberuf ist der Wanderer der Apotheker von Taxham. Im Nebenberuf ist er der Engel des Erzählens.
In seiner Freizeit sammelt der Apotheker Pilze, der Engel des Erzählens aber liest mittelalterliche Heldenepen. Und zunächst erscheint diese Lektüre, der "Ywain" des Chrestien de Troyes, den Hartmann von Aue übertragen und bearbeitet hat, als das Modell, dem Peter Handkes neuer Roman "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus" folgt. Wie die Ritter der Artus-Welt verläßt der Held sein Haus und begibt sich auf eine Aventure. Was dem Apotheker bevorsteht, sind die matten Abenteuer der Ereignislosigkeit, wie man sie seit der "Linkshändigen Frau" aus so vielen Büchern Handkes kennt. Dem Leser aber begegnet eines jener Handkeschen Märchen, durch die wir "an nichts und an alles erinnert werden sollen".
Als Handke diesen Satz Goethes vor siebzehn Jahren seiner "Lehre der Sainte-Victoire" als Motto voranstellte, hatte er sein Programm gefunden. Seit damals erinnert uns Handke mit hohlen Worten an nichts: an das "Erhabene", das "Unerhörte" und das "Allerwirklichste", an die "Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr" und die "Wiederholung" des "Beispielschönen" einer fernen Vergangenheit. Und mit meisterhaften Beschreibungen an alles: an die "lieben" und die "winzkleinen Dinge", an Erdkrumen und Regentropfen und Luftblasen im Eis einer Gebirgsquelle. In einer Welt, in der die "Alltäglichkeit böse geworden ist", sucht der Schriftsteller seit zwanzig Jahren das Heil in der Wahrheit des Alltäglichen. Deshalb müssen Weltzuwendung und Weltflucht, muß die Präzision der Beschreibung und die Verklärung ihres Gegenstandes bei Handke so eng beisammenliegen. Noch in der stundenlangen Beobachtung und in der konzentriertesten Vertiefung in die kleinsten Dinge wirkt dieser Autor so, als wende er seinem Gegenstand zugleich den Rücken zu. Aus dieser seltsamen Haltung erwachsen die eigentümliche Faszination und Irritation, die von Handkes Büchern ausgehen.
Es ist ein verschlungener Weg durch Raum und Zeit, auf den Handke seinen Apotheker schickt: von Taxham, dem Salzburger Vorort, nach Spanien und wieder zurück, von der Gegenwart in eine unbestimmbare Zeitsphäre, in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eins zu fallen scheinen. Aber nicht nur die Zeitstruktur, auch die Topographie des Romans ist verrätselt und wirr. Taxham, die auf den ersten fünfzig, sechzig Seiten meisterlich beschriebene "Zwickelwelt", eine gesamteuropäische Niemandsbucht, geschichts- und gesichtslos, bevölkert von Flüchtlingen, Heimatvertriebenen und Zuwanderern, ist von Rollbahnen, Eisenbahngeleisen und Autobahntrassen umgeben. Ein Nirgendwo mit ICE-Anschluß, ein Ort, von dem man nur aufbrechen, in dem man aber nie ankommen kann.
Und auch Spanien, getaucht in ein "alleuropäisches scharfkaltes Licht", vereint viele Orte innerhalb seiner Grenzen. So durchquert der Apotheker Löwen und Venedig, Boston und Jericho, Dallas und Lustenau, bevor er schließlich die Stadt Santa Fe erreicht, die erste Station seiner wunderlichen Wallfahrt. Dort nimmt er mit seinen beiden Begleitern, einem ruhmlosen Dichter und einem abgetakelten ehemaligen Skistar, an einem Fest teil, bevor er allein in die Steppe aufbricht. Endlich nach Taxham zurückgekehrt, berichtet der Apotheker dem Erzähler, seinem "Aufschreiber", sein Abenteuer.
Wer dieser Fahrt mit dem Finger auf der Landkarte folgen wollte, würde sich unweigerlich im "Don Quijote" des Cervantes wiederfinden, dessen unbefangener Umgang mit der Geographie einen genauen Leser wie Nabokov zur Resignation trieb: "Machen wir uns nichts vor. Cervantes ist kein Landvermesser." Das gilt, so scheint es, auch für Peter Handke. Und doch ist auf seinen Landkarten jede Erhebung, jeder Hohlweg und jeder Bachlauf exakt verzeichnet. Dieses Kartenwerk, das mehr als zwanzig Romane und Erzählungen umfaßt, ist zuverlässig allein in der Handke-Welt. Wo unsere Wirklichkeit beginnt, verzeichnet der Schriftsteller wie auf den alten Landkarten eine kahle Fläche, mehr grau als weiß. An ihren Rändern hausen die blassen Ungeheuer der Wirklichkeit.
Die Handke-Welt kennt lichte Auen und versteckte Seitentäler, dunkle Wälder, geheime Pfade und zuweilen sogar Abkürzungen. Von der "Lehre der Sainte-Victoire" (1980) über den "Chinesen des Schmerzes" (1983) und "Noch einmal für Thukydides" (1990) bis zur "Niemandsbucht" und der skandalumwitterten "Winterlichen Reise", den jüngsten Werken also, reichen die Anspielungen und Verweise, die den neuen Roman mit früheren Büchern verknüpfen. Aber es gibt auch falsche Fährten in diesem Buch, und es kann durchaus Vergnügen bereiten, ihnen ein Weilchen zu folgen. So ist hier die deutlichste Spur jene, die am sichersten in die Irre führt: der mittelalterliche "Ywain", das Modell des Heldenepos.
Doch dieser Apotheker ist kein Recke, sondern ein sonderlicher Heilkundiger und Pilzsammler, verschroben, vereinsamt, versponnen. Während Ywains erste Fahrt ihn zu einer Quelle führt, an der er einen Ritter erschlägt, ist des Apothekers Dame bereits Witwe, als er ihr begegnet. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht tritt sie, die "Siegerin", an des Apothekers Lager und prügelt ihren stummen Gast windelweich. Aus Hartmanns Ywain, dem heldenhaften "Löwenritter", wird bei Handke ein stummer Steppenläufer, der den sanftmütigen Igel im Wappen trägt. Als ihm das Stacheltier in der Einöde begegnet, erscheint es ihm "riesenhaft und urtümlich", "das größte Tier überhaupt meiner Reise".
Aufregender sind sie nicht, die Abenteuer dieses Apothekers, und die Ironie, mit der Handke den Ritterroman zitiert, hat ihren Grund. Denn nicht Hartmanns Heldenepos ist Handkes literarisches Modell, sondern die Kritik daran, die Parodie des Cervantes. Wie Don Quijote, der große Unzeitgemäße, seinen "Amadís von Gallien", so verschlingt der Apotheker seinen "Ywain". Er ist sein tägliches "Morgenbrot", das er in der Arbeitspause in seinem hortus conclusus verzehrt. Wie Don Quijote ist er verwirrt, als er seine Reise beginnt, denn er hat im Wäldchen einen harten Schlag gegen die Stirn erhalten, der ihn die Sprache verlieren ließ. Und als er sich von seinen beiden Reisegefährten trennt und zu Fuß die Steppe durchquert, da ist ihm, als ob er "ritte, im Galopp, hoch zu Roß". Kein Zweifel, wenn Handkes Apotheker die Ritter der Heldenepen in den Blick nehmen will, dann steigt er dazu auf die Schultern des Mannes von La Mancha. Aber was er sieht er von dort?
Handkes Blick gilt der literaturgeschichtlichen Konstellation, in der das mittelalterliche Heldenepos entstanden ist, dem Übergang von der Tradition mündlichen Erzählens zur Großform des Epos. Der Apotheker von Taxham, der die Sprache verloren hat, ist unterwegs zu den Quellen des Erzählens. In der Steppe kehrt die Sprache, tonlos noch, zu ihm zurück, und in jenem Selbstgespräch, das er auf seinen Wanderungen führt, erkennt er den Ursprung der Literatur. Vielleicht habe so, im Selbstgespräch des Gerechten, alles "überhaupt erst einmal angefangen", vielleicht sei gerade dies, so erklärt er dem Aufschreiber, "das ursprüngliche Erzählen".
"Seit ich denken kann", so schrieb Handke in "Die Lehre der Sainte-Victoire", "hatte ich, immer wieder, das Bedürnis nach einem Lehrmeister." Jetzt, schon seit vielen Jahren, hat Peter Handke das Bedürfnis nach Schülern, die an ihm, dem Erzähler und Aufschreiber der Welt und all ihrer großen und winzkleinen Erscheinungen, erkennen sollen, was Walter Benjamin als "epische Seite der Wahrheit" bezeichnet hat: die Weisheit. Es ist vor allem dieser Gestus, der Handkes neuen Roman so schwer erträglich macht, obwohl das Buch, genau konstruiert und meisterlich erzählt, sicherlich zum Besten gehört, was Handke seit langem geschrieben hat. Es lebt aus der Sicherheit des Schlafwandlers, der über den schmalsten Dachfirst läuft, unanfechtbar, solange er träumt.
Wie Walter Benjamin in seinem Essay über den russischen Schriftsteller Nikolai Lesskow den Erzähler als Weltweisen, als Ratgeber und Gerechten mit fast messianischen Zügen beschrieben hat, so versteht auch Handke die eigene Profession. Wer erkennen will, was diesen Dichter antreibt, muß zusammenfügen, was er selbst getrennt hat: die beiden Hauptfiguren, die zwei Seelen des Erzählers, den Apotheker und den "Aufschreiber". Dann erblicken wir Peter Handke, wie er sich selbst sieht: Der Erzähler, so heißt es bei Benjamin, ist die Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet.
Peter Handke: "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 316 S., geb., 48,- DM.
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