Auf einem Marktplatz in Delhi explodiert eine Bombe. Eine der vielen kleinen, die von der Welt kaum beachtet werden - und tötet die Khurana-Brüder. Ihr zwölfjähriger Freund Mansoor überlebt, doch der Anschlag hinterlässt Spuren an Körper und Seele. Jahre später lernt Mansoor den Aktivisten Ayub kennen und seine Suche nach einem Platz im Leben nimmt immer radikalere Formen an. Wie Druckwellen einer Explosion folgt der Roman den Lebensläufen von Opfern, Angehörigen und Tätern und beantwortet die wichtigsten Fragen unserer Zeit: Was macht Terrorismus mit uns? Und wie werden Menschen zu Terroristen?
»Eins der 25 wichtigsten Bücher der Saison.« Spiegel-Online
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2018Tod am Lichterfest
Indiens Konflikte: Karan Mahajans "In Gesellschaft kleiner Bomben"
Im Jahr 1996 kommt es zu einem schweren Bombenanschlag auf einem belebten Markt in Delhi. Es gibt viele Tote, darunter Nakul und Tushar, acht und zehn Jahre alt. Durch einen bloßen Zufall, zwar an der Hand schwer verletzt und mit einem bösen Trauma, aber immerhin, überlebt deren zwölfjähriger Freund Mansoor. Er stammt aus einer wohlhabenden, eher säkularen muslimischen Familie, die getöteten Buben aus einer ebenfalls säkularen, dafür ärmeren Hindufamilie.
Ein relativ kurzer Abschnitt am Anfang von "In Gesellschaft kleiner Bomben" (der Originaltitel lautet, eine spätere Kapitelüberschrift vorwegnehmend, "The Association of Small Bombs") reicht dem in Amerika geborenen und in Neu-Delhi aufgewachsenen indisch-amerikanischen Schriftsteller, Essayisten und Literaturkritiker Karan Mahajan zur Schilderung der Vorbereitung und Ausführung eines offenbar beinahe alltäglichen terroristischen Aktes. Im Hauptteil seines Romans zeigt er die Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Die Folgen für die Eltern der toten Kinder, für den Überlebenden Mansoor, aber auch für die Bombenbauer und den Aktivisten Ayub, der sich den Attentätern - später, viel später, nachdem er sich mit Mansoor angefreundet hat, aber nicht deswegen - anschließt.
Mahajan zeichnet kein freundliches Bild von Indien, vor allem nicht von dessen Exekutiv- und Justizorganen. Folter durch die Polizei und in Gefängnissen ist an der Tagesordnung, Prozesse schleppen sich ewig dahin. Der Beamtenapparat ist korrupt und ineffizient. Vorurteile, vor allem gegen Muslime, wachsen ständig an - immerhin fallen in den Handlungszeitraum die Anschläge in New York vom 11. September 2001. Sie spielen aber lediglich eine marginale Rolle bei der Zunahme der - wechselseitigen - Ablehnung von Mehrheit und Minderheit, denn dass es zu so etwas auch in Indien kommen musste, war allen ohnehin klar.
Doch diese Schilderungen verstärken keineswegs beim Lesen ein europäisches oder wie auch immer geartetes Überlegenheitsgefühl. Die einzelnen Figuren, selbst jene in kleineren Rollen, werden in gekonnter Vielschichtigkeit und teilweise in ergreifender Verzweiflung präsentiert, die nur zu gut verständlich ist. Keine Einladung zur Identifikation, aber jede Handlung ist aus der Perspektive der jeweiligen Person in der je speziellen Situation nachvollziehbar.
In einem für einen Roman unerwartet lakonischen, ja bisweilen abgebrühten Stil, der sich zusätzlich durch ein dichtes Gestrüpp an Einschüben (manchmal gar in Klammern gesetzt) auszeichnet, finden sich aber auch Passagen wie diese, in der Vikas, der Vater von Nakul und Tushar, geschildert wird: Ein Mann, "der stundenlang an seinem Fenster klebte, als wäre es ein Fernseher, und aus mächtiger Gewohnheit heraus nach seinen Jungs Ausschau hielt, während sein Herz zersprang." Andere Beschreibungen fallen nüchtern und gleichzeitig sarkastisch aus: "An einem windigen, nebligen Nachmittag von der Sorte, an dem ganz Delhi einen Pullover aus atmosphärischem Dreck trägt, machte er sich schließlich auf den Weg." Hier ist auch ein Lob für die Übersetzung durch Zoë Beck angebracht, die es sehr gut versteht, diese Grundstimmung einzufangen.
So muss man nicht wissen, dass "Diwali", das Lichterfest, eines der bedeutendsten hinduistischen Feste ist und, nach unserer Jahresrechnung, Ende Oktober, Anfang November begangen wird. Aus den Schilderungen im Roman wird auch ohne diese Kenntnis klar, warum die Attentäter Diwali als Termin für einen weiteren Anschlag - einen in einer langen, offenbar nie endenden Reihe - wählen: Die Straßen sind voller Menschen, hauptsächlich Hindus, die Besorgungen für das Fest erledigen. Auch diese Seite, den Blickwinkel der Terroristen, die sich zu Revolutionären verklären und bisweilen durch ihre "kleinen Bomben" selbst sterben, versteht Mahajan mit beängstigend naiven und wie man fürchten darf: nicht selbst erdachten Begründungen einzunehmen.
Die teilweise hymnischen Kritiken in der englischsprachigen Welt mögen übertrieben gewesen sein. Dennoch: Wenn das Ende dann nicht so ganz befriedigend ausfällt, fast zu überfallartig daherkommt und in kleinen Episoden, etwa bei Ayubs Schicksal, beinahe ins Märchenhafte, Traumvernebelte abgleitet, bleibt "In Gesellschaft kleiner Bomben" lesenswert. Und sei es aus Neugier auf eine Innensicht auf die Metropolregion Delhi mit ihren mehr als 25 Millionen Einwohnern.
MARTIN LHOTZKY
Karan Mahajan: "In Gesellschaft kleiner Bomben". Roman.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Berlin 2018. 373 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Indiens Konflikte: Karan Mahajans "In Gesellschaft kleiner Bomben"
Im Jahr 1996 kommt es zu einem schweren Bombenanschlag auf einem belebten Markt in Delhi. Es gibt viele Tote, darunter Nakul und Tushar, acht und zehn Jahre alt. Durch einen bloßen Zufall, zwar an der Hand schwer verletzt und mit einem bösen Trauma, aber immerhin, überlebt deren zwölfjähriger Freund Mansoor. Er stammt aus einer wohlhabenden, eher säkularen muslimischen Familie, die getöteten Buben aus einer ebenfalls säkularen, dafür ärmeren Hindufamilie.
Ein relativ kurzer Abschnitt am Anfang von "In Gesellschaft kleiner Bomben" (der Originaltitel lautet, eine spätere Kapitelüberschrift vorwegnehmend, "The Association of Small Bombs") reicht dem in Amerika geborenen und in Neu-Delhi aufgewachsenen indisch-amerikanischen Schriftsteller, Essayisten und Literaturkritiker Karan Mahajan zur Schilderung der Vorbereitung und Ausführung eines offenbar beinahe alltäglichen terroristischen Aktes. Im Hauptteil seines Romans zeigt er die Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Die Folgen für die Eltern der toten Kinder, für den Überlebenden Mansoor, aber auch für die Bombenbauer und den Aktivisten Ayub, der sich den Attentätern - später, viel später, nachdem er sich mit Mansoor angefreundet hat, aber nicht deswegen - anschließt.
Mahajan zeichnet kein freundliches Bild von Indien, vor allem nicht von dessen Exekutiv- und Justizorganen. Folter durch die Polizei und in Gefängnissen ist an der Tagesordnung, Prozesse schleppen sich ewig dahin. Der Beamtenapparat ist korrupt und ineffizient. Vorurteile, vor allem gegen Muslime, wachsen ständig an - immerhin fallen in den Handlungszeitraum die Anschläge in New York vom 11. September 2001. Sie spielen aber lediglich eine marginale Rolle bei der Zunahme der - wechselseitigen - Ablehnung von Mehrheit und Minderheit, denn dass es zu so etwas auch in Indien kommen musste, war allen ohnehin klar.
Doch diese Schilderungen verstärken keineswegs beim Lesen ein europäisches oder wie auch immer geartetes Überlegenheitsgefühl. Die einzelnen Figuren, selbst jene in kleineren Rollen, werden in gekonnter Vielschichtigkeit und teilweise in ergreifender Verzweiflung präsentiert, die nur zu gut verständlich ist. Keine Einladung zur Identifikation, aber jede Handlung ist aus der Perspektive der jeweiligen Person in der je speziellen Situation nachvollziehbar.
In einem für einen Roman unerwartet lakonischen, ja bisweilen abgebrühten Stil, der sich zusätzlich durch ein dichtes Gestrüpp an Einschüben (manchmal gar in Klammern gesetzt) auszeichnet, finden sich aber auch Passagen wie diese, in der Vikas, der Vater von Nakul und Tushar, geschildert wird: Ein Mann, "der stundenlang an seinem Fenster klebte, als wäre es ein Fernseher, und aus mächtiger Gewohnheit heraus nach seinen Jungs Ausschau hielt, während sein Herz zersprang." Andere Beschreibungen fallen nüchtern und gleichzeitig sarkastisch aus: "An einem windigen, nebligen Nachmittag von der Sorte, an dem ganz Delhi einen Pullover aus atmosphärischem Dreck trägt, machte er sich schließlich auf den Weg." Hier ist auch ein Lob für die Übersetzung durch Zoë Beck angebracht, die es sehr gut versteht, diese Grundstimmung einzufangen.
So muss man nicht wissen, dass "Diwali", das Lichterfest, eines der bedeutendsten hinduistischen Feste ist und, nach unserer Jahresrechnung, Ende Oktober, Anfang November begangen wird. Aus den Schilderungen im Roman wird auch ohne diese Kenntnis klar, warum die Attentäter Diwali als Termin für einen weiteren Anschlag - einen in einer langen, offenbar nie endenden Reihe - wählen: Die Straßen sind voller Menschen, hauptsächlich Hindus, die Besorgungen für das Fest erledigen. Auch diese Seite, den Blickwinkel der Terroristen, die sich zu Revolutionären verklären und bisweilen durch ihre "kleinen Bomben" selbst sterben, versteht Mahajan mit beängstigend naiven und wie man fürchten darf: nicht selbst erdachten Begründungen einzunehmen.
Die teilweise hymnischen Kritiken in der englischsprachigen Welt mögen übertrieben gewesen sein. Dennoch: Wenn das Ende dann nicht so ganz befriedigend ausfällt, fast zu überfallartig daherkommt und in kleinen Episoden, etwa bei Ayubs Schicksal, beinahe ins Märchenhafte, Traumvernebelte abgleitet, bleibt "In Gesellschaft kleiner Bomben" lesenswert. Und sei es aus Neugier auf eine Innensicht auf die Metropolregion Delhi mit ihren mehr als 25 Millionen Einwohnern.
MARTIN LHOTZKY
Karan Mahajan: "In Gesellschaft kleiner Bomben". Roman.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Berlin 2018. 373 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dringlich und eindringlich findet Claudia Kramatschek Karan Mahajans Roman über die sozialen und politischen Verwerfungen in der indischen Gesellschaft. Wie der Autor mit einer Vielzahl von Erzählperspektiven die Auswirkungen eines Bombenanschlags in Delhi "quälend genau" erkundet, den Zirkel aus Gewalt und Gegengewalt, aus Ausgrenzung und Aufbegehren, findet sie bemerkenswert. Ein kluges wie einfühlsames Buch in einer die intensive Sprache des Originals treffenden Übersetzung, findet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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