Ein fast vergessener Krieg im Osten der Ukraine: Stanislaw Assejew ist Journalist und Augenzeuge, der in seinen Texten festhält, was vor sich geht im Donbass, in diesem Teil Europas, in dieser Gegend, die Russland und seine Freunde vor Ort gern als das "märchenhafte Neurussland" bezeichnen und aus der sie Pseudo-Republiken gemacht haben, die mit der Ukraine nichts mehr zu haben wollen. Den Autor treibt die Frage um: "Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?", und er beschreibt und reflektiert das Leben der Menschen im Krieg, ihr Verhalten, ihre Einstellungen. Diese Texte haben ihn ins Gefängnis gebracht. Sie erscheinen jetzt mit Unterstützung des PEN Zentrums der Ukraine zum ersten Mal auf Deutsch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2021Wo Europa zu Asien wird
Hinter der Frontlinie: Stanislaw Assejews Berichte aus dem besetzten Donbass
Wenn der ukrainische Schriftsteller Stanislaw Assejew, der über vier Jahre aus seiner russisch besetzten Heimatstadt Donezk berichtete, recht hat, so sind die vom Krieg gezeichneten "Volksrepubliken" im Osten des Landes für Kiew auf lange Zeit verloren. Assejew, ein studierter Philosoph, gehört zur proukrainischen Minderheit in der einst stolzen Bergbaumetropole, blieb aber unter der gelenkten Freischärlerherrschaft am Ort und schilderte, unter Pseudonym, dessen rapide Verwilderung für Radio Liberty und unabhängige ukrainische Medien. Die anthropologisch präzisen Skizzen des heute 31 Jahre alten Autors waren ein Fenster in das abgeschirmte Gelände der Willkürherrschaft, das eine verdienstvolle Publikation nun auch dem deutschen Publikum geöffnet hat. Die Berichte enden im Mai 2017, als Assejew verhaftet und in das berüchtigte Lager des ehemaligen Fabrikgeländes "Isoljazia" gesperrt wurde, was dem Buchtitel "In Isolation" zusätzliche Bedeutung verleiht. Assejew, der Ende 2019 bei einem Gefangenenaustausch freikam, lebt heute in Kiew.
Das Leben und die Mentalität der Bewohner des Donbass unterscheiden sich grundsätzlich von denen in anderen Landesteilen, schreibt Assejew, der der ukrainischen Politik eine ganze Liste von Fehlern vorhält. Da sei das gegenseitige Nichtverstehen zwischen den täglich zwölf Stunden malochenden Bergleuten und den Lieder singenden Helden des Maidan, die nie einen Hammer in der Hand gehalten hätten. Die sowjetnostalgische Ablehnung der Demokratiebewegung durch die Arbeiter vergleicht er mit der Haltung der 1861 aus der Leibeigenschaft entlassenen russischen Bauern, die, weil sie nichts mit sich anzufangen wussten, zu ihren früheren Herren zurückkehrten. Präsident Poroschenko, den Assejew "Schokoladenkönig" nennt, weil das in dessen russischer Firma produzierte Konfekt noch bis 2015 im Donbass verkauft wurde, habe aber auch nicht um die Landsleute hinterm Stacheldraht geworben und sich nie mit einer Ansprache an sie gewandt. Stattdessen sei den "Dagebliebenen" empfohlen worden, in den freien Landesteil umzuziehen, was einer Preisgabe der Region gleichkomme.
Assejew kritisiert auch die übersteigerten Europa-Hoffnungen vieler seiner Landsleute, die ihn an Träume von Sowjetmenschen erinnern, durch Emigration in den Westen dem heimischen Schlamassel zu entkommen. Die EU setze Maßstäbe für Wirtschaftsentwicklung und Beachtung der Menschenrechte, werde der politisch von halbkriminellen Managern dominierten Ukraine ihre Transformationsarbeit jedoch nicht abnehmen, notiert er 2015. Als echter Patriot sieht er obendrein ukrainische Kosmopoliten, die sich nicht an ihre Region binden, als Teil des Problems. Die Fliehkräfte, die mobile Donezker in den Westen ihres Landes oder nach Westeuropa ziehen, verwandeln, so seine Diagnose, ein vormaliges Stück Europas in das zukünftige Asien.
In Russlands Präsident Putin, der diesen Prozess vorantreibt, sieht Assejew den einzigen strategisch denkenden Politiker in dem Konflikt. Während die Europäer sich vor allem von marktwirtschaftlich-monetären Überlegungen leiten ließen, während ein ukrainischer Oligarch wie Rinat Achmetow mit allen Seiten Geschäfte macht (und den Menschen im besetzten Donezk ukrainische Care-Pakete schickt), betreibe Putin die Befestigung der russischen Machtsphäre als "metaphysisches" Projekt, unbeeindruckt von deren Unrentabilität.
Assejew, damals in der Bergbaustadt Makijiwka bei Donezk wohnhaft, dokumentiert den Niedergang in Momentaufnahmen. Nachdem bei ersten Demonstrationen prorussischer Separatisten vor der Donezker Gebietsverwaltung im März 2014 Kämpfer, die das Gebäude stürmen wollten, von Bürgern zurückgehalten wurden, um Verwüstungen "wie beim Maidan" zu verhindern, verwandelte sich die Anlage binnen kurzem in ein demoliertes Freischärlerlager. Assejew beobachtet die Geburt des Wegelagererstaates aus dem kriegsbedingten Naturzustand. Kontrollposten, die überall entstehen, bilden die zuverlässigste Einnahmequelle, die auch ein proukrainischer Donezker nutzt, um sich den Umzug in den freien Landesteil zu finanzieren.
Die proukrainische Minderheit im besetzten Gebiet schätzt Assejew auf etwa dreißig Prozent, die durch ihre Resistenz gegen russische Indoktrination bei der Heimholung der besetzten Gebiete einst aber die entscheidende Rolle spielen dürfte. Manchmal ertönte irgendwo die ukrainische Hymne, proukrainische Graffiti oder Flugblätter tauchten auf. Das beantworteten die Sicherheitsorgane der "Republik" mit einer hysterischen Repressionswelle, die auch prorussische Minderjährige sowie einzelne Freischärler erfasste. Dass die "Republik" an Rückhalt verlor, merkt Assejew auch daran, dass er von Donezkern, die ihm früher mit Hass begegneten, immer öfter hört, er habe im Grunde recht.
Die wirksamste Propaganda ist freilich der Tod, weiß Assejew. Da sich die Militärstützpunkte der Separatisten in Wohngebieten befinden, treffen ukrainische Geschosse immer wieder Wohnhäuser, was Menschen, die durch solche Einschläge ihr Heim oder gar Angehörige verlieren, zu Parteigängern der "Volksrepublik" macht. Assejew beobachtete aber auch, wie Freischärler Donezk beschossen. Ein Freund, der dabei fast getötet worden wäre, wollte ihm indes nicht glauben und gab Kiew die Schuld. Der Plan des Kreml, Ukrainer diesseits und jenseits der Front vollends zu Feinden zu machen, dürfe nicht aufgehen, mahnt Assejew, der von einer Einheit seines Landes in regionaler Vielfalt träumt. Das bezahlte er mit zweieinhalb Jahren Lagerhaft. Man muss hoffen, dass auch sein Gefängnistagebuch aus dem "Isoljazia"-Werk auf Deutsch herauskommt.
KERSTIN HOLM
Stanislaw Assejew: "In Isolation". Texte aus dem Donbass. Aus dem Russischen und Ukrainischen von Sofija Onufriv und Claudia Dathe. edition.fotoTAPETA, Berlin 2020. 222 S., br., 15,- [Euro].
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Hinter der Frontlinie: Stanislaw Assejews Berichte aus dem besetzten Donbass
Wenn der ukrainische Schriftsteller Stanislaw Assejew, der über vier Jahre aus seiner russisch besetzten Heimatstadt Donezk berichtete, recht hat, so sind die vom Krieg gezeichneten "Volksrepubliken" im Osten des Landes für Kiew auf lange Zeit verloren. Assejew, ein studierter Philosoph, gehört zur proukrainischen Minderheit in der einst stolzen Bergbaumetropole, blieb aber unter der gelenkten Freischärlerherrschaft am Ort und schilderte, unter Pseudonym, dessen rapide Verwilderung für Radio Liberty und unabhängige ukrainische Medien. Die anthropologisch präzisen Skizzen des heute 31 Jahre alten Autors waren ein Fenster in das abgeschirmte Gelände der Willkürherrschaft, das eine verdienstvolle Publikation nun auch dem deutschen Publikum geöffnet hat. Die Berichte enden im Mai 2017, als Assejew verhaftet und in das berüchtigte Lager des ehemaligen Fabrikgeländes "Isoljazia" gesperrt wurde, was dem Buchtitel "In Isolation" zusätzliche Bedeutung verleiht. Assejew, der Ende 2019 bei einem Gefangenenaustausch freikam, lebt heute in Kiew.
Das Leben und die Mentalität der Bewohner des Donbass unterscheiden sich grundsätzlich von denen in anderen Landesteilen, schreibt Assejew, der der ukrainischen Politik eine ganze Liste von Fehlern vorhält. Da sei das gegenseitige Nichtverstehen zwischen den täglich zwölf Stunden malochenden Bergleuten und den Lieder singenden Helden des Maidan, die nie einen Hammer in der Hand gehalten hätten. Die sowjetnostalgische Ablehnung der Demokratiebewegung durch die Arbeiter vergleicht er mit der Haltung der 1861 aus der Leibeigenschaft entlassenen russischen Bauern, die, weil sie nichts mit sich anzufangen wussten, zu ihren früheren Herren zurückkehrten. Präsident Poroschenko, den Assejew "Schokoladenkönig" nennt, weil das in dessen russischer Firma produzierte Konfekt noch bis 2015 im Donbass verkauft wurde, habe aber auch nicht um die Landsleute hinterm Stacheldraht geworben und sich nie mit einer Ansprache an sie gewandt. Stattdessen sei den "Dagebliebenen" empfohlen worden, in den freien Landesteil umzuziehen, was einer Preisgabe der Region gleichkomme.
Assejew kritisiert auch die übersteigerten Europa-Hoffnungen vieler seiner Landsleute, die ihn an Träume von Sowjetmenschen erinnern, durch Emigration in den Westen dem heimischen Schlamassel zu entkommen. Die EU setze Maßstäbe für Wirtschaftsentwicklung und Beachtung der Menschenrechte, werde der politisch von halbkriminellen Managern dominierten Ukraine ihre Transformationsarbeit jedoch nicht abnehmen, notiert er 2015. Als echter Patriot sieht er obendrein ukrainische Kosmopoliten, die sich nicht an ihre Region binden, als Teil des Problems. Die Fliehkräfte, die mobile Donezker in den Westen ihres Landes oder nach Westeuropa ziehen, verwandeln, so seine Diagnose, ein vormaliges Stück Europas in das zukünftige Asien.
In Russlands Präsident Putin, der diesen Prozess vorantreibt, sieht Assejew den einzigen strategisch denkenden Politiker in dem Konflikt. Während die Europäer sich vor allem von marktwirtschaftlich-monetären Überlegungen leiten ließen, während ein ukrainischer Oligarch wie Rinat Achmetow mit allen Seiten Geschäfte macht (und den Menschen im besetzten Donezk ukrainische Care-Pakete schickt), betreibe Putin die Befestigung der russischen Machtsphäre als "metaphysisches" Projekt, unbeeindruckt von deren Unrentabilität.
Assejew, damals in der Bergbaustadt Makijiwka bei Donezk wohnhaft, dokumentiert den Niedergang in Momentaufnahmen. Nachdem bei ersten Demonstrationen prorussischer Separatisten vor der Donezker Gebietsverwaltung im März 2014 Kämpfer, die das Gebäude stürmen wollten, von Bürgern zurückgehalten wurden, um Verwüstungen "wie beim Maidan" zu verhindern, verwandelte sich die Anlage binnen kurzem in ein demoliertes Freischärlerlager. Assejew beobachtet die Geburt des Wegelagererstaates aus dem kriegsbedingten Naturzustand. Kontrollposten, die überall entstehen, bilden die zuverlässigste Einnahmequelle, die auch ein proukrainischer Donezker nutzt, um sich den Umzug in den freien Landesteil zu finanzieren.
Die proukrainische Minderheit im besetzten Gebiet schätzt Assejew auf etwa dreißig Prozent, die durch ihre Resistenz gegen russische Indoktrination bei der Heimholung der besetzten Gebiete einst aber die entscheidende Rolle spielen dürfte. Manchmal ertönte irgendwo die ukrainische Hymne, proukrainische Graffiti oder Flugblätter tauchten auf. Das beantworteten die Sicherheitsorgane der "Republik" mit einer hysterischen Repressionswelle, die auch prorussische Minderjährige sowie einzelne Freischärler erfasste. Dass die "Republik" an Rückhalt verlor, merkt Assejew auch daran, dass er von Donezkern, die ihm früher mit Hass begegneten, immer öfter hört, er habe im Grunde recht.
Die wirksamste Propaganda ist freilich der Tod, weiß Assejew. Da sich die Militärstützpunkte der Separatisten in Wohngebieten befinden, treffen ukrainische Geschosse immer wieder Wohnhäuser, was Menschen, die durch solche Einschläge ihr Heim oder gar Angehörige verlieren, zu Parteigängern der "Volksrepublik" macht. Assejew beobachtete aber auch, wie Freischärler Donezk beschossen. Ein Freund, der dabei fast getötet worden wäre, wollte ihm indes nicht glauben und gab Kiew die Schuld. Der Plan des Kreml, Ukrainer diesseits und jenseits der Front vollends zu Feinden zu machen, dürfe nicht aufgehen, mahnt Assejew, der von einer Einheit seines Landes in regionaler Vielfalt träumt. Das bezahlte er mit zweieinhalb Jahren Lagerhaft. Man muss hoffen, dass auch sein Gefängnistagebuch aus dem "Isoljazia"-Werk auf Deutsch herauskommt.
KERSTIN HOLM
Stanislaw Assejew: "In Isolation". Texte aus dem Donbass. Aus dem Russischen und Ukrainischen von Sofija Onufriv und Claudia Dathe. edition.fotoTAPETA, Berlin 2020. 222 S., br., 15,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Julian Weber empfiehlt dringend, Stanislaw Assejews Buch zu lesen, um Russlands Angriff auf die Ukraine zu verstehen. Das Buch versammelt zwischen 2015 und 2017 entstandene Texte über den Krieg im Donbass, wo Assejew damals lebte und auch geboren ist. "Karg und nackt wie eine Glühbirne" beschreibt Weber den Stil, in dem Assejew von den psychischen und physischen Folgen von Granateneinschlägen, von militarisierten Kindheitsfreunden, vom Krieg als andere Form der "Erwerbstätigkeit" in den Augen der Proletarier und vom Identitätsverlust des "Homo Sovieticus" berichtet. Interessant findet der Kritiker außerdem Assejews Deutung des vermeintlichen Widerstands gegen Kiew als Angst vor Veränderung. Ein "eindringlicher" und "unbarmherziger" Bericht aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, so der beeindruckte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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