2023 jährt sich zum hundertsten Mal der Zeitpunkt, an dem die ersten literarischen Reportagen zum Ruhrgebiet erschienen. Ursache war die Ruhrbesetzung (1923-25), durch welche die Region auch politisch auf sich aufmerksam machte. Erst in den 1960er- und 70er-Jahre entstand neues Interesse für die Reportage, wofür wiederum äußere Umstände maßgebend waren wie etwa die gewandelte Arbeitswelt mitsamt ihren Folgen. "In Sachen Stadtschaft" ist chronologisch ausgerichtet und zeichnet mit 23 literarischen Reportagen und Aufzeichnungen von 1923 bis 1973 fünfzig Jahre Revier-Geschichte nach. "Der rheinisch-westfälische Kohlenpott ist nämlich neuerdings ein beliebtes Ausflugsziel der Reporter geworden." Erik Reger (1930)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2023Stadt von Städten
Ein Band versammelt Texte zum Ruhrgebiet aus fünfzig Jahren
Die Ruhrbesetzung vor hundert Jahren fällt mit einem anderen Jubiläum zusammen: 1923 erscheint die erste literarische Reportage zum Ruhrgebiet. Was "terra incognita" war, wird, so mokiert sich Erik Reger, ein "beliebtes Ausflugsziel". Der prominenteste Zaungast ist ein späterer Nobelpreisträger: Ernest Hemingway, Sonderkorrespondent des "Toronto Daily Star" in Paris, berichtet auch darüber, wie während der Okkupation ein Meinungs- und Medienkrieg geführt und aus Journalismus Propaganda wird. Die "Waffenschmiede des Reiches" erhält neue Namen: "Ruhrprovinz" (Reger), "Schwarzes Revier" (Heinrich Hauser), "Kohlenpott" (Jura Soyfer), "Stadt von Städten" (Alfons Paquet), "Gigant Ruhr" (Horst Mönnich). Der Germanist Dirk Hallenberger, der dieses besondere Kapitel der Ruhrgebietsliteratur in dreiundzwanzig Texten, von 1923 bis 1973, von Lisa Tetzner bis Urs Jaeggi, aufblättert, hebt einen Begriff in den Titel, den Joseph Roth in "Trübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet" (1926) prägte: "Es ist keine Landschaft, es ist eine Art langgedehnter Stadtschaft, Industrieschaft, von blühenden Gartenlokalen unterbrochen."
Die vielen Namen und Umschreibungen widersprechen dem Bild einer eintönigen, grauen Wirklichkeit und erzählen, das ergibt sich aus der Zusammenschau (und spricht für die Qualität und Komposition der Auswahl), von der Herausforderung, diese "andere" Großstadt, das Neue und das Unvergleichliche, das Staunen und den Schrecken zu erfassen und einzuordnen: Keine "richtige" Stadt und zugleich viele Städte, ohne Zentrum, Peripherie und Geschichte, unfertig und ungeordnet, da schnell mit der Industrie gewachsen. In der Weimarer Republik fächern die Blicke von außen eine Vielfalt von Anschauungen auf, doch allein Regers Innensicht gewinnt analytische Schärfe. Belege für die Bandbreite des Genres und Fragmente einer Chronik: In der Nachkriegszeit entwickelt sich ein deutliches Selbstbewusstsein, und eigene Stimmen melden sich zu Wort. "Das Ruhrgebiet ist nicht schön", fasst Josef Reding die "Werkstättenlandschaft" zusammen: "Es ist faszinierend." ANDREAS ROSSMANN
Dirk Hallenberger (Hrsg.): "In Sachen Stadtschaft". Literarische Reportagen und Aufzeichnungen zum Ruhrgebiet 1923 bis 1973.
Henselowsky Boschmann Verlag, Bottrop 2022. 168 S., geb., 14,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Band versammelt Texte zum Ruhrgebiet aus fünfzig Jahren
Die Ruhrbesetzung vor hundert Jahren fällt mit einem anderen Jubiläum zusammen: 1923 erscheint die erste literarische Reportage zum Ruhrgebiet. Was "terra incognita" war, wird, so mokiert sich Erik Reger, ein "beliebtes Ausflugsziel". Der prominenteste Zaungast ist ein späterer Nobelpreisträger: Ernest Hemingway, Sonderkorrespondent des "Toronto Daily Star" in Paris, berichtet auch darüber, wie während der Okkupation ein Meinungs- und Medienkrieg geführt und aus Journalismus Propaganda wird. Die "Waffenschmiede des Reiches" erhält neue Namen: "Ruhrprovinz" (Reger), "Schwarzes Revier" (Heinrich Hauser), "Kohlenpott" (Jura Soyfer), "Stadt von Städten" (Alfons Paquet), "Gigant Ruhr" (Horst Mönnich). Der Germanist Dirk Hallenberger, der dieses besondere Kapitel der Ruhrgebietsliteratur in dreiundzwanzig Texten, von 1923 bis 1973, von Lisa Tetzner bis Urs Jaeggi, aufblättert, hebt einen Begriff in den Titel, den Joseph Roth in "Trübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet" (1926) prägte: "Es ist keine Landschaft, es ist eine Art langgedehnter Stadtschaft, Industrieschaft, von blühenden Gartenlokalen unterbrochen."
Die vielen Namen und Umschreibungen widersprechen dem Bild einer eintönigen, grauen Wirklichkeit und erzählen, das ergibt sich aus der Zusammenschau (und spricht für die Qualität und Komposition der Auswahl), von der Herausforderung, diese "andere" Großstadt, das Neue und das Unvergleichliche, das Staunen und den Schrecken zu erfassen und einzuordnen: Keine "richtige" Stadt und zugleich viele Städte, ohne Zentrum, Peripherie und Geschichte, unfertig und ungeordnet, da schnell mit der Industrie gewachsen. In der Weimarer Republik fächern die Blicke von außen eine Vielfalt von Anschauungen auf, doch allein Regers Innensicht gewinnt analytische Schärfe. Belege für die Bandbreite des Genres und Fragmente einer Chronik: In der Nachkriegszeit entwickelt sich ein deutliches Selbstbewusstsein, und eigene Stimmen melden sich zu Wort. "Das Ruhrgebiet ist nicht schön", fasst Josef Reding die "Werkstättenlandschaft" zusammen: "Es ist faszinierend." ANDREAS ROSSMANN
Dirk Hallenberger (Hrsg.): "In Sachen Stadtschaft". Literarische Reportagen und Aufzeichnungen zum Ruhrgebiet 1923 bis 1973.
Henselowsky Boschmann Verlag, Bottrop 2022. 168 S., geb., 14,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main