Jamie und seine kleine Schwester Nin leben mit ihrer Mutter abgeschieden in einem Wohnwagen. Zu diesem Schritt entschied sich die Mutter, als ihr Lebensgefährte die kleine Nin mißhandelt hatte. Jamie nimmt die Strapazen dieses ungewöhnlichen Lebens gerne auf sich - seiner kleinen Schwester willen. Ein Weg zurück ins 'normale' Leben scheint unmöglich, bis Jamies Leherin die Familie besucht...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.1999Die Angst bleibt nah
Alltag und Albtraum: "In sicherer Ferne"
Die Szene dauert nur ein paar Sekunden. Der neun Jahre alte Jamie schrickt nachts aus dem Schlaf auf und wird Augenzeuge eines entsetzlichen Geschehens. Er sieht, wie sein Stiefvater das dauerschreiende Schwesterchen Nin hasserfüllt aus dem Gitterbett zerrt und den Säugling wie einen Gegenstand in die Ecke feuert. Doch wie durch ein Wunder erscheint in diesem Moment Jamies Mutter und kann das Schreckliche verhindern: Sie fängt Nin auf.
Kurze lakonische Sätze skizzieren den weiteren Handlungsverlauf. Jamie und seine Mutter entkommen, die Angst begleitet sie fortan. Unvermittelt versetzt der erste Abschnitt des Romans den Leser in die gewaltvolle Geschichte. Man wird mit diesen wenigen Zeilen zum unfreiwilligen Mitwisser. Dem Leser geht es so wie dem kleinen Jamie: Er kann nicht mehr vergessen, was vorgefallen ist.
Die amerikanische Jugendbuchautoin Carolyn Coman erzählt diese Geschichte aus der kindlichen Perspektive des Jungen. Ihre Darstellung spiegelt das schockhafte Erleben des Kindes. Als rasende Bilderfolge, einer Filmsequenz ähnlich, die im Zeitraffer abgespielt wird, gestaltet Coman die Eingangsszene. Auch die anschließende Flucht der Mutter mit ihren Kindern aus dem Haus liest sich wie ein Szenario, das der Junge gar nicht selbst, sondern wie im Kino zu erleben scheint. Welche Angst er dabei empfindet, erfährt man fast beiläufig: Jamie hält im Auto so lange die Luft an, bis seine Mutter endlich neben ihm sitzt und losfährt. Danach folgt ein irritierender Wechsel: Kaum der lebensbedrohlichen Situation entronnen, erkundigt sich Jamie aufgeregt nach seinem Zauberkasten. Hat die Mutter ihn auch wirklich eingepackt? - Mit dem spektakulären Anfang zeigte Carolyn Coman das Unfassbare der gewaltvollen Tat. Wie man danach weiterleben kann, ist jedoch ihr eigentliches Thema.
Die Autorin erzählt weiter, wie Mutter und Sohn versuchen, ihren Alltag wieder aufzunehmen. Sie zeigt, wie sich die beiden aneinander klammern, aber auch vorsichtig alte Rituale wieder aufnehmen. So zaubert Jamie wieder, und sie besuchen gemeinsam einen Weihnachtsbasar. Doch immer wieder überfällt sie die Angst. Jamie reagiert darauf teils verzweifelt, teils mit zerstörerischer Wut. Schließlich durchbricht Jamies Lehrerin erstmals den Kreislauf der Angst und der Abschottung gegenüber der Außenwelt; sie sorgt dafür, dass er wieder in die Schule geht. Es ist sein erster vorsichtiger Schritt zurück in die Normalität.
Alltag und Albtraum, Außen- und Innenwelt werden mit scharfen Schnitten nebeneinander gesetzt. So entsteht ein kontrastreiches Bild, das sich nicht mehr "aus sicherer Ferne" betrachten lässt. Schade, dass Cornelia Krutz-Arnold die amerikanische Alltagssprache zum Teil allzu wörtlich übertragen hat. Dialoge zwischen Mutter und Sohn mit Floskeln wie "Es ist ok." oder "Oh, mein Gott" nehmen manchen atmosphärischen Momenten ihre Tiefe. Doch dann greift Jamie wieder in den Zauberkasten.
CAROLINE ROEDER.
Carolyn Coman: "In sicherer Ferne". Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold. Verlag Sauerländer, Frankfurt/Main 1999. 100 S., geb., 22,80 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alltag und Albtraum: "In sicherer Ferne"
Die Szene dauert nur ein paar Sekunden. Der neun Jahre alte Jamie schrickt nachts aus dem Schlaf auf und wird Augenzeuge eines entsetzlichen Geschehens. Er sieht, wie sein Stiefvater das dauerschreiende Schwesterchen Nin hasserfüllt aus dem Gitterbett zerrt und den Säugling wie einen Gegenstand in die Ecke feuert. Doch wie durch ein Wunder erscheint in diesem Moment Jamies Mutter und kann das Schreckliche verhindern: Sie fängt Nin auf.
Kurze lakonische Sätze skizzieren den weiteren Handlungsverlauf. Jamie und seine Mutter entkommen, die Angst begleitet sie fortan. Unvermittelt versetzt der erste Abschnitt des Romans den Leser in die gewaltvolle Geschichte. Man wird mit diesen wenigen Zeilen zum unfreiwilligen Mitwisser. Dem Leser geht es so wie dem kleinen Jamie: Er kann nicht mehr vergessen, was vorgefallen ist.
Die amerikanische Jugendbuchautoin Carolyn Coman erzählt diese Geschichte aus der kindlichen Perspektive des Jungen. Ihre Darstellung spiegelt das schockhafte Erleben des Kindes. Als rasende Bilderfolge, einer Filmsequenz ähnlich, die im Zeitraffer abgespielt wird, gestaltet Coman die Eingangsszene. Auch die anschließende Flucht der Mutter mit ihren Kindern aus dem Haus liest sich wie ein Szenario, das der Junge gar nicht selbst, sondern wie im Kino zu erleben scheint. Welche Angst er dabei empfindet, erfährt man fast beiläufig: Jamie hält im Auto so lange die Luft an, bis seine Mutter endlich neben ihm sitzt und losfährt. Danach folgt ein irritierender Wechsel: Kaum der lebensbedrohlichen Situation entronnen, erkundigt sich Jamie aufgeregt nach seinem Zauberkasten. Hat die Mutter ihn auch wirklich eingepackt? - Mit dem spektakulären Anfang zeigte Carolyn Coman das Unfassbare der gewaltvollen Tat. Wie man danach weiterleben kann, ist jedoch ihr eigentliches Thema.
Die Autorin erzählt weiter, wie Mutter und Sohn versuchen, ihren Alltag wieder aufzunehmen. Sie zeigt, wie sich die beiden aneinander klammern, aber auch vorsichtig alte Rituale wieder aufnehmen. So zaubert Jamie wieder, und sie besuchen gemeinsam einen Weihnachtsbasar. Doch immer wieder überfällt sie die Angst. Jamie reagiert darauf teils verzweifelt, teils mit zerstörerischer Wut. Schließlich durchbricht Jamies Lehrerin erstmals den Kreislauf der Angst und der Abschottung gegenüber der Außenwelt; sie sorgt dafür, dass er wieder in die Schule geht. Es ist sein erster vorsichtiger Schritt zurück in die Normalität.
Alltag und Albtraum, Außen- und Innenwelt werden mit scharfen Schnitten nebeneinander gesetzt. So entsteht ein kontrastreiches Bild, das sich nicht mehr "aus sicherer Ferne" betrachten lässt. Schade, dass Cornelia Krutz-Arnold die amerikanische Alltagssprache zum Teil allzu wörtlich übertragen hat. Dialoge zwischen Mutter und Sohn mit Floskeln wie "Es ist ok." oder "Oh, mein Gott" nehmen manchen atmosphärischen Momenten ihre Tiefe. Doch dann greift Jamie wieder in den Zauberkasten.
CAROLINE ROEDER.
Carolyn Coman: "In sicherer Ferne". Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold. Verlag Sauerländer, Frankfurt/Main 1999. 100 S., geb., 22,80 DM. Ab 12 J.
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