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Tagsüber ist der kleine südholländische Ort Monward wie ausgestorben. Eine klare Frühlingsbrise kräuselt die Oberfläche des nahen Sees, als Lotte Weeda zum ersten Mal dort erscheint. Sie ist attraktiv und selbstbewußt. Und sie möchte die zweihundert markantesten Gesichter der kleinen katholischen Gemeinde photographieren; schon im Herbst soll ein Buch mit den Aufnahmen verlegt werden. Nicht alle sind begeistert von ihrem Plan, allen voran Taeke Gras, der sein Gesicht keinesfalls mit einem Stück Papier teilen möchte. Am Ende willigt er ein, wie auch Abel, der Graf. Doch ihn wirft Lottes Besuch…mehr

Produktbeschreibung
Tagsüber ist der kleine südholländische Ort Monward wie ausgestorben. Eine klare Frühlingsbrise kräuselt die Oberfläche des nahen Sees, als Lotte Weeda zum ersten Mal dort erscheint. Sie ist attraktiv und selbstbewußt. Und sie möchte die zweihundert markantesten Gesichter der kleinen katholischen Gemeinde photographieren; schon im Herbst soll ein Buch mit den Aufnahmen verlegt werden. Nicht alle sind begeistert von ihrem Plan, allen voran Taeke Gras, der sein Gesicht keinesfalls mit einem Stück Papier teilen möchte. Am Ende willigt er ein, wie auch Abel, der Graf. Doch ihn wirft Lottes Besuch aus der Bahn, denn plötzlich und unerklärlich bildet er sich ein, seine Kinder seien nicht von ihm, sondern von den wechselnden Liebhabern seiner jüngeren, reizenden Frau Noor. Immer groteskere Formen nimmt sein Wahn an - bis Abel eines Tages stirbt. Und er ist nicht der einzige: Ein Porträtierter nach dem anderen kommt zu Tode ...

Autorenporträt
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis bei Rotterdam als Sohn eines Totengräbers, wuchs in streng protestantischem Milieu auf. Seit 1987 lebt er als freier Schriftsteller in Warmond bei Leiden. Seine zahlreichen Romane und Erzählungen machen Maarten 't Hart zu einem der meistgelesenen europäischen Gegenwartsautoren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2004

Eine Laus als Liebhaber
Schattenseiten: Maarten 't Hart erzählt so schön wie eh und je

Nichts Schöneres als die Niederlande im Sommer, wenn die Entwässerungskanäle bedeckt sind mit Froschbiß und Pfeilkraut, wenn Jasmin und Geißblatt duften und die Heckenbraunellen zwitschern. Monward ist eine Idylle, die man verschlafen nennen könnte, wenn nicht ab fünf Uhr in der Nacht ein Flugzeug nach dem anderen im Sinkflug über die Fünftausend-Seelen-Gemeinde donnern würde; Schiphol ist nicht weit.

Eher unidyllisch wirken auch manche Straßennamen, Mördergäßchen zum Beispiel. Und nun dies: "Verschlußzeiten", das Buch, das alle Monwarder in Angst und Schrecken versetzt. Die Porträtkünstlerin Lotta Weeda hat die zweihundert markantesten Physiognomien des Ortes ins Bild gesetzt und einen Fotoband daraus gemacht. Selbst ausgesprochen kamerascheue Bürger, die ihr Gesicht lieber für sich behalten, hat die attraktive Indonesierin für eine Ablichtung gewinnen können.

Kaum einer, der das inzwischen nicht sehr bereuen würde. Denn ein Porträtierter nach dem anderen segnet das Zeitliche. Das Fotobuch droht zum Totenregister zu werden. Reiner Zufall? Was steckt hinter der Todesserie? Da an ein Mordkomplott nicht zu denken ist, liegt der Gedanke an übernatürliche Kräfte nahe. Ist die Fotografin mit ihrem exotischen Hintergrund möglicherweise versiert in "Guna-Guna" oder irgendeinem anderen fernwirkenden Voodoo-Zauber? Die letzten nüchternen Köpfe im Ort haben eine andere Antwort parat: Lotte Weeda habe ein Faible für die Ästhetik der Altersschwäche und jene Bewohner des Ortes ausgewählt, denen das baldige Ableben schon im Gesicht geschrieben stand. Im übrigen versterben im Ort, von Zufallsabweichungen abgesehen, nicht mehr Menschen als zuvor. Aber Statistik ist das eine, Panik das andere.

Da die Fotografin schon wieder in Sumatra weilt, bekommt nun der Erzähler - Biologe und Autor des Bestsellers "Der kühne Überschlag" - den geballten Unmut der Monwarder zu spüren. Er hat nämlich ein Vorwort zum Fotobuch beigesteuert. Überhaupt ist er, vom "Überschlag" abgesehen, kein Glückspilz. An der Universität fiel seine Stelle Sparmaßnahmen zum Opfer; die Frau hat ihn wegen seines besten Freundes sitzengelassen. Ein optimistisches Weltbild hat sich daraus nicht ergeben: "Das Leben auf Erden ist eine Farce, die sich jederzeit in einen Albtraum verwandeln kann."

Wie Vladimir Nabokov ist 't Hart ein Autor, der seinen Hauptfiguren gerne persönliche Idiosynkrasien und Aversionen in den Mund legt - Seitenhiebe gegen die Borniertheit der Toleranz und die sektiererische Religiosität in den Niederlanden, Abscheu vor den "Alzheimermelodien" der Popmusik und den martialischen Methoden der Bioindustrie. Daß Millionen Schweine zwecks Virusbekämpfung prophylaktisch "gekeult" werden, obwohl doch wirksame Impfstoffe im Handel sind, empfindet der Erzähler als "abscheuliches Verbrechen" und "Massenmord". Besitzern von Motoryachten geigt er die Meinung, wenn sie auf niederländischen Binnengewässern kreuzen und die Nester von Haubentauchern und Bläßhühnern vernichten.

Indessen ist der Erzähler ebenfalls im Fotobuch abgebildet, und so scheint auch für ihn das Ende aller Polemik gekommen. Man ahnt, es geht nicht gut, wenn er mit einer Kettensäge auf die Leiter steigt, um einen Ast zu entfernen, wenn ein Wespenschwarm auf den Insektengiftallergiker zusteuert oder wenn ein Taxifahrer, der selbst mit allem abgeschlossen hat und sich als leidenschaftlicher Geisterfahrer outet, den Biologen mit überhöhter Geschwindigkeit ins Studio Hilversum zu einer Fernsehdiskussion chauffiert.

Die Stärke des Romans liegt nicht in seiner farcenhaften Fabel. Eine Atmosphäre der Paranoia, wie sie das Xenophanes-Motto ankündigt ("Einzig der Wahn ist allen gegeben"), will sich nicht auf den Leser übertragen. Dazu ist die Gefahr, die von den "Verschlußzeiten" ausgehen soll, zuwenig plausibel. Der Plot, so könnte man sagen, liefert 't Hart lediglich einen Vorwand, um zu erzählen. Und das kann er. Er läßt sich Zeit, verweilt in Nebenepisoden, die der eigentliche Reiz dieses Buches sind. Mag es gewisse Schwächen in der Dramaturgie haben, Genuß bereiten die Charaktere und Situationen, die aufs anschaulichste und mit einigem Willen zur Skurrilität vorgeführt werden, allemal.

Viele dieser Episoden handeln von Tieren. Neben diversen Hunden und Katzen treten auf: ein seniler Storch, ein Waldkauz und ein Scheltopusik. Das ist eine osteuropäische Panzerschleiche, eigentlich völlig harmlos (obwohl sie Ratten schluckt wie Käsehäppchen), die zwischenzeitlich für weitere Unruhe in Monward sorgt, weil die ahnungslosen Bürger sie mit einer Viper verwechseln. Darüber hinaus gibt der Erzähler verfolgten Nutztieren Zuflucht, beherbergt eine Schar Gänse, um sie den "willigen Henkern des Landwirtschaftsministers" zu entziehen.

Aber nicht nur Tiere, auch Frauen kreuzen seinen Weg. Lotta Weeda hat es ihm angetan, eine Dorfgräfin reizt ihn, und die Pfarrerin läßt ihn nicht kalt: "Wenn sie betet, kippst du um vor Rührung." Ein "supranormaler Stimulus" ist Sirena, die geschlechtsumgewandelte somalische Schönheit aus dem Beauty-Salon. Allerdings schätzt sich der Held selbst freimütig als "lousy lover" ein. Ganz widersprechen möchte man nicht, denn generell lesen sich die Liebesverwicklungen bei 't Hart etwa so einfühlsam, als würden sich Panzerschleichen umgarnen. Die Biologie, die das Menschenbild von Autor und Hauptfigur bestimmt, taucht das amouröse Geschehen in nüchternes Licht.

Seine wahren Höhepunkte erlebt der Verfasser des "Kühnen Überschlags" bei der Gartenarbeit, der er regelmäßig zu Kapitelbeginn frönt. Beim Bohnenernten, Baumpflegen, Unkrautzupfen hat er seine ästhetischen Augenblicke: "Herbstfarben, wie ich sie nur selten gesehen habe. Ockergelber Eschdorn, dessen riesige Blätter träg herabschwebten, als handelte es sich um aufrührerische Pamphlete ..." Gerne läßt 't Hart seine Beschreibungen in kleine Pointen münden. Eigentlich ist nichts so ernst, daß man ihm nicht am Ende eine kleine Pointe beigeben könnte. Deshalb kommt auch nach dem fünfzigsten Toten beim Leser keine wirkliche Beunruhigung auf.

"In unnütz toller Wut" ist ein heiteres Buch über den Tod. Begräbnisse sind immer ein Anlaß zu gutem Orgelspiel. Auch wenn 't Hart, dem Kenner aller Kantaten und Choräle, eine tragische Sicht auf die Vergänglichkeit fernliegt - die Schwundform der Tragik, die Melancholie, ist ihm gut vertraut: "Aber irgendwann nach seinem vierzigsten Geburtstag wechselt man von der sonnigen Seite der Straße hinüber auf den Bürgersteig, der im Schatten liegt." Dieses Buch - im Original heißt es übrigens "Lotte Weeda", und der deutsche Titel soll beim Buchkäufer wohl angenehme Erinnerungen an 't Harts Erfolgsroman "Das Wüten der ganzen Welt" wecken - ist eine unterhaltsame, amüsante Wanderung auf der schattigen Seite der Straße.

WOLFGANG SCHNEIDER

Maarten 't Hart: "In unnütz toller Wut". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens. Piper Verlag, München 2004. 348 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Toll, ja, unnütz, nein. Maarten 't Harts Buch über den Tod hat in Wolfgang Schneider einen echten Fan gefunden. Dabei musste Schneider erstmal begreifen, dass der Plot hier nicht viel zählt, außer vielleicht als "Vorwand" für den Autor, mal so richtig loszulegen, erzähltechnisch. Schneider, einem Freund skurriler Figuren und Situationen, wie t' Hart sie präsentiert, ist es nur recht. Auch, dass er als Leser bei diesem Autor nicht zur Ruhe kommt (eine Pointe geht noch ...). Schon gar nicht, wenn's um den Tod geht.

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