Das, was die Geschichte der letzten Jahrzehnte gebracht hat - Schrecken wie Wandel - stand und steht so manchem ins Gesicht geschrieben, in Prag wie Berlin, Sofia oder Warschau. Der polnische Fotograf Chris Niedenthal war dabei, hat den Leuten ins Gesicht gesehen und so Geschichtsschreibung mit der Kamera betrieben. Martin Pollack, Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2011, schreibt dazu in seinem Essay: "...die damals entstandenenen Fotografien weisen weit über den jeweiligen Anlass hinaus. Sie berühren und verstören uns noch heute, obwohl die Ereignisse längst vorbei sind, vergangen, manchmal beinahe vergessen, aber die Gefühle und Stimmungen, die in diesen Bildern zum Ausdruck kommen, haben ihre Gültigkeit bewahrt. Sie erzählen Geschichten, die nichts an Aktualität eingebüßt haben."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2012Panzer vor dem Kino
Gibt es eine allgemeingültige Bildsprache des Protests? Ein Band mit Fotografien von Chris Niedenthal zeigt Gesten und Gesichter aus Osteuropa in Zeiten des Umbruchs.
Auf dem wohl berühmtesten Bild des Pressefotografen Chris Niedenthal sind weder Menschenmassen zu sehen, noch handelt es sich dabei um ein Porträt. Das Foto entstand im Winter 1981 in Warschau und zeigt die graue Front des "Kino Moskau", über dessen Eingang das Filmplakat zu Francis Ford Coppolas "Apocalypse now" hängt. Auf dem verschneiten Platz vor dem Kino patrouillieren ein Panzer und zwei Milizionäre. Was heute aussieht wie Marketing zu einem Antikriegsfilm, war damals bittere Realität: Die Panzer rollten tatsächlich durch die Straßen. General Jaruzelski hatte am 13. Dezember in Polen das Kriegsrecht verhängt. Selten ist der Anfang dieser bleiernen Zeit so treffend dokumentiert worden wie in Niedenthals Aufnahme. Sie erschien damals in einem amerikanischen Nachrichtenmagazin und zählt inzwischen zu den fotografischen Ikonen jenes Ausnahmezustands, der die erste Euphorie der Solidarnosc-Bewegung unter einer Welle der Gewalt begraben sollte.
Dass dies nur die vorläufige Unterbrechung eines nicht mehr aufzuhaltenden Prozesses war, der schließlich um das Jahr 1989 im Zusammenbruch des kommunistischen Systems kulminierte, daran erinnert eine Auswahl von achtzig Fotografien Chris Niedenthals. Der Sohn polnischer Emigranten wuchs in England auf und lebt seit Ende der siebziger Jahre in Polen. Weil er zu den ersten Fotografen gehörte, die 1980 auf das Gelände der Danziger Werft gelassen wurden, zählen seine Bilder aus den achtziger Jahren heute zu den wichtigsten Zeugnissen des Aufbruchs.
Unter dem Titel "In Your Face", was so viel wie "auffällig" bedeutet, sind jetzt seine Porträts von Menschen aus verschiedenen Städten Ostmitteleuropas in einer deutsch-polnischen Edition erschienen. Ob Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz, streikende Arbeiter auf der Danziger Leninwerft, Fabrikarbeiterinnen, Verkäuferinnen und Studenten in Warschau, Bergleute nach der Schicht, endloses Schlangestehen vor leeren Geschäften, überfüllte Kirchen - bis heute sind es vor allem Bilder von Massen, die unsere Erinnerung an 1989 prägen. Mal dicht gedrängt, ein anderes Mal schweigend, öfter Parolen skandierend. Auf der gegnerischen Seite dann die uniformierten Massen, marschierend und sich hinter Schutzschilden verbergend, allein durch ihre Orchestrierung die Kontinuität einer gesellschaftlichen Ordnung vortäuschend.
Niedenthal isoliert das Individuum aus dem Kollektivkörper, fokussiert das Gesicht in der Menge. Ein Gesicht, in dem er den Augenblick des Umbruchs zu erkennen meint und für das westliche Publikum, das er mit seinen Bildern belieferte, festhalten möchte. "Wenn man die Bilder von damals betrachtet", schreibt Martin Pollack, der über Jahre gemeinsam mit Niedenthal durch Osteuropa reiste, in seinem einleitenden Essay, "und in die Gesichter der Menschen schaut, glaubt man darin oft weniger triumphierende Freude als Skepsis und Unsicherheit zu entdecken. Triumph und Skepsis lagen in diesen unruhigen Zeiten eng beieinander." Es sind fragende Gesichter, in denen sich zwiespältige Gefühle spiegeln. Was würde die neue Zeit bringen? Was würde geschehen, wenn das alte System zusammenbräche? Was würde an seine Stelle treten?
Auch die führenden Köpfe hat Niedenthal in dieser Zeit porträtiert. Man blickt in die Gesichter von Václav Havel, von Tadeusz Mazowiecki, nach seiner Wahl zum polnischen Ministerpräsidenten, und von Leszek Balcerowicz, den ersten Finanzminister der freien Regierung. Sie waren diejenigen, die im Moment des Übergangs Bindungen auflösen und neue schaffen mussten. Und das, ohne genau zu wissen, wohin das alles führt.
Es ist auch die Gemeinschaftsemphase, die eine jede Revolution trägt. Martin Pollack erinnert sich, wie die Menschen auf dem Wenzelsplatz ihre Schlüsselbunde hochhielten und über ihren Köpfen schüttelten, so dass der ganze Platz hallte. Sie begrüßten mit dem Klingeln ihrer Wohnungs- und Büroschlüssel die Vertreter des Volkswillens und läuteten das Ende der Macht der Kommunisten ein. Unweigerlich denkt man da auch an die Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, als die Ägypter ihre Verachtung für Mubarak demonstrierten, indem sie ihre Schuhe mit den Sohlen voran hochhielten. Jede Revolte hat ihre eigenen Gesten und Symbole, dennoch scheint die Bildsprache des Protests universell.
STEFANIE PETER
Chris Niedenthal: "In Your Face". Bilder aus unserer jüngeren Geschichte.
Mit einem Essay von Martin Pollack. Verlag Edition Fototapeta, Warschau / Berlin 2011. 168 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gibt es eine allgemeingültige Bildsprache des Protests? Ein Band mit Fotografien von Chris Niedenthal zeigt Gesten und Gesichter aus Osteuropa in Zeiten des Umbruchs.
Auf dem wohl berühmtesten Bild des Pressefotografen Chris Niedenthal sind weder Menschenmassen zu sehen, noch handelt es sich dabei um ein Porträt. Das Foto entstand im Winter 1981 in Warschau und zeigt die graue Front des "Kino Moskau", über dessen Eingang das Filmplakat zu Francis Ford Coppolas "Apocalypse now" hängt. Auf dem verschneiten Platz vor dem Kino patrouillieren ein Panzer und zwei Milizionäre. Was heute aussieht wie Marketing zu einem Antikriegsfilm, war damals bittere Realität: Die Panzer rollten tatsächlich durch die Straßen. General Jaruzelski hatte am 13. Dezember in Polen das Kriegsrecht verhängt. Selten ist der Anfang dieser bleiernen Zeit so treffend dokumentiert worden wie in Niedenthals Aufnahme. Sie erschien damals in einem amerikanischen Nachrichtenmagazin und zählt inzwischen zu den fotografischen Ikonen jenes Ausnahmezustands, der die erste Euphorie der Solidarnosc-Bewegung unter einer Welle der Gewalt begraben sollte.
Dass dies nur die vorläufige Unterbrechung eines nicht mehr aufzuhaltenden Prozesses war, der schließlich um das Jahr 1989 im Zusammenbruch des kommunistischen Systems kulminierte, daran erinnert eine Auswahl von achtzig Fotografien Chris Niedenthals. Der Sohn polnischer Emigranten wuchs in England auf und lebt seit Ende der siebziger Jahre in Polen. Weil er zu den ersten Fotografen gehörte, die 1980 auf das Gelände der Danziger Werft gelassen wurden, zählen seine Bilder aus den achtziger Jahren heute zu den wichtigsten Zeugnissen des Aufbruchs.
Unter dem Titel "In Your Face", was so viel wie "auffällig" bedeutet, sind jetzt seine Porträts von Menschen aus verschiedenen Städten Ostmitteleuropas in einer deutsch-polnischen Edition erschienen. Ob Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz, streikende Arbeiter auf der Danziger Leninwerft, Fabrikarbeiterinnen, Verkäuferinnen und Studenten in Warschau, Bergleute nach der Schicht, endloses Schlangestehen vor leeren Geschäften, überfüllte Kirchen - bis heute sind es vor allem Bilder von Massen, die unsere Erinnerung an 1989 prägen. Mal dicht gedrängt, ein anderes Mal schweigend, öfter Parolen skandierend. Auf der gegnerischen Seite dann die uniformierten Massen, marschierend und sich hinter Schutzschilden verbergend, allein durch ihre Orchestrierung die Kontinuität einer gesellschaftlichen Ordnung vortäuschend.
Niedenthal isoliert das Individuum aus dem Kollektivkörper, fokussiert das Gesicht in der Menge. Ein Gesicht, in dem er den Augenblick des Umbruchs zu erkennen meint und für das westliche Publikum, das er mit seinen Bildern belieferte, festhalten möchte. "Wenn man die Bilder von damals betrachtet", schreibt Martin Pollack, der über Jahre gemeinsam mit Niedenthal durch Osteuropa reiste, in seinem einleitenden Essay, "und in die Gesichter der Menschen schaut, glaubt man darin oft weniger triumphierende Freude als Skepsis und Unsicherheit zu entdecken. Triumph und Skepsis lagen in diesen unruhigen Zeiten eng beieinander." Es sind fragende Gesichter, in denen sich zwiespältige Gefühle spiegeln. Was würde die neue Zeit bringen? Was würde geschehen, wenn das alte System zusammenbräche? Was würde an seine Stelle treten?
Auch die führenden Köpfe hat Niedenthal in dieser Zeit porträtiert. Man blickt in die Gesichter von Václav Havel, von Tadeusz Mazowiecki, nach seiner Wahl zum polnischen Ministerpräsidenten, und von Leszek Balcerowicz, den ersten Finanzminister der freien Regierung. Sie waren diejenigen, die im Moment des Übergangs Bindungen auflösen und neue schaffen mussten. Und das, ohne genau zu wissen, wohin das alles führt.
Es ist auch die Gemeinschaftsemphase, die eine jede Revolution trägt. Martin Pollack erinnert sich, wie die Menschen auf dem Wenzelsplatz ihre Schlüsselbunde hochhielten und über ihren Köpfen schüttelten, so dass der ganze Platz hallte. Sie begrüßten mit dem Klingeln ihrer Wohnungs- und Büroschlüssel die Vertreter des Volkswillens und läuteten das Ende der Macht der Kommunisten ein. Unweigerlich denkt man da auch an die Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, als die Ägypter ihre Verachtung für Mubarak demonstrierten, indem sie ihre Schuhe mit den Sohlen voran hochhielten. Jede Revolte hat ihre eigenen Gesten und Symbole, dennoch scheint die Bildsprache des Protests universell.
STEFANIE PETER
Chris Niedenthal: "In Your Face". Bilder aus unserer jüngeren Geschichte.
Mit einem Essay von Martin Pollack. Verlag Edition Fototapeta, Warschau / Berlin 2011. 168 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Bildsprache des Protests begegnet Stefanie Peter in diesem Bildband des polnischen Fotografen Chris Niedenthal. Niedenthal hat den Zusammenbruch kommunistischer Systeme in Osteuropa mit der Kamera begleitet. Für Peter sind es vor allem die Gesichter der Menschen in den Demonstrationszügen auf dem Prager Wenzelsplatz und der Danziger Leninwerft, die über den Kollektivkörper hinausweisen und die Gefühle des Augenblicks widerspiegeln - Skepsis und Triumph, wie sie sagt. Niedenthals Arbeit bildet das für sie ab, auch in den Porträts von Havel oder Mazowiecki. Der einleitende Essay von Martin Pollack, der den Fotografen lange begleitet hat, ergänzt für Peter den im Bild festgehaltenen historischen Moment.
© Perlentaucher Medien GmbH
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