Editorial "Indien verstehen" Indien zu verstehen ist kein leichtes Unterfangen. Kaum ein anderer Staat der Erde vereint innerhalb seiner Grenzen eine solche Fülle verschiedener Lebensformen, Religionen und Weltanschauungen. Indien steckt voller Widersprüche. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen gleichzeitig stattzufinden. Faszination und Irritation liegen dicht beieinander: sagenhafter Reichtum und massenhafte Armut, grandiose Paläste und schäbige Wellblechhütten. Frauen in golddurchwirkten Saris einerseits, Mitgiftmorde und brutale Vergewaltigungen andererseits. Vieles wurzelt in alten Bräuchen und Denkweisen. Manches ist schwer verständlich, einiges überhaupt nicht akzeptabel. Gleichzeitig rast das Land in die Neuzeit: Obwohl die Hälfte seiner 1,2 Milliarden Menschen von der Landwirtschaft lebt, verfügt Indien heute über eine hoch entwickelte Software-industrie, eine breit gefächerte Automobilindustrie; studierende und arbeitende Frauen sind Teil der allumfassenden Umwälzung. Ausländische Unternehmer lockt das Potenzial von Millionen neuer Konsumenten. Der immense wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel führt einige in den Wohlstand, stürzt andere aber ins Elend. Der Wirtschaftsboom hat die sozialen Gegensätze noch verstärkt. In den vergangenen Jahren ist die absolute Zahl der Armen und Hungernden nicht nennenswert gesunken. »Indien ist ein reiches Land mit viel zu vielen armen Menschen«, meint Rainer Hörig, der Redakteur des Magazins. Über 363 Millionen leben unterhalb der Armutsgrenze. Indien ist ein verwirrendes, manchmal schockierendes, aber auch unfassbar schönes Land. Wer es begreifen möchte, ist in jedem Fall gefordert. Die indischen und europäischen Autorinnen und Autoren wollen Mut machen, sich auf diese Herausforderung einzulassen. Dietlind von Laßberg