Indien hat in den letzten 70 Jahren eine erstaunliche wirtschaftliche und politische Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Zugleich herrschen in der größten Demokratie der Erde weiterhin krasse soziale Ungleichheit und großes Elend in den Unterschichten vor. Amartya Sen und sein Schüler Jean Drèze gehen in ihrer brillanten Analyse den Ursachen dieser Widersprüchlichkeiten auf den Grund.Diese durchaus kritische Betrachtung behandelt die allgemeine ökonomische, politische und gesellschaftliche Entwicklung Indiens von seiner Unabhängigkeit bis heute. Besondere Aufmerksamkeit erfährt hierbei die Rolle, welche die Einführung eines demokratischen Systems auf die Wirtschaft und das soziale Gefüge des einstigen Entwicklungslandes spielte. Anhand zahlreicher Beispiele und Vergleiche mit anderen Ländern führen die Autoren vor Augen, wie die Vernachlässigung sozialer Probleme letzten Endes gravierende Auswirkungen auf das ökonomische, aber auch politische System des Landes haben konnte.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dieses Buch kann Karin Steinberger all denen empfehlen, die wirklich wissen wollen, wie es in Indien aussieht. Denn was die beiden Ökonomen Amartya Sen und Jean Drèze hier zusammentragen ist schwere Kost. Sehr genau beschreiben sie Gründe und Ursachen für Indiens Armut und Unterentwicklung, das Elend der Mehrheit, mangelnde Bildung, fehlende Gesundheit, Machtlosigkeit und Gewalt gegen Frauen. Mit Schrecken hat die Rezensentin hier dargestellt bekommen, wie sehr die dramatische Lage der Armen in Indien von Politik, Medien und den Mittelschichten ignoriert wird. Sen und Drèze haben ihr Buch mit Wut geschireben, aber auch mit Akribie, erklärt Steinberger, die darin auch ein Manifest erkennt, einen Aufruf zu Protest Einmischung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2015Beschämend
Indien und die Ärmsten
Man hat sich schon daran gewöhnt, Indien mit zweierlei Maß zu messen. Das eine gilt für die glitzernde Welt der Dienstleistungstempel und IT-Unternehmen, die für das beachtliche Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahrzehnte stehen und Indien den Ruf einer aufstrebenden Weltmacht eingebracht haben. Das andere wird in den Slums und ländlichen Gebieten angelegt, wo Mangelernährung und Kindersterblichkeit so allgegenwärtig sind wie in den ärmsten Entwicklungsländern. Das Klischee vom "Land der Widersprüche" hat der krassen sozialen Ungleichheit gar den Anschein des Unabänderlichen gegeben. Ganz so, als bedürfe es keiner Erklärung, warum die Früchte des Booms bei den Ärmsten nicht ankommen.
Gegen diesen in Indien verbreiteten Defätismus richten sich die Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen und Jean Drèze in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch "Indien. Ein Land und seine Widersprüche". Darin diagnostizieren sie "etwas Fehlerhaftes an Indiens Entwicklungsweg", ein kollektives Versagen der Eliten. Weltweit und in historischer Perspektive gebe es, "wenn überhaupt, nur wenige andere Beispiele", in denen ein so rasantes und lang anhaltendes Wachstum so wenig zur Verringerung menschlichen Elends beigetragen habe. Das belegen die Autoren mit einer Vielzahl von - aus indischer Sicht - wenig schmeichelhaften Vergleichen.
In Bangladesch, dem einstigen Armenhaus Asiens, verdient ein Bürger zwar durchschnittlich nur halb so viel wie ein Inder, lebt statistisch aber vier Jahre länger und muss sich weniger Sorgen machen, dass seine Kinder schon vor dem fünften Lebensjahr sterben. Ein weiteres Beispiel: Pakistan steht international am Pranger, weil es der Regierung in Islamabad wegen der häufigen Talibanangriffe auf Impfhelfer nicht gelingt, Polio zu besiegen. Dabei erreicht das Land bei anderen Krankheiten wie Masern und Diphtherie deutlich höhere Impfraten als Indien. Und China, ein Bezugspunkt, bei dem die Eliten in Delhi und Bombay besonders hellhörig werden, vermag es trotz seines undemokratischen Systems weit besser, seinen Bürgern einen gerechten Zugang zu Bildung und Gesundheit zu verschaffen.
Der Nobelpreisträger Sen und sein Schüler Drèze haben ihre Beispiele bewusst so ausgesucht, dass sie für Indien beschämend sind. Ihr Buch ist faktenreiche Analyse und engagierte Streitschrift zugleich. Ihr Argument: Über Jahrzehnte haben indische Regierungen viel zu wenig in das Bildungs- und das Gesundheitssystem investiert und damit die Grundlage dafür gelegt, dass ein Großteil der Armen vom Wirtschaftswachstum kaum oder gar nicht profitiert hat. Ohne eine gesunde und gut ausgebildete Bevölkerung aber fehle Indien die Basis für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Damit richten sich die Autoren gegen die verbreitete These, wonach eine Liberalisierung der indischen Märkte der Schlüssel zu mehr Wachstum sei, das dann automatisch auch den Armen zugutekommen werde. Mit Blick auf Indiens staatliche Programme, die bekannt sind für ihre Ineffizienz und Anfälligkeit für Korruption, fragt sich der Leser, woher die Autoren ihre Hoffnung nehmen, durch mehr Staat mehr Entwicklung zu erreichen. Solchen Zweifeln halten Sen und Drèze Erfolge in den Bundesstaaten Kerala, Tamil Nadu und Himachal Pradesh entgegen, deren positive Entwicklung sie auf ambitionierte staatliche Programme zurückführen.
Indien ist zu Recht stolz auf seine Demokratie, in der die Stimmen der Armen wahlentscheidend sein können. Warum aber haben sie ihr politisches Gewicht nicht in Zugang zu Bildung, Gesundheit und Aufstiegschancen ummünzen können? Sen und Drèze machen dafür die indischen Medien und die politische Klasse verantwortlich, die sich mehr für Raumfahrt und Bollywood als beispielsweise für den skandalösen Mangel an Toiletten interessieren, zu denen nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang hat. Das fast vollständige Ausblenden der Ärmsten - also der Bevölkerungsmehrheit - in öffentlichen Debatten habe zur Folge, dass ein Großteil der staatlichen Mittel in Konsumsubventionen fließe, die vor allem der Mittelschicht zugutekämen.
Der Glaube der Autoren an die Macht des richtigen Diskurses wurde allerdings schon bei der Rezeption des Buches in Indien enttäuscht, das 2013 unter dem Titel "An Uncertain Glory" erschien. In den indischen Medien wurde über das Buch vor allem im Zusammenhang mit einem angeblichen Duell zwischen Amartya Sen und dem an der Columbia-Universität lehrenden Ökonomen Jagdish Bhagwati berichtet, das eigentlich nur aus persönlichen Angriffen Bhagwatis gegen Sen bestand. Der vermeintliche Zweikampf der wirtschaftswissenschaftlichen Giganten las sich wie ein Drama aus Bollywood. Und so gar nicht wie die lösungsorientierte Debattenkultur, die Sen und Drèze jetzt einfordern.
FRIEDERIKE BÖGE
Jean Drèze/Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Verlag C.H. Beck, München 2014. 376 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Indien und die Ärmsten
Man hat sich schon daran gewöhnt, Indien mit zweierlei Maß zu messen. Das eine gilt für die glitzernde Welt der Dienstleistungstempel und IT-Unternehmen, die für das beachtliche Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahrzehnte stehen und Indien den Ruf einer aufstrebenden Weltmacht eingebracht haben. Das andere wird in den Slums und ländlichen Gebieten angelegt, wo Mangelernährung und Kindersterblichkeit so allgegenwärtig sind wie in den ärmsten Entwicklungsländern. Das Klischee vom "Land der Widersprüche" hat der krassen sozialen Ungleichheit gar den Anschein des Unabänderlichen gegeben. Ganz so, als bedürfe es keiner Erklärung, warum die Früchte des Booms bei den Ärmsten nicht ankommen.
Gegen diesen in Indien verbreiteten Defätismus richten sich die Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen und Jean Drèze in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch "Indien. Ein Land und seine Widersprüche". Darin diagnostizieren sie "etwas Fehlerhaftes an Indiens Entwicklungsweg", ein kollektives Versagen der Eliten. Weltweit und in historischer Perspektive gebe es, "wenn überhaupt, nur wenige andere Beispiele", in denen ein so rasantes und lang anhaltendes Wachstum so wenig zur Verringerung menschlichen Elends beigetragen habe. Das belegen die Autoren mit einer Vielzahl von - aus indischer Sicht - wenig schmeichelhaften Vergleichen.
In Bangladesch, dem einstigen Armenhaus Asiens, verdient ein Bürger zwar durchschnittlich nur halb so viel wie ein Inder, lebt statistisch aber vier Jahre länger und muss sich weniger Sorgen machen, dass seine Kinder schon vor dem fünften Lebensjahr sterben. Ein weiteres Beispiel: Pakistan steht international am Pranger, weil es der Regierung in Islamabad wegen der häufigen Talibanangriffe auf Impfhelfer nicht gelingt, Polio zu besiegen. Dabei erreicht das Land bei anderen Krankheiten wie Masern und Diphtherie deutlich höhere Impfraten als Indien. Und China, ein Bezugspunkt, bei dem die Eliten in Delhi und Bombay besonders hellhörig werden, vermag es trotz seines undemokratischen Systems weit besser, seinen Bürgern einen gerechten Zugang zu Bildung und Gesundheit zu verschaffen.
Der Nobelpreisträger Sen und sein Schüler Drèze haben ihre Beispiele bewusst so ausgesucht, dass sie für Indien beschämend sind. Ihr Buch ist faktenreiche Analyse und engagierte Streitschrift zugleich. Ihr Argument: Über Jahrzehnte haben indische Regierungen viel zu wenig in das Bildungs- und das Gesundheitssystem investiert und damit die Grundlage dafür gelegt, dass ein Großteil der Armen vom Wirtschaftswachstum kaum oder gar nicht profitiert hat. Ohne eine gesunde und gut ausgebildete Bevölkerung aber fehle Indien die Basis für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Damit richten sich die Autoren gegen die verbreitete These, wonach eine Liberalisierung der indischen Märkte der Schlüssel zu mehr Wachstum sei, das dann automatisch auch den Armen zugutekommen werde. Mit Blick auf Indiens staatliche Programme, die bekannt sind für ihre Ineffizienz und Anfälligkeit für Korruption, fragt sich der Leser, woher die Autoren ihre Hoffnung nehmen, durch mehr Staat mehr Entwicklung zu erreichen. Solchen Zweifeln halten Sen und Drèze Erfolge in den Bundesstaaten Kerala, Tamil Nadu und Himachal Pradesh entgegen, deren positive Entwicklung sie auf ambitionierte staatliche Programme zurückführen.
Indien ist zu Recht stolz auf seine Demokratie, in der die Stimmen der Armen wahlentscheidend sein können. Warum aber haben sie ihr politisches Gewicht nicht in Zugang zu Bildung, Gesundheit und Aufstiegschancen ummünzen können? Sen und Drèze machen dafür die indischen Medien und die politische Klasse verantwortlich, die sich mehr für Raumfahrt und Bollywood als beispielsweise für den skandalösen Mangel an Toiletten interessieren, zu denen nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang hat. Das fast vollständige Ausblenden der Ärmsten - also der Bevölkerungsmehrheit - in öffentlichen Debatten habe zur Folge, dass ein Großteil der staatlichen Mittel in Konsumsubventionen fließe, die vor allem der Mittelschicht zugutekämen.
Der Glaube der Autoren an die Macht des richtigen Diskurses wurde allerdings schon bei der Rezeption des Buches in Indien enttäuscht, das 2013 unter dem Titel "An Uncertain Glory" erschien. In den indischen Medien wurde über das Buch vor allem im Zusammenhang mit einem angeblichen Duell zwischen Amartya Sen und dem an der Columbia-Universität lehrenden Ökonomen Jagdish Bhagwati berichtet, das eigentlich nur aus persönlichen Angriffen Bhagwatis gegen Sen bestand. Der vermeintliche Zweikampf der wirtschaftswissenschaftlichen Giganten las sich wie ein Drama aus Bollywood. Und so gar nicht wie die lösungsorientierte Debattenkultur, die Sen und Drèze jetzt einfordern.
FRIEDERIKE BÖGE
Jean Drèze/Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Verlag C.H. Beck, München 2014. 376 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Präzise und durchweg überzeugende Studie."
Patrick Hesse, Sehepunkte, 12/2015
"Ein umfassendes, wichtiges Buch (...), das eine tiefgreifende Analyse mit anschaulichen Beispielen und zukunftsweisenden Handlungsoptionen verbindet."
Markus Spörndli, Die Wochenzeitung, 22. Januar 2015
"Amartya Sen und Jean Drèze verkörpern so etwas wie das moralische Gewissen der indischen Nation." Claudia Kramatschek, Südwestrundfunk, 30. November 2014
"Drèze und Sen haben ihr Buch gegen den Hype um das Wirtschaftswunderland und die kommende Supermacht Indien geschrieben"
Jan Ross, die Zeit, 1. Oktober 2014
"Ein leidenschaftliches und fundiertes Plädoyer für die Weiterentwicklung und Stärkung des indischen Sozialstaates."
Edda Kirleis, Südasien 01/2014
"Das Material, das Drèze und Sen präsentieren, ist sachlich dargestellt, Argumente und Ansichten werden abgewogen, das beeindruckt tiefer als jede Sensationsmache."
Martin Kämpchen, Meine Welt, Sommer 2015
"[Ein] Schlüssel zum Verständnis des heutigen Indien."
Thomas Speckmann, Tagesspiegel, 22. Juli 2015
"Ein so spannendes wie ambitiöses Unterfangen."
Gunther Neumann, Wiener Zeitung, 25. April 2015
"Dieses Buch ist ein hochemotionales Manifest, ein Appell für die Kultur des Protestierens und des sich Einmischens."
Karin Steinberger, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2015
"Sachlich kompetente Bücher über Indien sind immer rar gewesen. (...) Hier ist aber ein solches Buch gelungen."
Frankfurter Allgemeine, 28. Februar 2015
"Materialreich und immer wieder verblüffend."
Barbara Wahlster, Deutschlandradio Kultur, 6. Februar 2015
"Die Verhältnisse sind skandalös. Das Buch macht dies mit reichlich Zahlenwerk und plausiblen Schlussfolgerungen deutlich, ohne zu verschweigen, dass Wandel durch konstruktives Handeln möglich wäre."
Shirin Sojitrawalla, TAZ, 30. Januar 2015
Patrick Hesse, Sehepunkte, 12/2015
"Ein umfassendes, wichtiges Buch (...), das eine tiefgreifende Analyse mit anschaulichen Beispielen und zukunftsweisenden Handlungsoptionen verbindet."
Markus Spörndli, Die Wochenzeitung, 22. Januar 2015
"Amartya Sen und Jean Drèze verkörpern so etwas wie das moralische Gewissen der indischen Nation." Claudia Kramatschek, Südwestrundfunk, 30. November 2014
"Drèze und Sen haben ihr Buch gegen den Hype um das Wirtschaftswunderland und die kommende Supermacht Indien geschrieben"
Jan Ross, die Zeit, 1. Oktober 2014
"Ein leidenschaftliches und fundiertes Plädoyer für die Weiterentwicklung und Stärkung des indischen Sozialstaates."
Edda Kirleis, Südasien 01/2014
"Das Material, das Drèze und Sen präsentieren, ist sachlich dargestellt, Argumente und Ansichten werden abgewogen, das beeindruckt tiefer als jede Sensationsmache."
Martin Kämpchen, Meine Welt, Sommer 2015
"[Ein] Schlüssel zum Verständnis des heutigen Indien."
Thomas Speckmann, Tagesspiegel, 22. Juli 2015
"Ein so spannendes wie ambitiöses Unterfangen."
Gunther Neumann, Wiener Zeitung, 25. April 2015
"Dieses Buch ist ein hochemotionales Manifest, ein Appell für die Kultur des Protestierens und des sich Einmischens."
Karin Steinberger, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2015
"Sachlich kompetente Bücher über Indien sind immer rar gewesen. (...) Hier ist aber ein solches Buch gelungen."
Frankfurter Allgemeine, 28. Februar 2015
"Materialreich und immer wieder verblüffend."
Barbara Wahlster, Deutschlandradio Kultur, 6. Februar 2015
"Die Verhältnisse sind skandalös. Das Buch macht dies mit reichlich Zahlenwerk und plausiblen Schlussfolgerungen deutlich, ohne zu verschweigen, dass Wandel durch konstruktives Handeln möglich wäre."
Shirin Sojitrawalla, TAZ, 30. Januar 2015