Die vorliegende Auswahl der kleineren soziologischen Abhandlungen Simmels soll zum einen die Bandbreite der von Simmel angesprochenen Themen widerspiegeln und zum anderen seine verschiedenen theoretischen Zugänge - Simmel spricht in diesem Zusammenhang von »Soziologien« - aufzeigen: Die »Allgemeine Soziologie«, die sich mit Fragen der Gesellschaft und besonders mit den prinzipiellen Relationen zwischen den einzelnen und den aus ihnen gebildeten sozialen Aggregaten beschäftigt; die »Reine oder Formale Soziologie«, die die Formen analysiert, mit denen die Individuen, um die Inhalte (Triebe und Zwecke) umzusetzen, in Wechselwirkung mit anderen treten müssen - und dadurch Gesellschaft konstituieren; und schließlich die »Philosophische Soziologie«, die einerseits die Erkenntnistheorie beinhaltet, andererseits durch Hypothese und Spekulation den unvermeidlich fragmentarischen Charakter jeder Empirie zu einem geschlossenen Gesamtbild zu ergänzen versucht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2008Je größer die Party, desto tiefer das Dekolleté
Vor einhundertfünfzig Jahren wurde der große Soziologe und Philosoph Georg Simmel in Berlin geboren, vor einhundert Jahren erschien sein Hauptwerk, und jetzt steht auch die Gesamtausgabe seiner Werke vor dem Abschluss
Der Extraordinarius war nicht erwünscht. Als die 1810 gegründete Berliner Universität ihr hundertjähriges Jubiläum beging, fand das Festbankett des Lehrkörpers ohne Georg Simmel statt. Ausgerechnet der große Theoretiker der Geselligkeit, in dessen Soziologie sich fast alles um Fragen der sozialen Verkehrsformen dreht, hatte keine Einladung zum Diner erhalten. Im "Berliner Tageblatt" vom 10. Oktober 1910, einer Sondernummer zum Jubiläum, veröffentlichte der außerordentliche Professor, der anders als mancher ordentliche für ein großes Publikum zu schreiben vermochte, seine Antwort unter dem Titel "Soziologie der Mahlzeit". Erster Satz: "Es gehört zu den Verhängnissen des sozialen Daseins, dass die Wesenselemente, die allen Individuen eines beliebigen Kreises gleichmäßig einwohnen, sich fast niemals als die höchsten, oft aber als die niedrigsten Antriebe und Interessen dieser Individuen offenbaren." Das Niveau, auf dem sich alle begegnen können, muss niedrig sein.
Das Gemeinsamste der Menschen aber, fährt Simmel fort, ist, dass sie essen und trinken müssen. Von diesem mit Ironie versetzten Beginn aus entwickelt er seine These vom Paradox des gemeinsamen Essens: Das Allergemeinsamste der Menschen sei zugleich die selbstsüchtigste Tätigkeit. Man kann sehen, was die anderen sehen, Gedanken mitteilen, dasselbe hören wie der Mitmensch, "aber was der einzelne isst, kann unter keinen Umständen ein anderer essen". Die gemeinsame Mahlzeit ist für Simmel insofern eine Kulturleistung ersten Ranges, weil sie aus geteilter Asozialität etwas Soziales macht.
Wer wissen möchte, was Soziologie ist, was sie jedenfalls sein kann, der sollte Simmels "Soziologie der Mahlzeit" lesen. Oder seine "Psychologie der Mode", den Aufsatz über die "Gesellschaft zu zweien", den "Exkurs über die Soziologie der Sinne", seine "Philosophie der Landschaft" oder das Stück über "Der Mensch als Feind", allesamt jetzt enthalten in zwei klug zusammengestellten und kommentierten Auswahlbänden, die aus Anlass des 150. Geburtstags ihres Autors gerade im Suhrkamp-Verlag erschienen sind. Und wenn der Leser dann anhand dieser Proben ahnt, dass er hier womöglich dem gedankenreichsten Autor der jüngeren Ideengeschichte begegnet, dann mag er sich auch der großen, von Otthein Rammstedt herausgegebenen Simmel-Ausgabe in 24 Bänden zuwenden, einer editorischen Tat, die gar nicht genug gelobt werden kann. Mit Simmels Briefen aus seinen letzten Jahren steht sie jetzt vor ihrem Abschluss.
Zurück zu Tisch: Die Teller seien rund, heißt es in Simmels Festbankettschrift, weil das die in sich abgeschlossenste, der Konzentration des Essers auf sich selbst am besten angemessene Form sei. Die Teller seien aber, in einem Haushalt, der auf sich hält, auch gleichartig und gleichfarbig, weil die soziale Ordnung der Mahlzeit den Individualismus zu bezwingen hat; so, wie auch die Tischunterhaltung, "wenn sie im Stil bleiben will", bei allgemeinen Gegenständen und an der Oberfläche bleiben sollte. Solche Beschreibungen zeigen exemplarisch Simmels Begabung und fast möchte man sagen: seine philosophische Technik, in allem Gegensätze aufzuspüren, jede soziale Form als Ergebnis eines Widerspruchs zu deuten. Seine berühmte Soziologie des Fremden ist die einer Figur, die bleibt, obwohl sie nicht dazugehört, und dazugehört, obwohl sie nicht aufgenommen wird. Seine Deutung der Liebe bewegt, dass die Partner etwas als einzigartig erleben, wovon sie doch zugleich wissen, wie sehr es ein allgemeinmenschliches Geschehen ist. Seine Soziologie der Feindschaft hebt damit an, "daß die Menschen sich niemals um solcher Kleinigkeiten und Nichtigkeiten willen lieben, wie sie sich hassen", dass also Regungen, an deren Ende Vernichtungswille stehen mag, sich oft an so gut wie nichts entzünden. Oder nehmen wir eine Beobachtung aus der "Soziologie der Geselligkeit" wie die, dass die Damen unbefangen tief dekolletiert nur in großer Gesellschaft erscheinen können, aber nicht im persönlichen Zusammensein. Freiheit und Individualität sind nicht dasselbe, es gibt auch Freiheiten, die nur ergreift und genießt, wer sich damit nicht als Individuum engagiert fühlen muss.
Auf jeder Seite stehen bei Simmel solche Beobachtungen. Den Zugang zu ihnen hat erschwert, dass er als Autor allenfalls im Schriftbild, aber nie in Gedanken einen Absatz macht. Dem Strom des Lebens und seiner Erscheinungen wusste er sich auch stilistisch verpflichtet. Aber dafür sind seine Essays kurz, und jeder von ihnen enthält, wenn man nur genau liest, ein glasklares Argument. Die Freude, Simmel zu lesen, ist auch eine darüber, dass noch längst nicht alle intellektuellen Schätze entdeckt und gehoben sind. Hat schon einmal jemand etwas aus seiner sinnessoziologischen Beobachtung gemacht, dass es für Menschen viel leichter ist, gleichzeitig dasselbe zu hören als dasselbe zu sehen - "man vergleiche ein Museumspublikum mit einem Konzertpublikum" -, dass aber alle Menschen gleichzeitig den Himmel sehen können? Eine ganze Religionssoziologie steckt in diesem Satz.
Doch weshalb war Simmel nicht zum akademischen Festmahl gebeten worden? Nicht etwa, weil er damals ein wissenschaftlicher Außenseiter gewesen wäre. Seine Vorlesungen waren überlaufen, sein Einfluss auf das entstehende Fach der Soziologie war beträchtlich, er saß im Präsidium der Fachgesellschaft, 1892 schon hatte er einen Ruf auf einen soziologischen Lehrstuhl an der Northwestern University in Chicago erhalten. Zahllose Aufsätze und sechs Bücher standen auf seiner Publikationsliste, darunter die "Philosophie des Geldes" von 1900 - ein achthundertseitiges Trumm, das als Kulturtheorie des voll entfalteten Kapitalismus die Arbeiten Max Webers in den Schatten stellt - und seine große "Soziologie" von 1908.
Allerdings war gerade die Soziologie ein Problem. Zwei Anläufe hatte Simmel benötigt, um in Berlin auch nur zum unbesoldeten Philosophieprofessor ernannt zu werden. Dabei spielten jene antisemitischen Vorbehalte, die ihn 1908 aufgrund eines widerwärtigen Gutachtens des Historikers Dietrich Schäfer den Ruf an die Universität Heidelberg gekostet hatten, eine Rolle. Damen und die orientalische Welt seien in seiner universitären Hörerschaft stark vertreten. Dabei ging es aber auch um die Assoziation von Soziologie mit Sozialismus, die damals im Schwange war. Außerdem erkannten die Zeitgenossen nicht, wie viel Systematik und Begriffsarbeit in den wie philosophische Feuilletons wirkenden Abhandlungen steckt. Das Vorurteil des Schöngeistigen und bloß Geistreichen begleitete sein Werk.
Wie wenig es ihm entsprach, das lässt sich nicht nur der "Soziologie" von 1908 entnehmen, einem Werk, das bis heute von dem Fach, das sich so nennt, nicht ausgeschöpft ist. In einem Brief aus seinem letzten Lebensjahr an den Grafen Keyserling gibt Simmel auch der Verachtung Ausdruck, die er selber für alles bloß Schöngeistige hatte. Über den Ersten Weltkrieg, den er zunächst begrüßt hatte, heißt es da: "bin überzeugt, dass der Zeiger der Weltgeschichte sich nach Westen dreht, wie er schon einmal von Asien nach Europa gerückt ist; bin überzeugt, dass in irgend welcher Zeit Europa für Amerika sein wird, was Athen für die späteren Römer - ein Reiseziel für kulturbedürftige Jünglinge, voll von interessanten Ruinen u. großen Erinnerungen, Lieferant für Künstler, Gelehrte u. Klugschwätzer." Es sei sein Irrtum gewesen, an ein Ende der "entsetzlichen Epoche des Maschinenzeitalters u. der ausschließlich kapitalistischen Wertungen" durch den Krieg und eine "neue Geistigkeit" geglaubt zu haben.
Simmel, der am 26. September 1918 in Straßburg starb, blieb eine noch entsetzlichere Epoche erspart. Bis heute aber steht sein Werk selber da wie eine interessante Ruine, die von Kultur- oder Zitatbedürftigen gern besucht wird. Mit dem Abschluss der Werkausgabe sollte die Zeit gekommen sein, den bedeutendsten unter den soziologischen Klassikern endlich systematisch ernst zu nehmen.
JÜRGEN KAUBE
Georg Simmel: "Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen". 394 Seiten, 14 Euro; "Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie". 437 Seiten, 15 Euro; Gesamtausgabe, Band 23: Briefe 1912 bis 1918 und Jugendbriefe. 1241 Seiten, 72 Euro. Alle im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2008
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor einhundertfünfzig Jahren wurde der große Soziologe und Philosoph Georg Simmel in Berlin geboren, vor einhundert Jahren erschien sein Hauptwerk, und jetzt steht auch die Gesamtausgabe seiner Werke vor dem Abschluss
Der Extraordinarius war nicht erwünscht. Als die 1810 gegründete Berliner Universität ihr hundertjähriges Jubiläum beging, fand das Festbankett des Lehrkörpers ohne Georg Simmel statt. Ausgerechnet der große Theoretiker der Geselligkeit, in dessen Soziologie sich fast alles um Fragen der sozialen Verkehrsformen dreht, hatte keine Einladung zum Diner erhalten. Im "Berliner Tageblatt" vom 10. Oktober 1910, einer Sondernummer zum Jubiläum, veröffentlichte der außerordentliche Professor, der anders als mancher ordentliche für ein großes Publikum zu schreiben vermochte, seine Antwort unter dem Titel "Soziologie der Mahlzeit". Erster Satz: "Es gehört zu den Verhängnissen des sozialen Daseins, dass die Wesenselemente, die allen Individuen eines beliebigen Kreises gleichmäßig einwohnen, sich fast niemals als die höchsten, oft aber als die niedrigsten Antriebe und Interessen dieser Individuen offenbaren." Das Niveau, auf dem sich alle begegnen können, muss niedrig sein.
Das Gemeinsamste der Menschen aber, fährt Simmel fort, ist, dass sie essen und trinken müssen. Von diesem mit Ironie versetzten Beginn aus entwickelt er seine These vom Paradox des gemeinsamen Essens: Das Allergemeinsamste der Menschen sei zugleich die selbstsüchtigste Tätigkeit. Man kann sehen, was die anderen sehen, Gedanken mitteilen, dasselbe hören wie der Mitmensch, "aber was der einzelne isst, kann unter keinen Umständen ein anderer essen". Die gemeinsame Mahlzeit ist für Simmel insofern eine Kulturleistung ersten Ranges, weil sie aus geteilter Asozialität etwas Soziales macht.
Wer wissen möchte, was Soziologie ist, was sie jedenfalls sein kann, der sollte Simmels "Soziologie der Mahlzeit" lesen. Oder seine "Psychologie der Mode", den Aufsatz über die "Gesellschaft zu zweien", den "Exkurs über die Soziologie der Sinne", seine "Philosophie der Landschaft" oder das Stück über "Der Mensch als Feind", allesamt jetzt enthalten in zwei klug zusammengestellten und kommentierten Auswahlbänden, die aus Anlass des 150. Geburtstags ihres Autors gerade im Suhrkamp-Verlag erschienen sind. Und wenn der Leser dann anhand dieser Proben ahnt, dass er hier womöglich dem gedankenreichsten Autor der jüngeren Ideengeschichte begegnet, dann mag er sich auch der großen, von Otthein Rammstedt herausgegebenen Simmel-Ausgabe in 24 Bänden zuwenden, einer editorischen Tat, die gar nicht genug gelobt werden kann. Mit Simmels Briefen aus seinen letzten Jahren steht sie jetzt vor ihrem Abschluss.
Zurück zu Tisch: Die Teller seien rund, heißt es in Simmels Festbankettschrift, weil das die in sich abgeschlossenste, der Konzentration des Essers auf sich selbst am besten angemessene Form sei. Die Teller seien aber, in einem Haushalt, der auf sich hält, auch gleichartig und gleichfarbig, weil die soziale Ordnung der Mahlzeit den Individualismus zu bezwingen hat; so, wie auch die Tischunterhaltung, "wenn sie im Stil bleiben will", bei allgemeinen Gegenständen und an der Oberfläche bleiben sollte. Solche Beschreibungen zeigen exemplarisch Simmels Begabung und fast möchte man sagen: seine philosophische Technik, in allem Gegensätze aufzuspüren, jede soziale Form als Ergebnis eines Widerspruchs zu deuten. Seine berühmte Soziologie des Fremden ist die einer Figur, die bleibt, obwohl sie nicht dazugehört, und dazugehört, obwohl sie nicht aufgenommen wird. Seine Deutung der Liebe bewegt, dass die Partner etwas als einzigartig erleben, wovon sie doch zugleich wissen, wie sehr es ein allgemeinmenschliches Geschehen ist. Seine Soziologie der Feindschaft hebt damit an, "daß die Menschen sich niemals um solcher Kleinigkeiten und Nichtigkeiten willen lieben, wie sie sich hassen", dass also Regungen, an deren Ende Vernichtungswille stehen mag, sich oft an so gut wie nichts entzünden. Oder nehmen wir eine Beobachtung aus der "Soziologie der Geselligkeit" wie die, dass die Damen unbefangen tief dekolletiert nur in großer Gesellschaft erscheinen können, aber nicht im persönlichen Zusammensein. Freiheit und Individualität sind nicht dasselbe, es gibt auch Freiheiten, die nur ergreift und genießt, wer sich damit nicht als Individuum engagiert fühlen muss.
Auf jeder Seite stehen bei Simmel solche Beobachtungen. Den Zugang zu ihnen hat erschwert, dass er als Autor allenfalls im Schriftbild, aber nie in Gedanken einen Absatz macht. Dem Strom des Lebens und seiner Erscheinungen wusste er sich auch stilistisch verpflichtet. Aber dafür sind seine Essays kurz, und jeder von ihnen enthält, wenn man nur genau liest, ein glasklares Argument. Die Freude, Simmel zu lesen, ist auch eine darüber, dass noch längst nicht alle intellektuellen Schätze entdeckt und gehoben sind. Hat schon einmal jemand etwas aus seiner sinnessoziologischen Beobachtung gemacht, dass es für Menschen viel leichter ist, gleichzeitig dasselbe zu hören als dasselbe zu sehen - "man vergleiche ein Museumspublikum mit einem Konzertpublikum" -, dass aber alle Menschen gleichzeitig den Himmel sehen können? Eine ganze Religionssoziologie steckt in diesem Satz.
Doch weshalb war Simmel nicht zum akademischen Festmahl gebeten worden? Nicht etwa, weil er damals ein wissenschaftlicher Außenseiter gewesen wäre. Seine Vorlesungen waren überlaufen, sein Einfluss auf das entstehende Fach der Soziologie war beträchtlich, er saß im Präsidium der Fachgesellschaft, 1892 schon hatte er einen Ruf auf einen soziologischen Lehrstuhl an der Northwestern University in Chicago erhalten. Zahllose Aufsätze und sechs Bücher standen auf seiner Publikationsliste, darunter die "Philosophie des Geldes" von 1900 - ein achthundertseitiges Trumm, das als Kulturtheorie des voll entfalteten Kapitalismus die Arbeiten Max Webers in den Schatten stellt - und seine große "Soziologie" von 1908.
Allerdings war gerade die Soziologie ein Problem. Zwei Anläufe hatte Simmel benötigt, um in Berlin auch nur zum unbesoldeten Philosophieprofessor ernannt zu werden. Dabei spielten jene antisemitischen Vorbehalte, die ihn 1908 aufgrund eines widerwärtigen Gutachtens des Historikers Dietrich Schäfer den Ruf an die Universität Heidelberg gekostet hatten, eine Rolle. Damen und die orientalische Welt seien in seiner universitären Hörerschaft stark vertreten. Dabei ging es aber auch um die Assoziation von Soziologie mit Sozialismus, die damals im Schwange war. Außerdem erkannten die Zeitgenossen nicht, wie viel Systematik und Begriffsarbeit in den wie philosophische Feuilletons wirkenden Abhandlungen steckt. Das Vorurteil des Schöngeistigen und bloß Geistreichen begleitete sein Werk.
Wie wenig es ihm entsprach, das lässt sich nicht nur der "Soziologie" von 1908 entnehmen, einem Werk, das bis heute von dem Fach, das sich so nennt, nicht ausgeschöpft ist. In einem Brief aus seinem letzten Lebensjahr an den Grafen Keyserling gibt Simmel auch der Verachtung Ausdruck, die er selber für alles bloß Schöngeistige hatte. Über den Ersten Weltkrieg, den er zunächst begrüßt hatte, heißt es da: "bin überzeugt, dass der Zeiger der Weltgeschichte sich nach Westen dreht, wie er schon einmal von Asien nach Europa gerückt ist; bin überzeugt, dass in irgend welcher Zeit Europa für Amerika sein wird, was Athen für die späteren Römer - ein Reiseziel für kulturbedürftige Jünglinge, voll von interessanten Ruinen u. großen Erinnerungen, Lieferant für Künstler, Gelehrte u. Klugschwätzer." Es sei sein Irrtum gewesen, an ein Ende der "entsetzlichen Epoche des Maschinenzeitalters u. der ausschließlich kapitalistischen Wertungen" durch den Krieg und eine "neue Geistigkeit" geglaubt zu haben.
Simmel, der am 26. September 1918 in Straßburg starb, blieb eine noch entsetzlichere Epoche erspart. Bis heute aber steht sein Werk selber da wie eine interessante Ruine, die von Kultur- oder Zitatbedürftigen gern besucht wird. Mit dem Abschluss der Werkausgabe sollte die Zeit gekommen sein, den bedeutendsten unter den soziologischen Klassikern endlich systematisch ernst zu nehmen.
JÜRGEN KAUBE
Georg Simmel: "Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen". 394 Seiten, 14 Euro; "Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie". 437 Seiten, 15 Euro; Gesamtausgabe, Band 23: Briefe 1912 bis 1918 und Jugendbriefe. 1241 Seiten, 72 Euro. Alle im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2008
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