Der Kinderheld Jose, der sich der Kleine König nennt, lebt in den Favelas von Rio de Janeiro: ein emotionaler Krüppel, im Innern tief verletzt durch die Prügel seiner Mutter; ein unfertiger Mann; ein Pragmatiker, der in die Welt hinausdrängt. Er möchte irgendwo dazugehören, wo er Halt und Anerkennung bekommt, und so gerät er in eine Welt der Gewalt. Denn in den brutalen und armen Favelas gibt es nichts anderes ...
Der Titel erinnert an Dante, und Patrícia Melo beschreibt die Stadt als einen Kreis der Hölle, in dem Mord, Vergewaltigung und Folter zum Alltag gehören, wo das Entsetzliche normal ist. Wie in der brutalen Eingangsszene: Gewalt geschieht nebenbei, mit einem Achselzucken. Joses Boß schießt ihm, um ihn wegen seiner Unaufmerksamkeit zu strafen, durch die Hand.
In diesem Roman gibt es keine Moral. Ein Verbrecher zu werden ist die logische Antwort auf das Pech, in diese Welt hineingeboren zu sein.
Der Titel erinnert an Dante, und Patrícia Melo beschreibt die Stadt als einen Kreis der Hölle, in dem Mord, Vergewaltigung und Folter zum Alltag gehören, wo das Entsetzliche normal ist. Wie in der brutalen Eingangsszene: Gewalt geschieht nebenbei, mit einem Achselzucken. Joses Boß schießt ihm, um ihn wegen seiner Unaufmerksamkeit zu strafen, durch die Hand.
In diesem Roman gibt es keine Moral. Ein Verbrecher zu werden ist die logische Antwort auf das Pech, in diese Welt hineingeboren zu sein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2004In den Favelas von Florenz
Die Hölle war früher besser: Patricia Melos telegenes Elends-Epos
"Sonne, Läuse, Betrüger, anständige Leute, Lumpen, Fliegen, Fernsehen, Spekulanten, Sonne, Plastikteile, Unwetter, alle möglichen Sorten Plunder, Rap, Sonne, Müll", prangt in finsterer Farbe am Eingang zur Stadt der Verdammten. Wenn die brasilianische Schriftstellerin Patricia Melo sich, insofern man der literarischen Referenz ihres Romantitels Glauben schenkt, mit dem Lorbeer Vergils kränzt, um uns als Führerin die Schlünde ihres "Inferno" zu eröffnen, so mit einer offenkundigen Absicht: den Leser auf dieselbe Erkenntnis zu stoßen, die den Dichter Dante sieben Jahrhunderte zuvor am Tor seiner città dolente in ungleich knapperer Prägnanz schrecken mußte: "Laß, der du eintrittst, alle Hoffnung fahren."
Daß im vierten Roman der jungen Erfolgsautorin anstelle der Ehebrecherin Francesca da Rimini oder der frevelnden Päpste und Könige des Abendlands mordende Drogenhändler, karnevalssüchtige Müllmänner und vom Pastor geschwängerte Betweiber des Elendsviertels auf dem Berimbau-Hügel in Rio de Janeiro die ewige Verdammnis erleiden, mag das Lokalkolorit ändern. Hinter den zeitlichen Kulissen scheinen die ewig gleichen Gesetze zu funktionieren: Machtgier, Untreue, Größenwahn. Im Bösen-Graben schmoren damals wie heute die Kuppler, Verführer, Schmeichler, die Fälscher des Geldes und der Worte, gleich als ob Florenz eine berüchtigte Favela Rio de Janeiros sei.
Doch der Vergleich hinkt. Anders als die durch Gottes Gerechtigkeit Verdammten trifft die in der höllisch-tropischen Hitze des Morro do Berimbau schmorenden Drogenmonarchen kaum die volle Schuld an ihrer Pein. José Luis, genannt Reizinho, portugiesisch für "kleiner König", ist einer von denjenigen, deren größte Sünde, wie Calderón es nennen würde, bereits darin besteht, geboren zu sein. Schon im halbwüchsigen Alter ist er, geschunden im Äußersten wie im Innersten durch die Schläge der Mutter, vereinsamt mangels eines Vater, erniedrigt vom brutalen Drogenbaron Miltão, für den Weg ins Verderben bestimmt. Dennoch gelingt es ihm in einer eigenartigen Mischung aus Skrupellosigkeit, Brutalität und Zärtlichkeit, seinem Namen gemäß zum König des Elendshügels heranzuwachsen. Erst räumt er, vom kleinen Drogenkurier zum engsten Vertrauten avanciert, seinen für die Favela zur Plage gewordenen Lehnsherrn Miltão aus dem Weg. Dann gelingt es ihm, die Liebe von Marta zu erringen, der Tochter des Drogenfürsten Zeiquinha Bigode aus dem benachbarten Slum Morro dos Marrecos: bis er auch diesen beseitigt. Inmitten einer postmodern-globalisierten Wüste von Samba- und Rap-Rhythmen, Schweizer Präzisionsgewehren, Plastikschlappen, Coca-Cola-Büchsen und allerlei Körpergerüchen steigt er zum Feudalherrn auf, flankiert stets von Marta, seiner kaugummikauenden Königin, und einem Rudel Straßenhunde, die sein getreues Gefolge bilden. Nach und nach aber fallen der explodierenden Gewalt in der Favela ebenso Freunde wie Feinde zum Opfer, bis Reizinho entmachtet der Armseligkeit seiner Existenz ins Auge blicken muß - und der Sinnlosigkeit des Machtkampfs in einer Hölle, die Herrscher wie Beherrschte gnadenlos hinabzieht.
In grellen Farben und Tönen lockt und ekelt das Inferno des Berimbau. "Der Roman liest sich wie das Drehbuch zum Film ,City of God'", so preist der Verlag reißerisch seine Erscheinung an. Bedenklich ist daran nicht zuletzt, daß dieser auf den Kinoerfolg von Fernando Meireilles schielende Marketingslogan durchaus zutreffend ist. "Inferno" ist für eine Verfilmung geradezu maßgeschneidert, reiht sich mit täuschender Ähnlichkeit in die im lateinamerikanischen Kino derzeit modische Tendenz ein, das Elend der Straßen zum Thema kruder Reality-Streifen zu machen. Eine Ästhetik, die in Brasilien trotz kritischer Ansätze oft unter dem Einfluß der allgegenwärtigen Präsentation urbaner Gewalt im Fernsehen steht.
Auf cineastischer Seite haben sich Regisseure wie José Padilha mit seinem großartigen Dokumentarfilm "Ônibus 174" von einer die Gewalt lediglich darstellenden Sicht distanziert, um ihre tieferen Ursachen, aber gerade auch ihre Ausbeutung durch die Medien zu hinterfragen. Melos Slum-Drama aber fehlt diese Distanz. Ob es die Bemühungen des Dealerkönigs Reizinho sind, aus Mitteln des Drogenhandels die mangelhafte staatliche Sozial- und Infrastruktur zu ersetzen, oder die Ablehnung, die einem amerikanischen Filmproduzenten zuteil wird, welcher die pittoreske Armut der Favelas zum Thema eines Hochglanz-Werbespots macht - zu wirklich tiefgehender Analyse kommt es nicht. Vielmehr ergibt sich der Effekt einer hyperrealistischen Mischform aus Erzähltext, Dokudrama und Sozialchronik - und eben dadurch die Nähe zu einer fernsehtauglichen Ästhetik.
Traurig ist am Vergleich mit "City of God" jedoch noch etwas ganz anderes, nämlich daß dieser Film tatsächlich einen exzellenten und mit spezifisch literarischen Mitteln operierenden Roman zur Vorlage hat, "Cidade de Deus" von Paulo Lins. Der Titel bezeichnet eine Favela von Rio, in welcher der Autor selbst groß geworden ist - im Gegensatz zu Patricia Melo, die die Hölle wie Dante und Vergil nur als Besucherin betritt. Grausam ironische Koinzidenz: der Name des Elendsviertels ist die portugiesische Form der "Civitas Dei", Augustinus' Vision vom idealen "Gottesstaat". Vielleicht ist dieser metaphorische doppelte Boden ebendas, was dem mit journalistischem Fleiß erarbeiteten Roman Patricia Melos mit seinem bemühten Dante-Bezug abgeht. Daß auf deutsch anstelle der wirklichen Vorlage dieses Buch als "Roman zum Film" verlegt wird, mutet befremdlich an. In diesem Herbst wird der Roman Paulo Lins' aber endlich unter dem Titel "Die Stadt Gottes" im kleinen Blumenbar Verlag erscheinen.
FLORIAN BORCHMEYER
Patricia Melo: "Inferno". Roman. Aus dem Brasilianischen übersetzt von Barbara Mesquita. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003. 400 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Hölle war früher besser: Patricia Melos telegenes Elends-Epos
"Sonne, Läuse, Betrüger, anständige Leute, Lumpen, Fliegen, Fernsehen, Spekulanten, Sonne, Plastikteile, Unwetter, alle möglichen Sorten Plunder, Rap, Sonne, Müll", prangt in finsterer Farbe am Eingang zur Stadt der Verdammten. Wenn die brasilianische Schriftstellerin Patricia Melo sich, insofern man der literarischen Referenz ihres Romantitels Glauben schenkt, mit dem Lorbeer Vergils kränzt, um uns als Führerin die Schlünde ihres "Inferno" zu eröffnen, so mit einer offenkundigen Absicht: den Leser auf dieselbe Erkenntnis zu stoßen, die den Dichter Dante sieben Jahrhunderte zuvor am Tor seiner città dolente in ungleich knapperer Prägnanz schrecken mußte: "Laß, der du eintrittst, alle Hoffnung fahren."
Daß im vierten Roman der jungen Erfolgsautorin anstelle der Ehebrecherin Francesca da Rimini oder der frevelnden Päpste und Könige des Abendlands mordende Drogenhändler, karnevalssüchtige Müllmänner und vom Pastor geschwängerte Betweiber des Elendsviertels auf dem Berimbau-Hügel in Rio de Janeiro die ewige Verdammnis erleiden, mag das Lokalkolorit ändern. Hinter den zeitlichen Kulissen scheinen die ewig gleichen Gesetze zu funktionieren: Machtgier, Untreue, Größenwahn. Im Bösen-Graben schmoren damals wie heute die Kuppler, Verführer, Schmeichler, die Fälscher des Geldes und der Worte, gleich als ob Florenz eine berüchtigte Favela Rio de Janeiros sei.
Doch der Vergleich hinkt. Anders als die durch Gottes Gerechtigkeit Verdammten trifft die in der höllisch-tropischen Hitze des Morro do Berimbau schmorenden Drogenmonarchen kaum die volle Schuld an ihrer Pein. José Luis, genannt Reizinho, portugiesisch für "kleiner König", ist einer von denjenigen, deren größte Sünde, wie Calderón es nennen würde, bereits darin besteht, geboren zu sein. Schon im halbwüchsigen Alter ist er, geschunden im Äußersten wie im Innersten durch die Schläge der Mutter, vereinsamt mangels eines Vater, erniedrigt vom brutalen Drogenbaron Miltão, für den Weg ins Verderben bestimmt. Dennoch gelingt es ihm in einer eigenartigen Mischung aus Skrupellosigkeit, Brutalität und Zärtlichkeit, seinem Namen gemäß zum König des Elendshügels heranzuwachsen. Erst räumt er, vom kleinen Drogenkurier zum engsten Vertrauten avanciert, seinen für die Favela zur Plage gewordenen Lehnsherrn Miltão aus dem Weg. Dann gelingt es ihm, die Liebe von Marta zu erringen, der Tochter des Drogenfürsten Zeiquinha Bigode aus dem benachbarten Slum Morro dos Marrecos: bis er auch diesen beseitigt. Inmitten einer postmodern-globalisierten Wüste von Samba- und Rap-Rhythmen, Schweizer Präzisionsgewehren, Plastikschlappen, Coca-Cola-Büchsen und allerlei Körpergerüchen steigt er zum Feudalherrn auf, flankiert stets von Marta, seiner kaugummikauenden Königin, und einem Rudel Straßenhunde, die sein getreues Gefolge bilden. Nach und nach aber fallen der explodierenden Gewalt in der Favela ebenso Freunde wie Feinde zum Opfer, bis Reizinho entmachtet der Armseligkeit seiner Existenz ins Auge blicken muß - und der Sinnlosigkeit des Machtkampfs in einer Hölle, die Herrscher wie Beherrschte gnadenlos hinabzieht.
In grellen Farben und Tönen lockt und ekelt das Inferno des Berimbau. "Der Roman liest sich wie das Drehbuch zum Film ,City of God'", so preist der Verlag reißerisch seine Erscheinung an. Bedenklich ist daran nicht zuletzt, daß dieser auf den Kinoerfolg von Fernando Meireilles schielende Marketingslogan durchaus zutreffend ist. "Inferno" ist für eine Verfilmung geradezu maßgeschneidert, reiht sich mit täuschender Ähnlichkeit in die im lateinamerikanischen Kino derzeit modische Tendenz ein, das Elend der Straßen zum Thema kruder Reality-Streifen zu machen. Eine Ästhetik, die in Brasilien trotz kritischer Ansätze oft unter dem Einfluß der allgegenwärtigen Präsentation urbaner Gewalt im Fernsehen steht.
Auf cineastischer Seite haben sich Regisseure wie José Padilha mit seinem großartigen Dokumentarfilm "Ônibus 174" von einer die Gewalt lediglich darstellenden Sicht distanziert, um ihre tieferen Ursachen, aber gerade auch ihre Ausbeutung durch die Medien zu hinterfragen. Melos Slum-Drama aber fehlt diese Distanz. Ob es die Bemühungen des Dealerkönigs Reizinho sind, aus Mitteln des Drogenhandels die mangelhafte staatliche Sozial- und Infrastruktur zu ersetzen, oder die Ablehnung, die einem amerikanischen Filmproduzenten zuteil wird, welcher die pittoreske Armut der Favelas zum Thema eines Hochglanz-Werbespots macht - zu wirklich tiefgehender Analyse kommt es nicht. Vielmehr ergibt sich der Effekt einer hyperrealistischen Mischform aus Erzähltext, Dokudrama und Sozialchronik - und eben dadurch die Nähe zu einer fernsehtauglichen Ästhetik.
Traurig ist am Vergleich mit "City of God" jedoch noch etwas ganz anderes, nämlich daß dieser Film tatsächlich einen exzellenten und mit spezifisch literarischen Mitteln operierenden Roman zur Vorlage hat, "Cidade de Deus" von Paulo Lins. Der Titel bezeichnet eine Favela von Rio, in welcher der Autor selbst groß geworden ist - im Gegensatz zu Patricia Melo, die die Hölle wie Dante und Vergil nur als Besucherin betritt. Grausam ironische Koinzidenz: der Name des Elendsviertels ist die portugiesische Form der "Civitas Dei", Augustinus' Vision vom idealen "Gottesstaat". Vielleicht ist dieser metaphorische doppelte Boden ebendas, was dem mit journalistischem Fleiß erarbeiteten Roman Patricia Melos mit seinem bemühten Dante-Bezug abgeht. Daß auf deutsch anstelle der wirklichen Vorlage dieses Buch als "Roman zum Film" verlegt wird, mutet befremdlich an. In diesem Herbst wird der Roman Paulo Lins' aber endlich unter dem Titel "Die Stadt Gottes" im kleinen Blumenbar Verlag erscheinen.
FLORIAN BORCHMEYER
Patricia Melo: "Inferno". Roman. Aus dem Brasilianischen übersetzt von Barbara Mesquita. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003. 400 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kritisch geht Rezensent Florian Borchmeyer mit Patricia Melos "telegenem Elends-Epos" ins Gericht. Dass der Verlag den Roman mit dem Slogan bewirbt, er lese sich wie das Drehbuch zum Film "City of God", hält er für bedenklich - zumal dieser auf den Kinoerfolg von Fernando Meirelles schielende Marketingslogan nicht ganz unzutreffend sei. Seines Erachtens nämlich ist Melos Roman "geradezu maßgeschneidert" für eine Verfilmung. Mit täuschender Ähnlichkeit reihe er sich ein in die im lateinamerikanischen Kino derzeit modische Tendenz, das Elend der Straßen zum Thema kruder Reality-Streifen zu machen. Vor allem wirft Borchmeyer der Autorin vor, Gewalt unkritisch darzustellen, ohne nach deren tieferen Ursachen zu fragen. Zu einer wirklich tiefgehender Analyse komme es nicht. "Vielmehr", erklärt Borchmeyer, "ergibt sich der Effekt einer hyperrealistischen Mischform aus Erzähltext, Doku-Drama und Sozialchronik - und eben dadurch die Nähe zu einer fernsehtauglichen Ästhetik". Traurig am Vergleich mit "City of God" findet er zudem, dass dieser Film tatsächlich einen "exzellenten und mit spezifisch literarischen Mitteln operierenden Roman" zur Vorlage habe - Paulo Lins "Cidade de Deus". Der erscheint zu Borchmeyers Freude in diesem Herbst unter dem Titel "Die Stadt Gottes" im Blumenbar Verlag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"... die Türen der Hölle stehen Tag und Nacht offen." (Vergil)
"Patrícia Melo hat das Sensorium des Filmautors für rasche, oft krasse Dialoge. ... eine schockierende Handlung mit genug Leichen, um mit jeder elisabethanischen Tragödie mithalten zu können ... Es ist ein Roman, der einem in die Eingeweide fährt - und dann verstörend im Gedächtnis bleibt." (Independent on Sunday)
"Patrícia Melo hat das Sensorium des Filmautors für rasche, oft krasse Dialoge. ... eine schockierende Handlung mit genug Leichen, um mit jeder elisabethanischen Tragödie mithalten zu können ... Es ist ein Roman, der einem in die Eingeweide fährt - und dann verstörend im Gedächtnis bleibt." (Independent on Sunday)