It's been a while since Doc Sportello has seen his ex-girlfriend. Suddenly out of nowhere she shows up with a story about a plot to kidnap a billionaire land developer whom she just happens to be in love with. Easy for her to say.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2010Kalifornien, erwache!
Ob Donald Duck sich täglich den Schnabel rasiert? Thomas Pynchon mischt in seinem Roman "Natürliche Mängel" Hippiekult, Detektivroman und Comic - und lässt die Herzen hüpfen.
Von Wolfgang Schneider
Thomas Pynchons letzter Roman "Gegen den Tag" war ein literarischer Schwertransporter und mit seinen 1600 Seiten nicht zuletzt gegen den Alltag des Lesers geschrieben. "Natürliche Mängel" dagegen umfasst nur 478 Seiten und verwickelt kaum hundert Personen in eine gar nicht mal unspannende (wenn auch sehr verknäulte) Kriminalhandlung. Pynchon zugänglich, Pynchon light!
Der Detektivroman um den ständig bekifften Ermittler Doc Sportello liest sich wie ein feingestrichelter Underground-Comic von Robert Crumb. Doch bei allem vordergründigen Kichern ist es ein hintergründig sentimentalisches Buch über die Hippie-Jahre um 1970 und die Subkultur, in der Pynchons Werke verwurzelt sind. Zum subversiven Geist der Zeit gehörte bei aller Verzotteltheit der heimliche Ehrgeiz, die Gegenkultur möge Großwerke auftürmen, die den Kanon übertrumpfen; gehörte die intellektuelle Esoterik, flankiert von der Liebe zu Pop, Kino und Genre; gehörten die Dechiffrier-Syndikate, die sich über die Texte beugen, als gälte es heilige Schriften zu entziffern.
Sie bekommen wieder einiges zu tun. Einfach erklärt sich dabei noch die Aufschrift "LSD" an Docs Bürotür: "Lokalisierung, Sicherheitscheck, Detektei". Zwar leidet der Hippie-Detektiv, der gerne mit falschen Bärten und Schlussverkaufsperücken in den Einsatz geht, an einem löchrigen Kiffergedächtnis. Aber er verfügt über eine investigative Spürnase. Wenn sie zu laufen beginnt, ist das "ein untrügliches Zeichen" - eine Variante des legendären erektilen V2-Frühwarnsystems des Tyrone Slothrop in "Die Enden der Parabel".
Um Sportello hat sich eine nette Chaostruppe versammelt - Leute wie der Anwalt Sauncho Smilex, der stark ins Grübeln kommt über der Frage, ob sich Donald Duck wohl täglich den Schnabel rasiert. Arbeit gibt es, als der Immobilien-Tycoon Mickey Wolfmann, infiziert vom Flower-Power-Geist, Buße tun will für seine kapitalistischen Sünden: "Ich kann es nicht fassen, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, Leute für Wohnraum bezahlen zu lassen, wo er doch kostenlos sein sollte." Wolfmann steckt sein Geld in eine Umsonst-Wohnanlage, die als futuristische Kulisse unfertig in der Wüste steht. Es gibt nämlich Kreise, denen es nicht gefällt, dass Mickey sein Gewissen entdeckt hat, nach Jahren, in denen er gut ohne auskam. Und so ist Wolfmann plötzlich verschwunden, mitsamt seiner Geliebten, bei der es sich - heikler Fall - um Docs immer noch angeschmachtete Ex-Freundin Shasta handelt.
Zwischenzeitlich steht Sportello selbst in Verdacht - als er im "Massagesalon" Chick Planet neben der Leiche von Wolfmanns Bodyguard aufwacht. Außerdem wird der kokainsüchtige Arzt Rudy Blatnoyd mit Genickbruch neben einem Trampolin gefunden. Bloß ein Sportunfall? Und dann soll der Marihuana-Marlowe noch das Schicksal des Saxophonisten Coy Harlingen aufklären. Offiziell hat der sich den Goldenen Schuss gesetzt, inoffiziell scheint er als Agent der Organisation "Kalifornien, erwache!" unterwegs zu sein.
Die Handlung führt durch toxische Restaurants, abgehalfterte Spielcasinos, Entzugskliniken und gewaltige Baugruben. "Natürliche Mängel" lebt - nach der gewissen Baedeker-Lastigkeit mancher Partien in "Gegen den Tag" - von der Passion und Involviertheit, mit der der Schauplatz vergegenwärtigt wird. Wir erleben Los Angeles als Mekka der Hippies und der Surf-Music. Aus den Gassen von Gordita Beach dringen "Salven von Doper-Fröhlichkeit". Ständig ist von rauscherzeugenden Substanzen die Rede, psychedelische Bananenschalen eingeschlossen. Am Strand rauschen die Wellenreiter mit religiöser Ekstase "durch brodelnde Tunnel von sonnendurchflutetem Blaugrün"; weniger sonnendurchflutet sind die Tüftelräume der ARPAnet-Pioniere. Für die "Hauptstadt der ewigen Jugend und des ewigen Sommers" bietet der Roman allerdings ziemlich viel schlechtes Wetter: Nebel, Smog, Dauerregen und ein apokalyptisches Gewitter, wortgewaltig beschrieben.
Üblicherweise lernt der Leser umfangstarker Romane Haupt- von Nebenfiguren sowie einschneidende Ereignisse von signifikanten Beiläufigkeiten zu unterscheiden. Pynchons Werke kennen eine solche Hierarchisierung kaum. Sie sind basisdemokratisch erzählt. Alles scheint von gleicher Relevanz. An die Stelle dramaturgischer Höhepunkte tritt eine Atmosphäre allgegenwärtiger Konspiration. In Docs Branche "gehörte Paranoia zum Handwerkszeug, sie wies einen in Richtungen, die man sonst vielleicht gar nicht einschlagen würde". Bei solchen Sätzen hüpft das Herz der Pynchon-Leser. Hat er Paranoia gesagt? Hat er es wieder getan? Anlass gibt es genug: Das Los Angeles Police Departement deckt üble Machenschaften, sofern es sie nicht selbst zu verantworten hat. Im Hintergrund wirkt eine "Reservepolizei", die zum Einsatz kommt, wenn schlechte Presse zu befürchten ist.
Und was verbirgt sich hinter dem ominösen "Goldenen Fang" - ein Steuersparmodell wohlstandsverwahrloster Zahnärzte? Oder ein mafiöses Heroinkartell, das die Leute an die Nadel bringt, um ihnen anschließend prima Therapieprogramme anzubieten? Zugleich ist "Goldener Fang" der Name eines Schoners, der "irgendwelches Zeug in und außer Landes schafft" - ein Schiff, das ruk, zuck hinter Monsterwellen verschwinden kann, ein Fliegender Holländer, dessen Heimathafen womöglich Lemuria ist. Das Atlantis des Pazifiks gibt dem Geschehen einen mythologischen Fluchtpunkt.
Wie die eingestreuten Songs mit ihren Spaß-Reimen gehört auch der Slapstick zu den Zutaten dieses wie jedes Pynchon-Romans. Mal geraten Motorräder auf dem Erbrochenen vor einer Freak-Bar ins Schliddern, ein andermal rutscht ein Möchtegern-Zuhälter auf einer Bioeis-Kugel aus. An Comics erinnert auch die Darstellung der Frauen: lauter "aufgekratzte Stewardessen", "Sahneschnitten", "Wahnsinnsbräute", "temperamentvolle junge Asiatinnen" und kalifornische Blondinen mit dem "weltberühmten unaufrichtigen Lächeln". Eine Feministin könnte in Pynchonland leicht paranoid werden.
Die Figuren sind alle ähnlich groovy drauf; munter produzieren sie ihre von Nikolaus Stingl fast ohne Pointenverlust übersetzten Comedy-Dialoge. Auf komplexe Menschendarstellung und entwicklungsfreudige Charaktere hat es Pynchon erklärtermaßen nicht abgesehen. Dergleichen gehört von seiner Warte aus zum Betriebssystem des alten Realismus. Damit steht er, der alten Avantgarde verpflichtet, allerdings quer zur aktuellen Entwicklung - der Rückkehr zum figurenzentrierten "realistischen" Roman, mit allen Raffinessen. Verglichen mit der Seelenerforschungskunst etwa eines Jonathan Franzen muss man es bei einem Roman wie "Gegen den Tag" durchaus als Beschaffenheitsschaden (eine andere Bedeutung von "Inherent Vice") bezeichnen, wenn man am Ende von 1600 Seiten leider mit keiner der zahllosen Figuren wirklich warm geworden ist. Bei der Genreparodie "Natürliche Mängel" passen die Comedy-Charaktere dagegen gut ins Bild. Und eine gewisse Dynamik kennzeichnet ja immerhin Docs Verhältnis zu seinem eigentlichen Gegenspieler: Lieutenant Bigfoot Bjornsen mit seiner "Motorenölstimme" und seinem ausgefallenen Hobby, dem Sammeln von historischem Stacheldraht in 400-Meter-Rollen. Zwar hat Bigfoot viele Cop-Klischees zu schultern, bleibt dabei aber doch eine erstaunlich vitale Figur. Und er ist die Spinne im Netz. Der Hippie-Hasser benutzt Sportello als Köder, um den Mord an seinem Partner Vincent Indelicato aufzuklären. Wie überhaupt die Figuren in Pynchons Erzähl-Universum meist "Werkzeuge im Geräteschuppen eines anderen" sind. Selbst Mickey Wolfmann war am Ende gar nicht der, um den es ging.
"Die Psychedelischen Sechziger, diese kleine Parenthese aus Licht" - sie gehen zu Ende und münden in Dunkelheit. Blumenkinder verwandeln sich in menschliche Wracks, der Vietnam-Krieg drückt die Stimmung im Allgemeinen, die Morde der Manson-Gang im Besonderen.
Die mysteriöse Ungreifbarkeit Thomas Pynchons illustrierte die poststrukturalistische Theorie vom "Tod des Autors". Pynchon meidet die Öffentlichkeit, gibt keine Interviews, und die wenigen Fotos, die von ihm im Umlauf sind, zeigen einen jungen Marinesoldaten mit Zahnproblemen. Inzwischen, mit über Siebzig, ist der Mann jedoch beinahe leutselig geworden. Er unterhält launige E-Mail-Kontakte mit seinen Übersetzern, und nach dem legendären Simpsons-Auftritt mit der Tüte über dem Kopf soll nun sogar seine Stimme im Trailer zu "Natürliche Mängel" zu hören sein. Wer ihm jetzt den Nobelpreis verliehe, könnte damit rechnen, dass er von Pynchon höchstpersönlich abgeholt wird.
Thomas Pynchon: "Natürliche Mängel". Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 478 Seiten, geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ob Donald Duck sich täglich den Schnabel rasiert? Thomas Pynchon mischt in seinem Roman "Natürliche Mängel" Hippiekult, Detektivroman und Comic - und lässt die Herzen hüpfen.
Von Wolfgang Schneider
Thomas Pynchons letzter Roman "Gegen den Tag" war ein literarischer Schwertransporter und mit seinen 1600 Seiten nicht zuletzt gegen den Alltag des Lesers geschrieben. "Natürliche Mängel" dagegen umfasst nur 478 Seiten und verwickelt kaum hundert Personen in eine gar nicht mal unspannende (wenn auch sehr verknäulte) Kriminalhandlung. Pynchon zugänglich, Pynchon light!
Der Detektivroman um den ständig bekifften Ermittler Doc Sportello liest sich wie ein feingestrichelter Underground-Comic von Robert Crumb. Doch bei allem vordergründigen Kichern ist es ein hintergründig sentimentalisches Buch über die Hippie-Jahre um 1970 und die Subkultur, in der Pynchons Werke verwurzelt sind. Zum subversiven Geist der Zeit gehörte bei aller Verzotteltheit der heimliche Ehrgeiz, die Gegenkultur möge Großwerke auftürmen, die den Kanon übertrumpfen; gehörte die intellektuelle Esoterik, flankiert von der Liebe zu Pop, Kino und Genre; gehörten die Dechiffrier-Syndikate, die sich über die Texte beugen, als gälte es heilige Schriften zu entziffern.
Sie bekommen wieder einiges zu tun. Einfach erklärt sich dabei noch die Aufschrift "LSD" an Docs Bürotür: "Lokalisierung, Sicherheitscheck, Detektei". Zwar leidet der Hippie-Detektiv, der gerne mit falschen Bärten und Schlussverkaufsperücken in den Einsatz geht, an einem löchrigen Kiffergedächtnis. Aber er verfügt über eine investigative Spürnase. Wenn sie zu laufen beginnt, ist das "ein untrügliches Zeichen" - eine Variante des legendären erektilen V2-Frühwarnsystems des Tyrone Slothrop in "Die Enden der Parabel".
Um Sportello hat sich eine nette Chaostruppe versammelt - Leute wie der Anwalt Sauncho Smilex, der stark ins Grübeln kommt über der Frage, ob sich Donald Duck wohl täglich den Schnabel rasiert. Arbeit gibt es, als der Immobilien-Tycoon Mickey Wolfmann, infiziert vom Flower-Power-Geist, Buße tun will für seine kapitalistischen Sünden: "Ich kann es nicht fassen, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, Leute für Wohnraum bezahlen zu lassen, wo er doch kostenlos sein sollte." Wolfmann steckt sein Geld in eine Umsonst-Wohnanlage, die als futuristische Kulisse unfertig in der Wüste steht. Es gibt nämlich Kreise, denen es nicht gefällt, dass Mickey sein Gewissen entdeckt hat, nach Jahren, in denen er gut ohne auskam. Und so ist Wolfmann plötzlich verschwunden, mitsamt seiner Geliebten, bei der es sich - heikler Fall - um Docs immer noch angeschmachtete Ex-Freundin Shasta handelt.
Zwischenzeitlich steht Sportello selbst in Verdacht - als er im "Massagesalon" Chick Planet neben der Leiche von Wolfmanns Bodyguard aufwacht. Außerdem wird der kokainsüchtige Arzt Rudy Blatnoyd mit Genickbruch neben einem Trampolin gefunden. Bloß ein Sportunfall? Und dann soll der Marihuana-Marlowe noch das Schicksal des Saxophonisten Coy Harlingen aufklären. Offiziell hat der sich den Goldenen Schuss gesetzt, inoffiziell scheint er als Agent der Organisation "Kalifornien, erwache!" unterwegs zu sein.
Die Handlung führt durch toxische Restaurants, abgehalfterte Spielcasinos, Entzugskliniken und gewaltige Baugruben. "Natürliche Mängel" lebt - nach der gewissen Baedeker-Lastigkeit mancher Partien in "Gegen den Tag" - von der Passion und Involviertheit, mit der der Schauplatz vergegenwärtigt wird. Wir erleben Los Angeles als Mekka der Hippies und der Surf-Music. Aus den Gassen von Gordita Beach dringen "Salven von Doper-Fröhlichkeit". Ständig ist von rauscherzeugenden Substanzen die Rede, psychedelische Bananenschalen eingeschlossen. Am Strand rauschen die Wellenreiter mit religiöser Ekstase "durch brodelnde Tunnel von sonnendurchflutetem Blaugrün"; weniger sonnendurchflutet sind die Tüftelräume der ARPAnet-Pioniere. Für die "Hauptstadt der ewigen Jugend und des ewigen Sommers" bietet der Roman allerdings ziemlich viel schlechtes Wetter: Nebel, Smog, Dauerregen und ein apokalyptisches Gewitter, wortgewaltig beschrieben.
Üblicherweise lernt der Leser umfangstarker Romane Haupt- von Nebenfiguren sowie einschneidende Ereignisse von signifikanten Beiläufigkeiten zu unterscheiden. Pynchons Werke kennen eine solche Hierarchisierung kaum. Sie sind basisdemokratisch erzählt. Alles scheint von gleicher Relevanz. An die Stelle dramaturgischer Höhepunkte tritt eine Atmosphäre allgegenwärtiger Konspiration. In Docs Branche "gehörte Paranoia zum Handwerkszeug, sie wies einen in Richtungen, die man sonst vielleicht gar nicht einschlagen würde". Bei solchen Sätzen hüpft das Herz der Pynchon-Leser. Hat er Paranoia gesagt? Hat er es wieder getan? Anlass gibt es genug: Das Los Angeles Police Departement deckt üble Machenschaften, sofern es sie nicht selbst zu verantworten hat. Im Hintergrund wirkt eine "Reservepolizei", die zum Einsatz kommt, wenn schlechte Presse zu befürchten ist.
Und was verbirgt sich hinter dem ominösen "Goldenen Fang" - ein Steuersparmodell wohlstandsverwahrloster Zahnärzte? Oder ein mafiöses Heroinkartell, das die Leute an die Nadel bringt, um ihnen anschließend prima Therapieprogramme anzubieten? Zugleich ist "Goldener Fang" der Name eines Schoners, der "irgendwelches Zeug in und außer Landes schafft" - ein Schiff, das ruk, zuck hinter Monsterwellen verschwinden kann, ein Fliegender Holländer, dessen Heimathafen womöglich Lemuria ist. Das Atlantis des Pazifiks gibt dem Geschehen einen mythologischen Fluchtpunkt.
Wie die eingestreuten Songs mit ihren Spaß-Reimen gehört auch der Slapstick zu den Zutaten dieses wie jedes Pynchon-Romans. Mal geraten Motorräder auf dem Erbrochenen vor einer Freak-Bar ins Schliddern, ein andermal rutscht ein Möchtegern-Zuhälter auf einer Bioeis-Kugel aus. An Comics erinnert auch die Darstellung der Frauen: lauter "aufgekratzte Stewardessen", "Sahneschnitten", "Wahnsinnsbräute", "temperamentvolle junge Asiatinnen" und kalifornische Blondinen mit dem "weltberühmten unaufrichtigen Lächeln". Eine Feministin könnte in Pynchonland leicht paranoid werden.
Die Figuren sind alle ähnlich groovy drauf; munter produzieren sie ihre von Nikolaus Stingl fast ohne Pointenverlust übersetzten Comedy-Dialoge. Auf komplexe Menschendarstellung und entwicklungsfreudige Charaktere hat es Pynchon erklärtermaßen nicht abgesehen. Dergleichen gehört von seiner Warte aus zum Betriebssystem des alten Realismus. Damit steht er, der alten Avantgarde verpflichtet, allerdings quer zur aktuellen Entwicklung - der Rückkehr zum figurenzentrierten "realistischen" Roman, mit allen Raffinessen. Verglichen mit der Seelenerforschungskunst etwa eines Jonathan Franzen muss man es bei einem Roman wie "Gegen den Tag" durchaus als Beschaffenheitsschaden (eine andere Bedeutung von "Inherent Vice") bezeichnen, wenn man am Ende von 1600 Seiten leider mit keiner der zahllosen Figuren wirklich warm geworden ist. Bei der Genreparodie "Natürliche Mängel" passen die Comedy-Charaktere dagegen gut ins Bild. Und eine gewisse Dynamik kennzeichnet ja immerhin Docs Verhältnis zu seinem eigentlichen Gegenspieler: Lieutenant Bigfoot Bjornsen mit seiner "Motorenölstimme" und seinem ausgefallenen Hobby, dem Sammeln von historischem Stacheldraht in 400-Meter-Rollen. Zwar hat Bigfoot viele Cop-Klischees zu schultern, bleibt dabei aber doch eine erstaunlich vitale Figur. Und er ist die Spinne im Netz. Der Hippie-Hasser benutzt Sportello als Köder, um den Mord an seinem Partner Vincent Indelicato aufzuklären. Wie überhaupt die Figuren in Pynchons Erzähl-Universum meist "Werkzeuge im Geräteschuppen eines anderen" sind. Selbst Mickey Wolfmann war am Ende gar nicht der, um den es ging.
"Die Psychedelischen Sechziger, diese kleine Parenthese aus Licht" - sie gehen zu Ende und münden in Dunkelheit. Blumenkinder verwandeln sich in menschliche Wracks, der Vietnam-Krieg drückt die Stimmung im Allgemeinen, die Morde der Manson-Gang im Besonderen.
Die mysteriöse Ungreifbarkeit Thomas Pynchons illustrierte die poststrukturalistische Theorie vom "Tod des Autors". Pynchon meidet die Öffentlichkeit, gibt keine Interviews, und die wenigen Fotos, die von ihm im Umlauf sind, zeigen einen jungen Marinesoldaten mit Zahnproblemen. Inzwischen, mit über Siebzig, ist der Mann jedoch beinahe leutselig geworden. Er unterhält launige E-Mail-Kontakte mit seinen Übersetzern, und nach dem legendären Simpsons-Auftritt mit der Tüte über dem Kopf soll nun sogar seine Stimme im Trailer zu "Natürliche Mängel" zu hören sein. Wer ihm jetzt den Nobelpreis verliehe, könnte damit rechnen, dass er von Pynchon höchstpersönlich abgeholt wird.
Thomas Pynchon: "Natürliche Mängel". Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 478 Seiten, geb., 24,95 [Euro].
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