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Wenn man verstehen will, was in Syrien, im Nahen Osten vorgeht, muss man lesen. Kein Foto, keine Fernsehreportage, kein mit Handy gedrehter Clip vermag die Berichte von Zeugen und Betroffenen zu ersetzen. Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine ZeitungMillionen Menschen sind auf der Flucht, Hunderttausende wurden getötet, verletzt oder sind in Haft. Auch viele Intellektuelle und Künstler mussten Syrien als Flüchtlinge, aufgrund individueller Verfolgung, verlassen, nur einige wenige sind bis heute geblieben.Inmitten dieser kaum begreiflichen Katastrophe hat sich jedoch ein für Syrien…mehr

Produktbeschreibung
Wenn man verstehen will, was in Syrien, im Nahen Osten vorgeht, muss man lesen. Kein Foto, keine Fernsehreportage, kein mit Handy gedrehter Clip vermag die Berichte von Zeugen und Betroffenen zu ersetzen. Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine ZeitungMillionen Menschen sind auf der Flucht, Hunderttausende wurden getötet, verletzt oder sind in Haft. Auch viele Intellektuelle und Künstler mussten Syrien als Flüchtlinge, aufgrund individueller Verfolgung, verlassen, nur einige wenige sind bis heute geblieben.Inmitten dieser kaum begreiflichen Katastrophe hat sich jedoch ein für Syrien beispielloser und in den hiesigen Medien kaum wahrgenommener künstlerischer Aufbruch ausgebildet. Ziel dieses Buches ist es, dieses unglaubliche kreative Erwachen sichtbar zu machen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller beschreiben in sehr persönlichen Beiträgen die eigenen psychischen und die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie seit Beginn der Revolution seit mehr als vier Jahren beobachten. Der Band dokumentiert eindrucksvoll, wie mittels Literatur, Theater, Fotografie und bildender Kunst neue Freiheitsräume ausgelotet werden und wie trotz allem der friedliche Protest abseits der Kriegsschauplätze weitergeführt wird.»Wir verschieben jedes Gespräch über die Zukunft des Landes auf eine Zeit, die irgendwann später kommen wird. Wir sind sicher, dass sie kommt, aber wir sind nicht sicher, dass wir überleben und sie mit eigenen Augen sehen und erleben werden.« Khaled KhalifaMit Beiträgen von: Dara Nawwaf Abdallah, Kheder Alaga, SADIK J. AL-AZM, Mohammad Al Attar, Yassin Al Haj Saleh, Wissam Al Jazairy, Mohammad Al-Matroud, Al-Schari, Mouneer Alshaarani, Rafat Alzakout, Ali Atassi, Mamdoh Azzam, Tammam Azzam, Khateeb Badle, Petra Becker,Das syrische Volk kennt seinen Weg (Al-Schaab Al-Suri jaarif Tariko, Raed Fares, Fawwaz Haddad, Ziad Homsi, Haitham Hussein, Omar Kaddour, Nour Kelze, Khaled Khalifa, Taha Khalil, Hamid Khatib, Lens young Dimashqi, Christin Lüttich, Monzer Masri, Amer Matar, Mezar Matar, Orwa Nyrabia, Ahmad Salma, Salma Salim, Nihad Siris, Friederike Stolleis, Carsten Stormer, Khalil Sweilih, Raed Wahsh, Dima Wannous, Rosa Yassin Hassan, Samar Yazbek, Huda Zein.
Autorenporträt
Larissa Bender studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie in Köln, Berlin und Damaskus und arbeitet heute als Übersetzerin aus dem Arabischen und Journalistin. Larissa Bender ist Syrien-Tutorin bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und Dozentin für Arabisch.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensentin Angela Schader findet in dem von Larissa Bender herausgegebenen Essayband Texte, die der Unwissenheit und der Indifferenz im Umgang mit dem Krieg in Syrien entgegenwirken. Die 36 Beiträge von zumeist syrischen Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten und Schriftstellern eröffnen ihr eine Vielfalt an Perspektiven und Innenansichten aus Syrien. So erfährt Schader Wissenswertes über die Manipulation von Minoritäten, Drusen und Kurden, bekommt einen Eindruck davon, wie der Konflikt Familien spaltet, lernt die Arbeit eines Verlags in Zeiten der Revolution kennen und die Ernüchterung Oppositioneller, die auf den Westen gebaut haben.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2014

Die Zukunft kommt, aber wer erlebt sie noch?
Innenansichten aus einem Land im Kriegszustand: Eine Anthologie stellt die wichtigsten Stimmen der Opposition in Syrien vor

Wenn man verstehen will, was in Syrien, im Nahen Osten vorgeht, muss man lesen. Kein Foto, keine Fernsehreportage, kein mit Handy gedrehter Clip vermag die Berichte von Zeugen und Betroffenen zu ersetzen, die die Übersetzerin Larissa Bender in ihrer Anthologie "Innenansichten aus Syrien" versammelt. Bilder, auch die brutalsten, lassen den Betrachter außen vor. Nur lesend begreift man, dass das Haus, in dem wir oben ein paar Stockwerke gemietet haben, hell und mit Aussicht, einen Keller hat.

"Außerhalb des Gefängnisses fliehen die Ratten die Menschen - im Gefängnis die Menschen vor den Ratten. Wenn du siehst, wie die Ratte seelenruhig ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgeht, wirst du nervös. Die Ruhe der Ratte ist die größte Provokation für deine Angst", heißt es in einer der "Gedankensplitter" genannten Miniaturen des jungen syrischen Autors Dara Abdallah. Bis dahin haben wir 260 Seiten voller Horror, Verzweiflung, Trotz, Widerstand, Sarkasmus und vergeblicher Erklärungsversuche gelesen. Und plötzlich ist da diese Ratte, die in den Verliesen von Baschar al-Assad nichts mehr zu fürchten hat angesichts eines gefolterten Häufleins Mensch.

So unterschiedlich die hier versammelten Texte sind, einig sind sich die Autorinnen und Autoren in ihrer Ablehnung sowohl des alten Regimes als auch der radikalislamischen Opposition. Wir hören damit zwar nur die Stimmen der säkularen progressiven Opposition, darunter übrigens auch zahlreiche Alawiten, Christen und Kurden. Die Assad-Anhänger oder Islamisten nicht zu repräsentieren wird man dem Buch jedoch nicht zum Vorwurf machen wollen, obschon diese Fraktionen im weiteren politischen Prozess wohl oder übel eine Rolle spielen werden. Assadisten und Islamisten mögen eines Tages Verhandlungspartner sein; intellektuell oder menschlich akzeptable Positionen wird man bei ihnen nicht vermuten.

Die eigentlich Frontlinie im Syrien-Konflikt, auch dies macht das Buch klar, verläuft nicht zwischen Freier Syrischer Armee, Assad-Anhängern und Islamisten (die vielfach sogar Zweckbündnisse eingehen), sondern zwischen denen, die auf Gewalt setzen, und denen, die sie verabscheuen; zwischen denen, die die Freiheit unterdrücken, und denen, die sie einfordern, die foltern oder die gefoltert werden, die schießen oder die erschossen werden. Wenn dieses Buch etwas beweist, dann, wie unwahr der Spruch ist, dass das Recht mit dem Stärkeren sei. Aber es beweist auch, dass recht zu haben allein nicht genügt.

Aus der mitteleuropäischen Wohlstandsperspektive scheint die Bereitschaft der Aktivisten, die allseits bekannten Risiken einzugehen, oft schwer nachvollziehbar. An jeder Straßensperre droht Verhaftung, man passiert sie trotzdem mit Druckfahnen gegen das Regime in der Tasche, wie der Reporter Carsten Stormer über die Chefredakteurin der Revolutionszeitung "Oxygen" erzählt, oder mit einem Handy, das ein Video über die Demonstration gegen das Regime aufgezeichnet hat. Wer damit auffliegt, riskiert alles: Folter bis zum Tod und monatelanges Vegetieren in Zellen, in denen sich die Gefangenen stapeln. Der (häufig: die) riskiert ferner dasselbe für alle seine (ihre) Freunde, wie der Dichter Monzer Masri aus Lattakia berichtet: "Ob ich mein Mobiltelefon mitnehmen sollte, das vielleicht die Nummer eines Gesuchten sowie ein Foto enthält, das ihnen nicht passt, oder die SMS eines Freundes? Oder ob es nicht doch besser sei, obwohl ich es dringend benötigen würde, es zu Hause zu lassen?" Was Hoffnung für die Syrer angesichts dessen noch heißt, formuliert der Schriftsteller Khaled Khalifa: "Wir sind sicher, dass die Zukunft kommt, aber wir sind nicht sicher, dass wir überleben und sie mit eigenen Augen erleben werden."

Die absurde Brutalität des Regimes und das Feiern des Mordens auf Seiten der Islamisten stellen die Syrer vor die grausame Wahl zwischen Überlebensinstinkt und Willen zum Widerstand. Doch die gute Nachricht ist: Die syrische Zivilgesellschaft existiert trotz allem. Wenn sie je, von wem auch immer, ermächtigt würde, fände man hier, in diesem Buch repräsentiert, die Akteure, mit denen ein moderner, progressiver und säkularer Staat errichtet werden könnte.

Aber während die Vertreter des Rückschritts ihre bewaffneten Stellvertreter in Syrien eifrig unterstützen - die Iraner und Russen Assad, die arabischen Golfstaaten die radikalen Islamisten -, lässt der Westen die Exponenten seiner eigenen politischen Visionen bis heute im Kugelhagel stehen, bestenfalls bietet er ihnen Asyl. Die Verbitterung darüber und das Gefühl, alleingelassen zu werden, sind groß: "Wir Syrer haben verstanden, dass niemand uns helfen wird", ist der Tenor fast aller Beiträge, die durch eindrückliche Fotos und teils sogar humorvolle Kunst sinnvoll ergänzt werden. Die Kreativität zumindest leidet unter der Revolution nicht.

Im März 1967 veröffentlichte Bahman Nirumand ein kleines Buch mit dem Titel "Iran - Modell eines Entwicklungslandes". Es lieferte zahlreiche Argumente für die Proteste gegen den Besuch des Schahs im darauffolgenden Juni und wurde zu einem Katalysator für die Achtundsechziger-Proteste. Baschar al-Assad, Syriens Schlächter-Präsident, wird sich hüten, irgendwo zu Besuch aufzutauchen. Vielleicht führt aber auch dieses Buch zu einem Ruck: indem es uns begreiflich macht, dass in einem Haus, in dessen Keller passiert, was in Syrien passiert, auch in den obersten Stockwerken niemand in Sicherheit lebt.

STEFAN WEIDNER

Larissa Bender (Hrsg.): "Innenansichten aus

Syrien".

Edition Faust,

Frankfurt am Main 2014. 296 S., br., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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