Wenn man verstehen will, was in Syrien, im Nahen Osten vorgeht, muss man lesen. Kein Foto, keine Fernsehreportage, kein mit Handy gedrehter Clip vermag die Berichte von Zeugen und Betroffenen zu ersetzen. Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine ZeitungMillionen Menschen sind auf der Flucht, Hunderttausende wurden getötet, verletzt oder sind in Haft. Auch viele Intellektuelle und Künstler mussten Syrien als Flüchtlinge, aufgrund individueller Verfolgung, verlassen, nur einige wenige sind bis heute geblieben.Inmitten dieser kaum begreiflichen Katastrophe hat sich jedoch ein für Syrien beispielloser und in den hiesigen Medien kaum wahrgenommener künstlerischer Aufbruch ausgebildet. Ziel dieses Buches ist es, dieses unglaubliche kreative Erwachen sichtbar zu machen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller beschreiben in sehr persönlichen Beiträgen die eigenen psychischen und die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie seit Beginn der Revolution seit mehr als vier Jahren beobachten. Der Band dokumentiert eindrucksvoll, wie mittels Literatur, Theater, Fotografie und bildender Kunst neue Freiheitsräume ausgelotet werden und wie trotz allem der friedliche Protest abseits der Kriegsschauplätze weitergeführt wird.»Wir verschieben jedes Gespräch über die Zukunft des Landes auf eine Zeit, die irgendwann später kommen wird. Wir sind sicher, dass sie kommt, aber wir sind nicht sicher, dass wir überleben und sie mit eigenen Augen sehen und erleben werden.« Khaled KhalifaMit Beiträgen von: Dara Nawwaf Abdallah, Kheder Alaga, SADIK J. AL-AZM, Mohammad Al Attar, Yassin Al Haj Saleh, Wissam Al Jazairy, Mohammad Al-Matroud, Al-Schari, Mouneer Alshaarani, Rafat Alzakout, Ali Atassi, Mamdoh Azzam, Tammam Azzam, Khateeb Badle, Petra Becker,Das syrische Volk kennt seinen Weg (Al-Schaab Al-Suri jaarif Tariko, Raed Fares, Fawwaz Haddad, Ziad Homsi, Haitham Hussein, Omar Kaddour, Nour Kelze, Khaled Khalifa, Taha Khalil, Hamid Khatib, Lens young Dimashqi, Christin Lüttich, Monzer Masri, Amer Matar, Mezar Matar, Orwa Nyrabia, Ahmad Salma, Salma Salim, Nihad Siris, Friederike Stolleis, Carsten Stormer, Khalil Sweilih, Raed Wahsh, Dima Wannous, Rosa Yassin Hassan, Samar Yazbek, Huda Zein.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Arabischer Frühling:
tot in der Blüte
Der Aufruhr in Ägypten, Jemen,
Libyen und Syrien hat nichts Gutes gebracht.
Der Westen weiß nicht, was er tut
und was er tun soll
Wer zählt die Bücher, nennt die Namen! Kein anderes Ereignis der jüngsten Geschichte dürfte sogleich eine solche Flut von Veröffentlichungen hervorgebracht haben wie der sogenannte arabische Frühling und das rasche Welken der Hoffnungen, die er weckte.
Jeder Monat bringt neue Veröffentlichungen von Autoren, die den Nahen Osten verstehen oder zu verstehen glauben. Dabei sind all den hier erwähnten Büchern zwei Schwächen gemeinsam. Keines von ihnen beschäftigt sich näher mit Tunesien, dem einzigen arabischen Land, in dem die Erneuerung nicht gescheitert ist. Und obwohl fast alle im Jahr 2014 erschienen sind, wird in keinem der Bücher der „Islamische Staat“, kurz Isis oder IS genannt, arabisch „Daesch“, mit seinem Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi erwähnt.
Dieses Terrorgebilde, das inzwischen die halbe Welt in Aufregung versetzt, hatte indessen schon 2013 im Norden Syriens sein Herrschaftsgebiet konsolidiert und die Grundlagen zu seiner Expansion gelegt. Die Folgen für die Staaten der Region und die drohenden gesellschaftlichen Umwälzungen könnten sehr wohl langlebiger sein als der arabische Frühling.
Eines der Werke erklärt den Reformanlauf der Revolte gegen autoritäre Regime schon im Titel für gescheitert. Von der Ausnahme Tunesien abgesehen, mit gutem Grund. In Ägypten regiert drei Jahre nach dem Sturz Hosni Mubaraks wieder ein General und wieder mit den alten Methoden. Wie damals lebt das Land von den Subsidien der reaktionärsten Staaten der Arabischen Halbinsel. Das Zwischenspiel eines demokratisch gewählten Präsidenten dauerte nicht lange. Da er den Muslimbrüdern angehörte, regte es im Westen kaum jemanden auf, dass er durch einen Militärputsch gestürzt wurde und der Widerstand der Anhänger des Vorgängers blutig unterdrückt wurde. Die USA vermieden es sogar, diesen anstößigen Begriff zu verwenden: Militärputsch, denn dann hätten sie nach ihren eigenen Gesetzen die Waffenhilfe an die neuen Herren einstellen müssen.
In Syrien führten erste, noch friedliche Demonstrationen gegen das Willkür-Regime von Präsident Baschar al-Assad auf direktem Weg in den Bürgerkrieg. Wer die Verhältnisse und die Usancen des Umgangs mit der Macht kennt, weiß freilich, dass die Marschierer, hätte der Präsident nicht auf sie schießen lassen, binnen Tagen oder Wochen alle Institutionen des Staates friedlich in Besitz genommen hätten: Sie profitierten bei den meinungsbildenden Kreisen im Westen von dem günstigen Vorurteil, dass wer immer sich gegen eine Tyrannei erhebt, eine demokratische Kraft sein müsse: ein Pro-Democracy Movement, wie es im Englischen heißt, das die Nachrichtensprache dominiert. Längst ist vergessen, dass auch die Roten Khmer in Kambodscha einst als ein solches Pro-Democracy Movement galten.
Erst kürzlich hat die Pariser Zeitung Le Monde in einer zweiseitigen Dokumentation dieses Fehlurteil korrigiert. Unter den aktivsten Elementen der syrischen Opposition befanden sich von Anfang an radikale Islamisten, aus denen sich später der Islamische Staat mit seinem falschen Kalifen formierte. Von westlichen Regierungen und Geheimdiensten im Verein mit konservativen arabischen Staaten wurde die bewaffnete Opposition in Syrien bezahlt und aufgerüstet.
Alle Warnungen, dass sich in jeder Revolution die Radikalsten durchsetzen und dass die gelieferten Waffen am Ende bei ihnen landen würden, wurden in den Wind geschlagen. Der Schlachtruf „Assad muss weg“ deckte die Reflexion über mögliche Alternativen zu. Auch alle normalen realpolitischen Erwägungen der eigenen Interessen wurden ignoriert. Im Besonderen für die Franzosen ergab sich daraus die groteske Situation, dass sie in Syrien die Waffenbrüder genau jener Extremisten unterstützten, gegen die sie in Mali und in der Sahelzone Soldaten aufboten.
Ein wohltuender Kontrast sind die „Innenansichten“, in denen Dutzende Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler deutlich machen, dass die Auseinandersetzungen in Syrien nicht nur mit brutaler Gewalt, sondern auch mit Gedanken geführt werden. Im Westen dürfte unter ihnen Sadik al-Azm mit seinem Werk „Kritik des religiösen Denkens“ der bekannteste sein. Die meisten Texte hat die Herausgeberin Larissa Bender, die Syrien kennt, selbst aus dem Arabischen übersetzt.
Wo immer westliche Koalitionen unter Führung der USA im Orient angeblich für Demokratie und Menschenrechte intervenierten, führte dies zu Katastrophen. Der Irak und Afghanistan sind dafür die eklatantesten Beispiele. Unermessliche Leiden der Bevölkerung, Zerfall der Infrastrukturen, Auflösung sozialer Bindungen mit Rückfall in den Tribalismus waren überall die Folge.
Wer nach den tieferen Ursachen für den Aufstieg des radikalen Islam und für die arabischen Revolutionen sucht, sollte hier ansetzen. In Libyen erzeugte die vorgeblich humanitäre Intervention, die nach offizieller Darstellung zum Schutz der Bevölkerung erfolgte, das reine Chaos. Die Zustände ähneln heute denen in nicht mehr funktionierenden Staaten (Failed States) wie Somalia. Wie es dazu kam, schildert „Missbrauch der Responsibility“ eindrücklich.
Dass sich Demokratie nicht wie eine Wasserentsalzungsanlage schlüsselfertig exportieren lässt, ist eine Erkenntnis, die allmählich um sich greift. Andere geschichtliche Voraussetzungen, andere Religionen, andere Sitten erfordern im günstigsten Fall auch andere Formen von Demokratie. Darauf beruft sich der Autor von „Fetisch Demokratie“, indem er die „farbigen Revolutionen mit ihren trüben Folgen“ schildert, Nelken in Portugal, Orange in der Ukraine, Safran in Burma (Myanmar). Zöllner hat seine Erfahrungen freilich als Pfarrer und Missionar in Südasien gesammelt. Seine Versuche, die arabischen Revolutionen in dieses Schema einzuordnen, verlaufen nicht immer glücklich.
Dass Annette Ranko ihre Geschichte der Muslim-Bruderschaft gleichsam von Adam und Eva an erzählt, ist kein Fehler. Im Gegenteil. Das Thema ist wichtig: Ableger der Bruderschaft regieren derzeit in Tunesien, in der Türkei und in Gaza. Auch einige Gründerväter der Islamischen Republik Iran, obwohl sie Schiiten waren, haben die Doktrin der Bruderschaft aufmerksam und mit Respekt studiert. Der normale westliche Leser weiß über diese Bewegung indes wenig. Mehrere der hier erwähnten Bücher können da nützlich sein, weil sie die Grundbegriffe von Historie, Religionen, Staatlichkeit, Politik und Gesellschaften im Nahen Osten in den einfachen Begriffen politischer Lexika erklären.
Zu Goethes Zeiten war es ein Gespräch für Sonntagsspaziergänge, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlugen. Allein die Flüchtlingsströme aus den Krisengebieten erlauben es nicht mehr, dass sich blutige Konflikte im Nahen Osten so gefällig abtun lassen.
RUDOLPH CHIMELLI
Manfred A. Dick : Die gescheiterte islamische Revolution und die arabische Revolte. Der unaufhaltsame Marsch in den Islamismus. Rita G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012. 278 S., 24,80 Euro.
Annette Ranko: Die Muslimbruderschaft. Porträt einer mächtigen Verbindung. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 57 S., 14 Euro.
Klaus Gallas (Hrsg.): Orient im Umbruch. Der arabische Frühling und seine Folgen. Mitteldeutscher Verlag, Halle an der Saale 2014. 160 S., 12,95 Euro.
Hans Bernd Zöllner: Fetisch Demokratie. Der arabische Frühling, von außen betrachtet. Abera Verlag, Hamburg 2014. 160 S., 19, 95 Euro.
Gerhard Beestermöller (Hrsg.): Libyen: Missbrauch der Responsibility to Protect. Nomos
Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014. 139 Seiten, 26 Euro.
Larissa Bender (Hrsg.): Innenansichten aus Syrien. Edition Faust, Frankfurt am Main 2014. 200 Seiten, 24 Euro.
Das einzige Land, dem die
Revolution nicht zum Nachteil
ausfiel, ist Tunesien
Andere Religionen, andere
Sitten erfordern auch andere
Formen von Demokratie
Bengasi 2011: Bücher wurden verbrannt,
die Muammar Gaddafi publiziert hatte. In Libyen
erzeugte die „vorgeblich humanitäre“ Intervention
„das reine Chaos“. Foto: Roberto Schmidt/AFP
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
tot in der Blüte
Der Aufruhr in Ägypten, Jemen,
Libyen und Syrien hat nichts Gutes gebracht.
Der Westen weiß nicht, was er tut
und was er tun soll
Wer zählt die Bücher, nennt die Namen! Kein anderes Ereignis der jüngsten Geschichte dürfte sogleich eine solche Flut von Veröffentlichungen hervorgebracht haben wie der sogenannte arabische Frühling und das rasche Welken der Hoffnungen, die er weckte.
Jeder Monat bringt neue Veröffentlichungen von Autoren, die den Nahen Osten verstehen oder zu verstehen glauben. Dabei sind all den hier erwähnten Büchern zwei Schwächen gemeinsam. Keines von ihnen beschäftigt sich näher mit Tunesien, dem einzigen arabischen Land, in dem die Erneuerung nicht gescheitert ist. Und obwohl fast alle im Jahr 2014 erschienen sind, wird in keinem der Bücher der „Islamische Staat“, kurz Isis oder IS genannt, arabisch „Daesch“, mit seinem Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi erwähnt.
Dieses Terrorgebilde, das inzwischen die halbe Welt in Aufregung versetzt, hatte indessen schon 2013 im Norden Syriens sein Herrschaftsgebiet konsolidiert und die Grundlagen zu seiner Expansion gelegt. Die Folgen für die Staaten der Region und die drohenden gesellschaftlichen Umwälzungen könnten sehr wohl langlebiger sein als der arabische Frühling.
Eines der Werke erklärt den Reformanlauf der Revolte gegen autoritäre Regime schon im Titel für gescheitert. Von der Ausnahme Tunesien abgesehen, mit gutem Grund. In Ägypten regiert drei Jahre nach dem Sturz Hosni Mubaraks wieder ein General und wieder mit den alten Methoden. Wie damals lebt das Land von den Subsidien der reaktionärsten Staaten der Arabischen Halbinsel. Das Zwischenspiel eines demokratisch gewählten Präsidenten dauerte nicht lange. Da er den Muslimbrüdern angehörte, regte es im Westen kaum jemanden auf, dass er durch einen Militärputsch gestürzt wurde und der Widerstand der Anhänger des Vorgängers blutig unterdrückt wurde. Die USA vermieden es sogar, diesen anstößigen Begriff zu verwenden: Militärputsch, denn dann hätten sie nach ihren eigenen Gesetzen die Waffenhilfe an die neuen Herren einstellen müssen.
In Syrien führten erste, noch friedliche Demonstrationen gegen das Willkür-Regime von Präsident Baschar al-Assad auf direktem Weg in den Bürgerkrieg. Wer die Verhältnisse und die Usancen des Umgangs mit der Macht kennt, weiß freilich, dass die Marschierer, hätte der Präsident nicht auf sie schießen lassen, binnen Tagen oder Wochen alle Institutionen des Staates friedlich in Besitz genommen hätten: Sie profitierten bei den meinungsbildenden Kreisen im Westen von dem günstigen Vorurteil, dass wer immer sich gegen eine Tyrannei erhebt, eine demokratische Kraft sein müsse: ein Pro-Democracy Movement, wie es im Englischen heißt, das die Nachrichtensprache dominiert. Längst ist vergessen, dass auch die Roten Khmer in Kambodscha einst als ein solches Pro-Democracy Movement galten.
Erst kürzlich hat die Pariser Zeitung Le Monde in einer zweiseitigen Dokumentation dieses Fehlurteil korrigiert. Unter den aktivsten Elementen der syrischen Opposition befanden sich von Anfang an radikale Islamisten, aus denen sich später der Islamische Staat mit seinem falschen Kalifen formierte. Von westlichen Regierungen und Geheimdiensten im Verein mit konservativen arabischen Staaten wurde die bewaffnete Opposition in Syrien bezahlt und aufgerüstet.
Alle Warnungen, dass sich in jeder Revolution die Radikalsten durchsetzen und dass die gelieferten Waffen am Ende bei ihnen landen würden, wurden in den Wind geschlagen. Der Schlachtruf „Assad muss weg“ deckte die Reflexion über mögliche Alternativen zu. Auch alle normalen realpolitischen Erwägungen der eigenen Interessen wurden ignoriert. Im Besonderen für die Franzosen ergab sich daraus die groteske Situation, dass sie in Syrien die Waffenbrüder genau jener Extremisten unterstützten, gegen die sie in Mali und in der Sahelzone Soldaten aufboten.
Ein wohltuender Kontrast sind die „Innenansichten“, in denen Dutzende Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler deutlich machen, dass die Auseinandersetzungen in Syrien nicht nur mit brutaler Gewalt, sondern auch mit Gedanken geführt werden. Im Westen dürfte unter ihnen Sadik al-Azm mit seinem Werk „Kritik des religiösen Denkens“ der bekannteste sein. Die meisten Texte hat die Herausgeberin Larissa Bender, die Syrien kennt, selbst aus dem Arabischen übersetzt.
Wo immer westliche Koalitionen unter Führung der USA im Orient angeblich für Demokratie und Menschenrechte intervenierten, führte dies zu Katastrophen. Der Irak und Afghanistan sind dafür die eklatantesten Beispiele. Unermessliche Leiden der Bevölkerung, Zerfall der Infrastrukturen, Auflösung sozialer Bindungen mit Rückfall in den Tribalismus waren überall die Folge.
Wer nach den tieferen Ursachen für den Aufstieg des radikalen Islam und für die arabischen Revolutionen sucht, sollte hier ansetzen. In Libyen erzeugte die vorgeblich humanitäre Intervention, die nach offizieller Darstellung zum Schutz der Bevölkerung erfolgte, das reine Chaos. Die Zustände ähneln heute denen in nicht mehr funktionierenden Staaten (Failed States) wie Somalia. Wie es dazu kam, schildert „Missbrauch der Responsibility“ eindrücklich.
Dass sich Demokratie nicht wie eine Wasserentsalzungsanlage schlüsselfertig exportieren lässt, ist eine Erkenntnis, die allmählich um sich greift. Andere geschichtliche Voraussetzungen, andere Religionen, andere Sitten erfordern im günstigsten Fall auch andere Formen von Demokratie. Darauf beruft sich der Autor von „Fetisch Demokratie“, indem er die „farbigen Revolutionen mit ihren trüben Folgen“ schildert, Nelken in Portugal, Orange in der Ukraine, Safran in Burma (Myanmar). Zöllner hat seine Erfahrungen freilich als Pfarrer und Missionar in Südasien gesammelt. Seine Versuche, die arabischen Revolutionen in dieses Schema einzuordnen, verlaufen nicht immer glücklich.
Dass Annette Ranko ihre Geschichte der Muslim-Bruderschaft gleichsam von Adam und Eva an erzählt, ist kein Fehler. Im Gegenteil. Das Thema ist wichtig: Ableger der Bruderschaft regieren derzeit in Tunesien, in der Türkei und in Gaza. Auch einige Gründerväter der Islamischen Republik Iran, obwohl sie Schiiten waren, haben die Doktrin der Bruderschaft aufmerksam und mit Respekt studiert. Der normale westliche Leser weiß über diese Bewegung indes wenig. Mehrere der hier erwähnten Bücher können da nützlich sein, weil sie die Grundbegriffe von Historie, Religionen, Staatlichkeit, Politik und Gesellschaften im Nahen Osten in den einfachen Begriffen politischer Lexika erklären.
Zu Goethes Zeiten war es ein Gespräch für Sonntagsspaziergänge, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlugen. Allein die Flüchtlingsströme aus den Krisengebieten erlauben es nicht mehr, dass sich blutige Konflikte im Nahen Osten so gefällig abtun lassen.
RUDOLPH CHIMELLI
Manfred A. Dick : Die gescheiterte islamische Revolution und die arabische Revolte. Der unaufhaltsame Marsch in den Islamismus. Rita G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012. 278 S., 24,80 Euro.
Annette Ranko: Die Muslimbruderschaft. Porträt einer mächtigen Verbindung. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 57 S., 14 Euro.
Klaus Gallas (Hrsg.): Orient im Umbruch. Der arabische Frühling und seine Folgen. Mitteldeutscher Verlag, Halle an der Saale 2014. 160 S., 12,95 Euro.
Hans Bernd Zöllner: Fetisch Demokratie. Der arabische Frühling, von außen betrachtet. Abera Verlag, Hamburg 2014. 160 S., 19, 95 Euro.
Gerhard Beestermöller (Hrsg.): Libyen: Missbrauch der Responsibility to Protect. Nomos
Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014. 139 Seiten, 26 Euro.
Larissa Bender (Hrsg.): Innenansichten aus Syrien. Edition Faust, Frankfurt am Main 2014. 200 Seiten, 24 Euro.
Das einzige Land, dem die
Revolution nicht zum Nachteil
ausfiel, ist Tunesien
Andere Religionen, andere
Sitten erfordern auch andere
Formen von Demokratie
Bengasi 2011: Bücher wurden verbrannt,
die Muammar Gaddafi publiziert hatte. In Libyen
erzeugte die „vorgeblich humanitäre“ Intervention
„das reine Chaos“. Foto: Roberto Schmidt/AFP
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Angela Schader findet in dem von Larissa Bender herausgegebenen Essayband Texte, die der Unwissenheit und der Indifferenz im Umgang mit dem Krieg in Syrien entgegenwirken. Die 36 Beiträge von zumeist syrischen Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten und Schriftstellern eröffnen ihr eine Vielfalt an Perspektiven und Innenansichten aus Syrien. So erfährt Schader Wissenswertes über die Manipulation von Minoritäten, Drusen und Kurden, bekommt einen Eindruck davon, wie der Konflikt Familien spaltet, lernt die Arbeit eines Verlags in Zeiten der Revolution kennen und die Ernüchterung Oppositioneller, die auf den Westen gebaut haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2014Die Zukunft kommt, aber wer erlebt sie noch?
Innenansichten aus einem Land im Kriegszustand: Eine Anthologie stellt die wichtigsten Stimmen der Opposition in Syrien vor
Wenn man verstehen will, was in Syrien, im Nahen Osten vorgeht, muss man lesen. Kein Foto, keine Fernsehreportage, kein mit Handy gedrehter Clip vermag die Berichte von Zeugen und Betroffenen zu ersetzen, die die Übersetzerin Larissa Bender in ihrer Anthologie "Innenansichten aus Syrien" versammelt. Bilder, auch die brutalsten, lassen den Betrachter außen vor. Nur lesend begreift man, dass das Haus, in dem wir oben ein paar Stockwerke gemietet haben, hell und mit Aussicht, einen Keller hat.
"Außerhalb des Gefängnisses fliehen die Ratten die Menschen - im Gefängnis die Menschen vor den Ratten. Wenn du siehst, wie die Ratte seelenruhig ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgeht, wirst du nervös. Die Ruhe der Ratte ist die größte Provokation für deine Angst", heißt es in einer der "Gedankensplitter" genannten Miniaturen des jungen syrischen Autors Dara Abdallah. Bis dahin haben wir 260 Seiten voller Horror, Verzweiflung, Trotz, Widerstand, Sarkasmus und vergeblicher Erklärungsversuche gelesen. Und plötzlich ist da diese Ratte, die in den Verliesen von Baschar al-Assad nichts mehr zu fürchten hat angesichts eines gefolterten Häufleins Mensch.
So unterschiedlich die hier versammelten Texte sind, einig sind sich die Autorinnen und Autoren in ihrer Ablehnung sowohl des alten Regimes als auch der radikalislamischen Opposition. Wir hören damit zwar nur die Stimmen der säkularen progressiven Opposition, darunter übrigens auch zahlreiche Alawiten, Christen und Kurden. Die Assad-Anhänger oder Islamisten nicht zu repräsentieren wird man dem Buch jedoch nicht zum Vorwurf machen wollen, obschon diese Fraktionen im weiteren politischen Prozess wohl oder übel eine Rolle spielen werden. Assadisten und Islamisten mögen eines Tages Verhandlungspartner sein; intellektuell oder menschlich akzeptable Positionen wird man bei ihnen nicht vermuten.
Die eigentlich Frontlinie im Syrien-Konflikt, auch dies macht das Buch klar, verläuft nicht zwischen Freier Syrischer Armee, Assad-Anhängern und Islamisten (die vielfach sogar Zweckbündnisse eingehen), sondern zwischen denen, die auf Gewalt setzen, und denen, die sie verabscheuen; zwischen denen, die die Freiheit unterdrücken, und denen, die sie einfordern, die foltern oder die gefoltert werden, die schießen oder die erschossen werden. Wenn dieses Buch etwas beweist, dann, wie unwahr der Spruch ist, dass das Recht mit dem Stärkeren sei. Aber es beweist auch, dass recht zu haben allein nicht genügt.
Aus der mitteleuropäischen Wohlstandsperspektive scheint die Bereitschaft der Aktivisten, die allseits bekannten Risiken einzugehen, oft schwer nachvollziehbar. An jeder Straßensperre droht Verhaftung, man passiert sie trotzdem mit Druckfahnen gegen das Regime in der Tasche, wie der Reporter Carsten Stormer über die Chefredakteurin der Revolutionszeitung "Oxygen" erzählt, oder mit einem Handy, das ein Video über die Demonstration gegen das Regime aufgezeichnet hat. Wer damit auffliegt, riskiert alles: Folter bis zum Tod und monatelanges Vegetieren in Zellen, in denen sich die Gefangenen stapeln. Der (häufig: die) riskiert ferner dasselbe für alle seine (ihre) Freunde, wie der Dichter Monzer Masri aus Lattakia berichtet: "Ob ich mein Mobiltelefon mitnehmen sollte, das vielleicht die Nummer eines Gesuchten sowie ein Foto enthält, das ihnen nicht passt, oder die SMS eines Freundes? Oder ob es nicht doch besser sei, obwohl ich es dringend benötigen würde, es zu Hause zu lassen?" Was Hoffnung für die Syrer angesichts dessen noch heißt, formuliert der Schriftsteller Khaled Khalifa: "Wir sind sicher, dass die Zukunft kommt, aber wir sind nicht sicher, dass wir überleben und sie mit eigenen Augen erleben werden."
Die absurde Brutalität des Regimes und das Feiern des Mordens auf Seiten der Islamisten stellen die Syrer vor die grausame Wahl zwischen Überlebensinstinkt und Willen zum Widerstand. Doch die gute Nachricht ist: Die syrische Zivilgesellschaft existiert trotz allem. Wenn sie je, von wem auch immer, ermächtigt würde, fände man hier, in diesem Buch repräsentiert, die Akteure, mit denen ein moderner, progressiver und säkularer Staat errichtet werden könnte.
Aber während die Vertreter des Rückschritts ihre bewaffneten Stellvertreter in Syrien eifrig unterstützen - die Iraner und Russen Assad, die arabischen Golfstaaten die radikalen Islamisten -, lässt der Westen die Exponenten seiner eigenen politischen Visionen bis heute im Kugelhagel stehen, bestenfalls bietet er ihnen Asyl. Die Verbitterung darüber und das Gefühl, alleingelassen zu werden, sind groß: "Wir Syrer haben verstanden, dass niemand uns helfen wird", ist der Tenor fast aller Beiträge, die durch eindrückliche Fotos und teils sogar humorvolle Kunst sinnvoll ergänzt werden. Die Kreativität zumindest leidet unter der Revolution nicht.
Im März 1967 veröffentlichte Bahman Nirumand ein kleines Buch mit dem Titel "Iran - Modell eines Entwicklungslandes". Es lieferte zahlreiche Argumente für die Proteste gegen den Besuch des Schahs im darauffolgenden Juni und wurde zu einem Katalysator für die Achtundsechziger-Proteste. Baschar al-Assad, Syriens Schlächter-Präsident, wird sich hüten, irgendwo zu Besuch aufzutauchen. Vielleicht führt aber auch dieses Buch zu einem Ruck: indem es uns begreiflich macht, dass in einem Haus, in dessen Keller passiert, was in Syrien passiert, auch in den obersten Stockwerken niemand in Sicherheit lebt.
STEFAN WEIDNER
Larissa Bender (Hrsg.): "Innenansichten aus
Syrien".
Edition Faust,
Frankfurt am Main 2014. 296 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Innenansichten aus einem Land im Kriegszustand: Eine Anthologie stellt die wichtigsten Stimmen der Opposition in Syrien vor
Wenn man verstehen will, was in Syrien, im Nahen Osten vorgeht, muss man lesen. Kein Foto, keine Fernsehreportage, kein mit Handy gedrehter Clip vermag die Berichte von Zeugen und Betroffenen zu ersetzen, die die Übersetzerin Larissa Bender in ihrer Anthologie "Innenansichten aus Syrien" versammelt. Bilder, auch die brutalsten, lassen den Betrachter außen vor. Nur lesend begreift man, dass das Haus, in dem wir oben ein paar Stockwerke gemietet haben, hell und mit Aussicht, einen Keller hat.
"Außerhalb des Gefängnisses fliehen die Ratten die Menschen - im Gefängnis die Menschen vor den Ratten. Wenn du siehst, wie die Ratte seelenruhig ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgeht, wirst du nervös. Die Ruhe der Ratte ist die größte Provokation für deine Angst", heißt es in einer der "Gedankensplitter" genannten Miniaturen des jungen syrischen Autors Dara Abdallah. Bis dahin haben wir 260 Seiten voller Horror, Verzweiflung, Trotz, Widerstand, Sarkasmus und vergeblicher Erklärungsversuche gelesen. Und plötzlich ist da diese Ratte, die in den Verliesen von Baschar al-Assad nichts mehr zu fürchten hat angesichts eines gefolterten Häufleins Mensch.
So unterschiedlich die hier versammelten Texte sind, einig sind sich die Autorinnen und Autoren in ihrer Ablehnung sowohl des alten Regimes als auch der radikalislamischen Opposition. Wir hören damit zwar nur die Stimmen der säkularen progressiven Opposition, darunter übrigens auch zahlreiche Alawiten, Christen und Kurden. Die Assad-Anhänger oder Islamisten nicht zu repräsentieren wird man dem Buch jedoch nicht zum Vorwurf machen wollen, obschon diese Fraktionen im weiteren politischen Prozess wohl oder übel eine Rolle spielen werden. Assadisten und Islamisten mögen eines Tages Verhandlungspartner sein; intellektuell oder menschlich akzeptable Positionen wird man bei ihnen nicht vermuten.
Die eigentlich Frontlinie im Syrien-Konflikt, auch dies macht das Buch klar, verläuft nicht zwischen Freier Syrischer Armee, Assad-Anhängern und Islamisten (die vielfach sogar Zweckbündnisse eingehen), sondern zwischen denen, die auf Gewalt setzen, und denen, die sie verabscheuen; zwischen denen, die die Freiheit unterdrücken, und denen, die sie einfordern, die foltern oder die gefoltert werden, die schießen oder die erschossen werden. Wenn dieses Buch etwas beweist, dann, wie unwahr der Spruch ist, dass das Recht mit dem Stärkeren sei. Aber es beweist auch, dass recht zu haben allein nicht genügt.
Aus der mitteleuropäischen Wohlstandsperspektive scheint die Bereitschaft der Aktivisten, die allseits bekannten Risiken einzugehen, oft schwer nachvollziehbar. An jeder Straßensperre droht Verhaftung, man passiert sie trotzdem mit Druckfahnen gegen das Regime in der Tasche, wie der Reporter Carsten Stormer über die Chefredakteurin der Revolutionszeitung "Oxygen" erzählt, oder mit einem Handy, das ein Video über die Demonstration gegen das Regime aufgezeichnet hat. Wer damit auffliegt, riskiert alles: Folter bis zum Tod und monatelanges Vegetieren in Zellen, in denen sich die Gefangenen stapeln. Der (häufig: die) riskiert ferner dasselbe für alle seine (ihre) Freunde, wie der Dichter Monzer Masri aus Lattakia berichtet: "Ob ich mein Mobiltelefon mitnehmen sollte, das vielleicht die Nummer eines Gesuchten sowie ein Foto enthält, das ihnen nicht passt, oder die SMS eines Freundes? Oder ob es nicht doch besser sei, obwohl ich es dringend benötigen würde, es zu Hause zu lassen?" Was Hoffnung für die Syrer angesichts dessen noch heißt, formuliert der Schriftsteller Khaled Khalifa: "Wir sind sicher, dass die Zukunft kommt, aber wir sind nicht sicher, dass wir überleben und sie mit eigenen Augen erleben werden."
Die absurde Brutalität des Regimes und das Feiern des Mordens auf Seiten der Islamisten stellen die Syrer vor die grausame Wahl zwischen Überlebensinstinkt und Willen zum Widerstand. Doch die gute Nachricht ist: Die syrische Zivilgesellschaft existiert trotz allem. Wenn sie je, von wem auch immer, ermächtigt würde, fände man hier, in diesem Buch repräsentiert, die Akteure, mit denen ein moderner, progressiver und säkularer Staat errichtet werden könnte.
Aber während die Vertreter des Rückschritts ihre bewaffneten Stellvertreter in Syrien eifrig unterstützen - die Iraner und Russen Assad, die arabischen Golfstaaten die radikalen Islamisten -, lässt der Westen die Exponenten seiner eigenen politischen Visionen bis heute im Kugelhagel stehen, bestenfalls bietet er ihnen Asyl. Die Verbitterung darüber und das Gefühl, alleingelassen zu werden, sind groß: "Wir Syrer haben verstanden, dass niemand uns helfen wird", ist der Tenor fast aller Beiträge, die durch eindrückliche Fotos und teils sogar humorvolle Kunst sinnvoll ergänzt werden. Die Kreativität zumindest leidet unter der Revolution nicht.
Im März 1967 veröffentlichte Bahman Nirumand ein kleines Buch mit dem Titel "Iran - Modell eines Entwicklungslandes". Es lieferte zahlreiche Argumente für die Proteste gegen den Besuch des Schahs im darauffolgenden Juni und wurde zu einem Katalysator für die Achtundsechziger-Proteste. Baschar al-Assad, Syriens Schlächter-Präsident, wird sich hüten, irgendwo zu Besuch aufzutauchen. Vielleicht führt aber auch dieses Buch zu einem Ruck: indem es uns begreiflich macht, dass in einem Haus, in dessen Keller passiert, was in Syrien passiert, auch in den obersten Stockwerken niemand in Sicherheit lebt.
STEFAN WEIDNER
Larissa Bender (Hrsg.): "Innenansichten aus
Syrien".
Edition Faust,
Frankfurt am Main 2014. 296 S., br., 24,- [Euro].
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