Produktdetails
- Verlag: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
- ISBN-13: 9783534124084
- ISBN-10: 3534124081
- Artikelnr.: 24891626
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Innenansichten aus der ostdeutschen Philosophie
Mit einem glücklichen Griff hatte Norbert Kapferer vor Jahren den Kampf gegen das Feindbild "spätbürgerliche Philosophie" zum Leitfaden einer geschichtlichen Analyse des DDR-Marxismus gewählt und dafür den zwar unschönen, aber treffenden Ausdruck "Kaderphilosophie" geprägt. Obendrein hatte sie ihm die Liebe angetan, kurz vor der Veröffentlichung seines Buches im Jahr der deutschen Einheit ihre Existenz zu beenden. Ist mit diesem historisch abgeschlossenen Vorgang, wie einer der Betroffenen im vorliegenden, von Kapferer herausgegebenen Band anmerkt, für uns der Glücksfall eingetreten, im Augenblick des Endes einer Geschichte über ihre Darstellung zu verfügen?
Wer in den neuen Bundesländern jene Geschichte als fortwirkendes Geschehen hautnah miterlebt, kann diese Fragen nur unter Vorbehalt bejahen. Nostalgie ist eingekehrt, postrevolutionäre Romantik, die Vergangenes in rosigem Licht erscheinen läßt. Und mit der erstarkten PDS sind alte Feindbilder zurückgekehrt oder durch neue gestärkt, wird Geschehenes verleugnet, umgedeutet oder legendenselig verklärt.
Ähnlich sieht es Kapferer, der eine schizophrene Stimmungslage diagnostiziert: einerseits die fluchtartige Preisgabe einst vertretener Positionen, die auf einmal gar nicht mehr zur Debatte stehen, andererseits die Ausflucht in fast schon überwundene Ansichten oder die Zuflucht beim spätbürgerlichen Klassenfeind von gestern. Und mit Recht weist Kapferer darauf hin, daß sich jede Genugtuung über diese Identitätskrise ehemaliger DDR-Philosophen verbietet: "Ein philosophischer Gesinnungswandel war hier durch äußere Umstände erzwungen - die denkbar ungünstigste Voraussetzung für eine selbstkritische Bestandsaufnahme und philosophische Neubesinnung."
Das zeigt der neue Band, der alte "Außenansichten" durch "Innenansichten" ergänzen und korrigieren soll. Ein dialektischer Gegensatz, der seine Tücken hat, bedenkt man, daß dieses Wort auf das Innere eines geschlossenen oder umgrenzten Raumes weist, der doch verschwunden ist oder in die Erinnerung abgedrängt erscheint. Das scheint jedoch nur so. Denn jede Innenansicht hat ihr Außen, und seiner fatalen Verdrängung, der Herausgeber deutet es in anderem Zusammenhang an, folgt unweigerlich eine ebenso fatale Immunisierung des "Innen".
Von den ausgewählten ostdeutschen Philosophen wären drei (Peter Ruben, Guntolf Herzberg, Volker Caysa) zu jenen Gruppen zu zählen, die nichtparteikonforme Positionen vertreten haben, während die übrigen (Hans-Martin Gerlach, Reinhard Mocek) die von Kapferer aufgestellten Kriterien eines parteilich organisierten und kontrollierten Philosophierens erfüllen. Um so unverständlicher in letzteren Fällen Lücken und Unrichtigkeiten in äußeren biographischen Angaben. Warum z. B. berichten, daß Mocek Mitglied eines "Rats für marxistisch-leninistische Philosophie" gewesen sei, wenn es sich in Wahrheit um den "Beirat beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR" handelte? Und dazu verschweigen, daß Gerlach (ab 1987) dessen Vorsitzender war: oberste Sprosse in der Karriereleiter eines Kaderphilosophen.
In seinen "Erläuterungen für Außenstehende" hält Peter Ruben mit guten Gründen fest, daß die Kaderphilosophie im Kontext der Konsolidierung von Stalins Alleinherrschaft entsteht, der Ende der zwanziger Jahre den "theoretischen Arbeitern" abverlangte, "unseren Praktikern in ihrem Kampf für den Sieg des Sozialismus die Waffen zu liefern". Es ist, so sieht es Ruben, jene Präsentation der Theorienbildung als Waffenproduktion, die für die Kaderphilosophie zur barbarisierenden Grundannahme wurde, womit es nicht mehr um Denken und Erkennen, sondern darum ging, "alle wie immer gearteten bürgerlichen Theorien kurz und klein zu schlagen und mit Stumpf und Stiel auszurotten" (Stalin).
Wenn Ruben diesen Rückfall in kriegskommunistische Barbarei auf dem Boden der ehemaligen DDR mit dem junghegelianischen Programm einer "Verwirklichung der Philosophie" identifiziert und erläutert, es sei keine national deutsche Angelegenheit gewesen, sondern durch die russische Revolution weltgeschichtlich in Szene gesetzt, so übersieht er, daß sich Marx als "Mann der Wissenschaft" verstanden und zusammen mit Lassalle die deutsche Sozialdemokratie auf die europäische Aufklärung verpflichtet hat. Ruben vergröbert die historischen Zusammenhänge, wenn er dann weiter argumentiert, es sei allerdings eine national deutsche Angelegenheit gewesen, dieses Verwirklichungs-Experiment zur faschistischen Kolonialisierung der Völker Osteuropas auszunutzen, was in der Reaktion zur sowjetischen Besetzung Ostdeutschlands geführt und damit Bedingungen hergestellt habe, denen auszuweichen der Philosophie in der DDR unmöglich gewesen wäre. Und er stellt die Dinge auf den Kopf, wenn er sich dafür auf Stephan Hermlin beruft, der zur Rechtfertigung seiner Stalin-Oden kürzlich behauptete, er habe in seinem Leben nur vor der Wahl zwischen zwei Barbareien gestanden, der faschistischen und antifaschistischen, und er habe sich für die antifaschistische Barbarei entschieden, weil "alles, was dazwischen stand, nicht zählte". Auch eine "Innensicht", mit grober Vereinfachung der historischen Wahrheit: als ob es keinen bürgerlich-liberalen, sozialdemokratischen oder kirchlich-konservativen Widerstand gegen Hitler gegeben hätte.
Gegen ein vereinfachendes Denken argumentieren gelegentlich auch die Beiträge dieses Bandes. So gab es nach Gerlachs Auffassung, und das scheint mir richtig gesehen, Differenzierungen im Feindbild nur auf Nebenschauplätzen wie der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie im Spektrum zwischen Popper und Habermas, aber bis zuletzt kein Pardon auf dem "Hauptkampfplatz" der Auseinandersetzung mit der "spätbürgerlichen" Philosophie. Seine "Innenansicht" biegt jedoch in der Beschreibung "persönlicher Erfahrungswerte" Dienstleistungen im Parteiauftrag zu Akten inneren Widerstands um, etwa das mitgeteilte Faktum, daß es "gelungen" sei, zu Beginn der achtziger Jahre für den Lehrbetrieb eine Auswahl von Texten zu Nietzsche, Dilthey und Heidegger herauszubringen, die in Wahrheit vom DDR-Hochschulministerium autorisiert, aber nur für wenige Eingeweihte bestimmt war; nicht zu reden davon, daß Gerlach an anderen Textbänden dieser Art in Zusammenarbeit mit der Parteihochschule beim ZK der SED mitgewirkt und damit die skandalöse Publikationslenkung vom Zentrum der politischen Macht her unterstützt hat.
Die Umbiegung historischer Wahrheiten durch solche "Innenansichten" erreicht den Gipfel im Rückblick auf das letzte Aufbäumen der Kaderphilosophie in der Nietzsche-Debatte der späten achtziger Jahre. Es ist Kapferer zuzustimmen, daß sie etwas Tragikomisches an sich hatte, sofern der Kaderphilosoph Buhr dem einstigen Opfer Harich in der Zeitschrift "Sinn und Form" seine eigene, langjährig praktizierte inquisitorische Haltung vorwarf, während dieser sich der alten stalinistischen Machenschaften entsann und Nietzsches Spuren "auslöschen" wollte. Aber das komische ist, daß den Schlußpunkt der Debatte, um mit Kapferer zu reden, eine "gesinnungspolizeiliche Eingreiftruppe" zur Aufrechterhaltung des alten Feindbilds in der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" (1988) setzt, an deren Spitze der Kaderphilosoph Gerlach steht, der dann nach der Wende eine private Nietzsche-Fördergesellschaft mit Westkuratorium gründet.
Der Leser vergleiche damit den Bericht von einer gescheiterten Karriere, den Guntolf Herzberg für diesen Band verfaßt hat. Offenherzig und lebendig geschrieben, gibt er Einblicke in den inneren Notstand jüngerer DDR-Philosophen, die ihren schwierigen Standort in der Gegenwart ohne Beschönigung und Rechthaberei überdenken und unsere wichtigsten Gesprächspartner für eine gemeinsame Zukunft sind. MANFRED RIEDEL
Norbert Kapferer (Hrsg.): "Innenansichten ostdeutscher Philosophen". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994. 160 S., br., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main