Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 39,00 €
  • Gebundenes Buch

Die Bedeutung des grundgesetzlichen Würdebegriffs ist noch immer ungeklärt. Rechtsprechung und Literatur verzichten in der Regel auf eine positive Bestimmung des Begriffs und argumentieren negativ, vom Verletzungsvorgang her. Der für die Identifikation verbotener Verletzungshandlungen erforderliche Konsens im Einzelfall jedoch stellt sich immer seltener ein. Christoph Goos weist anhand der Materialien und weiterer zeitgenössischer Texte nach, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes - anders als verbreitet angenommen - eine durchaus präzise Vorstellung von der Bedeutung des Würdebegriffs…mehr

Produktbeschreibung
Die Bedeutung des grundgesetzlichen Würdebegriffs ist noch immer ungeklärt. Rechtsprechung und Literatur verzichten in der Regel auf eine positive Bestimmung des Begriffs und argumentieren negativ, vom Verletzungsvorgang her. Der für die Identifikation verbotener Verletzungshandlungen erforderliche Konsens im Einzelfall jedoch stellt sich immer seltener ein. Christoph Goos weist anhand der Materialien und weiterer zeitgenössischer Texte nach, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes - anders als verbreitet angenommen - eine durchaus präzise Vorstellung von der Bedeutung des Würdebegriffs hatten. Sie verstanden unter der Würde des Menschen seine innere, geistige Freiheit, die in der NS-Zeit systematisch mit Füßen getreten worden war. Ausgehend von diesem historischen Befund werden das Schutzgut - die unvertretbare Erst-Person-Perspektive jedes Menschen - und die Normgehalte des Art. 1 Abs. 1 GG (Antastungsverbot, Achtungs- und Schutzpflicht) dargestellt und entfaltet. Ausgezeichnet mit dem »Preis des Präsidenten der Italienischen Republik« und dem »Promotionspreis der Universitätsgesellschaft Bonn«; außerdem auf der Shortlist »OpusPrimum«, Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation 2011.
Autorenporträt
Dr. Christoph Goos ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn.

Dr. Dr. Udo Di Fabio ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2012

Zur inneren Freiheit sollten alle finden

Was hatten die Schöpfer des Grundgesetzes im Sinn, als sie die Würde des Menschen an dessen Anfang stellten? Christoph Goos hat eine überzeugende Rekonstruktion vorgelegt.

Was verstanden die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter der "Würde des Menschen", die sie im ersten Grundgesetzartikel an den Anfang der Verfassung stellten? Dafür interessierten sich die späteren Interpreten der Verfassung kaum. Das Bundesverfassungsgericht formulierte bereits 1952, dass maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift der darin "zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers (ist), so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist". Diesen Grundsatz erstreckten die Karlsruher Richter stillschweigend auch auf die Verfassungsinterpretation.

In der nun sechzig Jahre währenden Deutungskontroverse um den grundgesetzlichen Würdebegriff kam es, wie Matthias Herdegen 2004 im Zuge der Auseinandersetzung um seine umstrittene Neukommentierung des ersten Grundgesetzartikels anmerkte, nicht etwa zu einer Kanonisierung der Schöpfer des Grundgesetzes, sondern einzelner früher Exegeten. Zu interpretativen Vorgaben wurden vor allem die Deutungen des Tübinger Staatsrechtslehrers Günter Dürig, der mit seiner "Objektformel" dem Gehalt des Artikels 1 Absatz 1 GG "vom Verletzungsvorgang her" auf die Spur zu kommen versuchte.

In Rechtsprechung und Literatur sind die Konturen des Würdebegriffs indes unklar und vage geblieben. Sie sei "zum bedeutungslosen Rechtsbegriff geworden", konstatiert der Bonner Verfassungsrechtler Christoph Goos, der sich gegen alle Traditionen seines Faches auf eine ideengeschichtliche Spurensuche begeben hat, um das "Würdeverständnis" der Väter und Mütter des Grundgesetzes zu rekonstruieren. Goos zeigt zunächst in einer Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wie sich die Interpretation des ersten Absatzes des ersten Grundgesetzartikels im Laufe der Jahre entwickelt hat. Nach dieser Analyse tritt er einen Schritt zurück und wertet die Materialien zum Grundgesetz aus, insbesondere die stenografischen Protokolle des Ausschusses für Grundsatzfragen, die erst 1993 im fünften Band der Edition "Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle" einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden - und von den Experten weiterhin nur spärlich konsultiert werden.

Mit seiner Rekonstruktion geht Goos auf Distanz zu Günter Dürig. Dessen Deutungsversuche dürften nicht in den Rang einer "Vorgabe" erhoben werden, und sie dürften schon gar nicht ungeprüft identifiziert werden mit der Konzeption der Väter und Mütter des Grundgesetzes. Der heutige Artikel 1 Grundgesetz ist das Resultat einer vom Hauptausschuss und vom Plenum des Parlamentarischen Rates, von den alliierten Militärgouverneuren und der Mehrheit der westdeutschen Landtage gebilligten Entscheidung des interfraktionellen Fünfer-Ausschusses. Von Anfang an war der Würdebegriff, der das zu schaffende Verfassungsdokument prägen sollte, in den Beratungen des am 1. September 1948 erstmals zusammengetretenen Parlamentarischen Rates "fraktionenübergreifend präsent".

Demokratie sei nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut habe, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben, betonte der von der SPD entsandte Carlo Schmid in der zweiten Sitzung des Plenums am 8. September 1948. Adolf Süsterhenn unterstrich in derselben Sitzung, dass für die CDU die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit "Höchstwert" seien, dem der Staat zu dienen habe.

Theodor Heuss bekannte, er habe eine "innere Sorge", mit einer vorstaatlichen Deklaration zu beginnen. Der Satz, dass jeder Mensch von Natur aus eigene Rechte besitze, scheine ihm "bei aller Wertschätzung des Naturrechtlichen" in der Interpretation "vollkommen freibleibend" zu sein. Der erste Satz müsse sozusagen das Ganze decken. Er wolle bei der Formung des ersten Absatzes "von einer Menschenwürde ausgehen, die der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen" könne. In seinem Vorschlag - "Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung" - stehe die Würde daher als "nicht interpretierte These". "Dass wir in dieser geschichtlichen Stunde die Würde des Menschen an den Anfang der Verfassung stellen, halte ich für sehr bedeutsam", betonte die von der CDU entsandte Helene Weber. Dabei bleibe es indes "dem Einzelnen unbenommen, ob er von religiösen, philosophischen, ethischen oder geschichtlichen Einsichten" ausgehe.

Aus den Äußerungen von Heuss und Weber wird, wie Goos erläutert, gern geschlossen, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Menschenwürde den späteren Interpreten der Verfassung ganz und ohne Vorgaben zur Konkretisierung überantworten wollten. Diese Folgerung entlarvt er als Fehlschluss, denn: "Helene Weber und Theodor Heuss kam es allein darauf an zu betonen, dass man unterschiedliche Motive für den Schutz und die Betonung der Würde des Menschen haben konnte." Man habe von unterschiedlichen Einsichten ausgehen und sich doch im Ergebnis wieder treffen können.

Welche grundlegenden Einsichten aber waren das? Goos rekonstruiert die in den Beratungen des Parlamentarischen Rates oft nur grob skizzierte Menschenwürde vor allem im Rückgriff auf Theodor Heuss und Carlo Schmid. Schmids Verweise auf die "immanente Menschenwürde" bei Epiktet und auf Luthers "Freiheit eines Christenmenschen" verdichten sich bei Goos zu einem Verständnis der Menschenwürde als "innere Freiheit". Wenig überraschend ist der Befund, dass Artikel 1 Absatz 1 GG vor allem als Gegenentwurf zur Ideologie und Realität des Nationalsozialismus konzipiert wurde. Goos' Spurensuche in den Schriften und Reden von Heuss und Schmid, die nebenbei in großen Schritten die Geschichte des politischen Denkens durchmisst und genaues Augenmerk auf die Schriften der "Weißen Rose" und des "Kreisauer Kreises" legt, rückt die geistige Freiheit ins Zentrum der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie. Thema der Vorschrift sei die innere Freiheit, Thema der nachfolgenden Grundrechte hauptsächlich die äußere Freiheit des Menschen.

Goos geht es keineswegs um die Verfestigung der archäologischen Rekonstruktion eines "original intent" im Sinne des Originalismus konservativer amerikanischer Verfassungsrechtler. Vielmehr denkt er die Konzeption der Mütter und Väter des Grundgesetzes weiter - mitunter eigenwillig und etwas grobmaschig - im Sinne einer seit 1945 etablierten universalen Menschenrechtskultur, die an das Menschsein per se anknüpft.

Ohne dass dies dem Autor bewusst wäre, fügt sich diese Arbeit ein in eine Reihe von Büchern zur Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, allen voran die so streitbare wie epochale Studie des amerikanischen Historikers Samuel Moyn ("The Last Utopia. Human Rights in History"). Vielfältige Parallelen werden bei der Lektüre erkennbar - denkt man etwa an die entscheidende Rolle des in der deutschen Verfassungskonstellation prominent von Günter Dürig verkörperten christlichen Personalismus bei der Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Dort entschied man sich, wie es der französische Thomist Jacques Maritain formulierte, "nicht auf der Grundlage gemeinsamer spekulativer, sondern auf der gemeinsamer praktischer Ideen vorzugehen, nicht durch die Bejahung eines geteilten Bildes der Welt, der Menschen und der Erkenntnis, sondern durch die Bejahung eines einzigen Korpus handlungsorientierender Vorstellungen". Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war das "Resultat eines erfolgreichen Prozesses der Wertegeneralisierung" (Hans Joas). Erfolgreiche Wertegeneralisierer, so zeigt Christoph Goos' anregende Untersuchung, waren auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes, als sie die Menschenwürde an den Anfang der Verfassung stellten.

ALEXANDRA KEMMERER.

Christoph Goos: "Innere Freiheit". Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011. 245 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Alexandra Kemmerer stellt Christoph Goos' "Rekonstruktion" des ersten Absatzes des ersten Artikels des Grundgesetzes vor und lobt sie als erhellende und inspirierende Arbeit. Der Bonner Verfassungsrechtler bewegt sich mit seiner ideengeschichtlichen Analyse in einer für sein Fach ungewöhnlichen Richtung, konstatiert die Rezensentin, denn die sei bislang sowohl in der Rechtsprechung als auch in ihrer Interpretation "vage" geblieben. Nach einer Untersuchung der Entwicklung des ersten Grundgesetzartikels aus der Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wendet sich der Autor den Quellen zu, die die Schaffung des Grundgesetzes dokumentieren, vor allem den Protokollen des Ausschusses für Grundsatzfragen, wie die Rezensentin erklärt. Maßgeblich in der Auswertung der Beiträge der Grundgesetzväter Theodor Heuss und Carlo Schmid kommt der Autor zu einer Interpretation der Menschenwürde als "innerer Freiheit" und erkennt hier - nicht wirklich "überraschend, wie Kemmerer anmerkt - einen "Gegenentwurf" zum Nationalsozialismus. Goos schreitet von hier aus, wenn mitunter auch etwas "eigenwillig und grobmaschig" gedanklich weiter zur seit 1945 entwickelten "universalen Menschenrechtskultur" und zur Entstehung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", so die Rezensentin weiter, die diese Studie insgesamt aber sehr überzeugend findet.

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr