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Eine »Geschichte der unsichtbaren Welt in einzelnen Blättern«, nichts Geringeres schwebt dem Dichter und Theologen Christian Lehnert in diesem Buch vor. Ausgangspunkte seiner Gedanken sind Naturgeister und niedere Gottheiten, dualistische Vorstellungen von Engeln und Dämonen, himmlische Hierarchiebildungen, Grenzüberschreitungen zwischen Diesseits und Jenseits mit geheimnisvoller geistiger Schmuggelware im Gepäck. Gnosis, Kabbala und Visionen kommen ebenso vor wie moderne Psychotechniken. Von der sogenannten 'faktischen' Seite der Wirklichkeit her aber treten Analogien des Geistersehens im…mehr

Produktbeschreibung
Eine »Geschichte der unsichtbaren Welt in einzelnen Blättern«, nichts Geringeres schwebt dem Dichter und Theologen Christian Lehnert in diesem Buch vor. Ausgangspunkte seiner Gedanken sind Naturgeister und niedere Gottheiten, dualistische Vorstellungen von Engeln und Dämonen, himmlische Hierarchiebildungen, Grenzüberschreitungen zwischen Diesseits und Jenseits mit geheimnisvoller geistiger Schmuggelware im Gepäck. Gnosis, Kabbala und Visionen kommen ebenso vor wie moderne Psychotechniken. Von der sogenannten 'faktischen' Seite der Wirklichkeit her aber treten Analogien des Geistersehens im philosophischen Denken und in den Naturwissenschaften ins Bild. Zugrunde liegt die Frage: Wie kann das Numinose heute, in einer postsäkularen Welt, zu einer progressiven Kraft werden, welche die vorherrschenden, scheinbar festgefügten Weltbilder unterwandert und verflüssigt? Den kleinen Rissen in den festen Straten religiöser oder wissenschaftlicher, liberaler oder säkularer Weltanschauungen folgt Lehnert, sucht jene Risse, wo der Zweifel eindringt, wo die vergessenen Axiome der 'Exaktheit' und die Brüchigkeit ihrer Anschauungen aufleuchten.

Wie stellt man derartiges dar? Begriffliches Denken, poetisches Bild und Erzählung, Autobiographisches und Spekulation schwingen in den einzelnen Texten ineinander, erhellen sich gegenseitig. Eine bewegliche Form des Schreibens stellt sich ein: ein suchendes Sprechen, das sich ins Unsagbare vortastet. So versammeln sich - immer vom Ausgangs- und Bezugspunkt des eigenen Lebens aus und ohne Fiktion - Bruchstücke eines Bekenntnisses als »Blätter« sehr unterschiedlicher Tonlagen. Sie behalten als Ganzes die Gestalt einer Frage.
Autorenporträt
Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtbücher und Prosabände, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis für Nature Writing (2018).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In die Kitsch- und Esoterikkiste gehört Christian Lehnerts Buch über Engel nicht, versichert Rezensentin Birthe Mühlhoff. Dazu distanziert sich der Leipziger Pfarrer und Schriftsteller viel zu sehr von solchen Publikationen. Stattdessen liest die Kritikerin hier luzide Essays und Erzählungen über Menschen, denen Lehnert als Pfarrer begegnete, verknüpft mit nacherzählten Stellen aus dem Alten Testament oder Gedanken von Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Kafka und anderen. Auch Anekdoten aus dem eigenen Leben baut Lehnert ein, Erinnerungen an die DDR etwa, ergänzt die Rezensentin, die zudem Lehnerts Erzählton hervorhebt: Einiges schildere der Autor so anschaulich, dass sie sich nicht sicher ist, ob es sich nicht doch um Fiktion handelt. Dass Lehnert nicht belehren will, rechnet sie ihm hoch an. Dennoch empfiehlt sie das Buch eher Lesern, die zumindest noch einen Bezug zu Religion haben.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2021

Gesten Gottes
Der Lyriker Christian Lehnert schreibt illusionslose Prosa über Engel
Engel nannte der evangelische Theologe Karl von Hase im 19. Jahrhundert einmal scherzhaft „metaphysische Fledermäuse“. Seitdem sind die himmlischen Wesen in ihrem Ansehen nicht gerade gestiegen. Engel haben eine ähnliche Wirkung wie Sinnsprüche vor kitschigen Sonnenuntergängen im Internet: Sie verleiten dazu, denjenigen, der sich zu ihnen bekennt, intellektuell nicht für voll zu nehmen.
Der Leipziger Schriftsteller und Pfarrer Christian Lehnert, von dem bereits sieben Gedichtbände bei Suhrkamp erschienen sind, widmet sich in seinem kenntnisreichen und sprachlich dichten Prosaband „Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten“ der Kraft, die von diesen schwer greifbaren Wesen ausgeht.
Über die Gegenwart macht sich Lehnert keine Illusionen: An unserem Selbst perlen die Engel heute ab „wie der Regen auf der Frontschutzscheibe eines Autos, und der Scheibenwischer schiebt sie zum Rand, hinein in die Ramschkisten der Erbauungs- und Esoterikabteilungen in den Buchläden“.
Auch theologisch sind Engel ein Problem. Denn sind sie nicht eine „spirituelle Verunreinigung“ im Monotheismus? Als Boten – angeli – existieren sie tatsächlich auch in anderen spirituellen Traditionen, im Judentum und Islam. Sie sind nicht etwa pantheistische Deko, sondern „Sehhilfen“ für die Unbegreiflichkeit Gottes. Oder mit Lehnert formuliert: „Der Engel ist Geste, die Bedeutung ist Gott.“
Von keiner übergreifenden These zusammengehalten, auf kein Fazit zulaufend, gleiten die einzelnen Essays assoziativ ineinander. Begegnungen mit Menschen, die ins Pfarrhaus kommen, stehen neben frei nacherzählten Stellen aus dem Alten Testament und die wiederum neben wunderbaren Naturbetrachtungen. Eingewoben sind Gedanken von Jakob Böhme, Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, genauso wie von Cioran oder Kafka.
Dennoch wirkt die Vielzahl an unterschiedlichen Formaten und Annäherungen an Genres wie aus einem Guss. Auch autobiografische Erinnerungen fügen sich nahtlos ein. So berichtet Lehnert, wie er im Frühjahr 1989 mit anderen wehrdienstverweigernden Bausoldaten in den Chemiewerken Leuna nach einer Havarie eine zähflüssige Substanz zu entfernen hatte. Oder wie er als Student in Leipzig eine Wohnung in einem Abrisshaus bezieht. Das Dach ist zwar eingefallen, aber immerhin tropft es nicht bis in den zweiten Stock hinunter. Mit der einzigen verbliebenen Nachbarin verbrennt er gemeinsam im Keller eine Ratte, um der Plage Herr zu werden. Der Schrei einer Ratte, die stirbt: für Lehnert ist auch das eine Art Engelsgesang. Ein Laut, der durch Mark und Bein geht, und den verändert, der ihn hört.
Die Erzählungen haben etwas Unwirkliches. Als Leser kann man sich nie ganz sicher sein, ob das, was Lehnert über die Insektenbeschreibungen von Jean-Henri Fabre schreibt, nicht auch auf seine eigenen Schilderungen zutrifft: „So plastisch“ beschreibe Fabre die Wespen, „dass sie immer wieder wie fiktional erscheinen“.
Lassen sich Engel beschreiben, klassifizieren wie Insekten? Die Angelologie mit ihren komplizierten Hierarchien hat es immer wieder versucht. Die Kunst ebenfalls, indem sie Engel als Zwitterwesen darstellt, in der Renaissance als beschwingte Jünglinge, im Barock eher in Richtung kindliche Pummelchen. „Domestiziert wie Hausschweine“ nennt Lehnert diese Putten, nur um an anderer Stelle ganz subtil auch zu ihrer Ehrenrettung anzutreten.
Dabei zielen Lehnerts Gedanken nicht auf Klarstellung und verzichten auf Belehrung. Sie schlagen einen geschickten Kurs zwischen der Abgeklärtheit unserer Gegenwart und der Verklärung ein, die der Einbruch des ganz anderen ins Leben bedeuten kann. Wenn es um Engel geht, gilt es Widersprüchlichkeit auszuhalten. Engel sind, schreibt Lehnert an einer Stelle unverblümt, „unwiderlegbar eine esoterische Spinnerei“. Was ein anderer Mensch als Vision erlebt, müssen wir heute rational „als dissoziativen Zustand oder als Halluzination interpretieren“.
Und trotzdem gibt Lehnert seinem Satz, dass „nicht ganz bei sich ist“, wer eine Engelserscheinung hat, eine poetische Wendung: Mein engelhafter Doppelgänger, der „Schutzengel“ eines jeden Menschen, nimmt vorweg, wer ich sein werde oder sein könnte – und führt mich. Wie könnte man da „ganz bei sich“ sein?
Lehnerts Erinnerungen aus dem „Freigehege“ DDR bilden eine Folie für Beobachtungen neuer Unfreiheiten in unserer Gegenwart. Selbstverwirklichung und Selbstsorge sind zu gesellschaftlichen Imperativen geworden. Niemandem wird mehr vorbehaltlos das Recht zuerkannt, sich anders zu verhalten, als es der eigene Vorteil verlangt. Auch in den Kirchen sieht Lehnert eine Wohlstandsfrömmigkeit um sich greifen, die sich nur noch um unsere eigene Geborgenheit dreht: Gott liebt uns, so wie wir sind. Eigentlich wäre das die Aufgabe von Schutzengeln. So würden sie uns davor bewahren, Gott irgendwelche Worte in den Mund zu legen.
Für wen der religiöse Zug längst abgefahren ist, der wird wohl auch mit diesem Buch nicht darauf aufspringen. Großen Gewinn verspricht es allerdings für jeden, der sich nicht mit der antiquierten Bimmelbahn zufriedengeben will, als die uns Religion oft präsentiert wird.
BIRTHE MÜHLHOFF
Es handle sich beim Schutzengel
um „eine esoterische Spinnerei“ –
aber eine mit poetischer Wendung
Christian Lehnert:
Ins Innere hinaus – Von
den Engeln und Mächten. Suhrkamp, Berlin 2020.
234 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»... das Wunderbare an Lehnerts schwebender Erzählweise: Es bleibt offen, ob sich die Mächte in der Außenwelt oder in einem inneren Raum Bahn brechen, ob es sich gar um einen Spezialfall der Einbildungskraft handelt. Mit dem Geheimnis ihres Orts vertieft sich nur das Geheimnis des menschlichen Daseins.« Marion Poschmann DIE ZEIT 20230622