Inseln üben seit jeher eine besondere Faszination und Anziehung auf uns aus. Sie können Orte der Ruhe und Entspannung sein. Heilige oder heilende Orte. Isolation im besten oder schlechtesten Sinne. Wir verbinden sie mit berühmten Entdeckern wie Charles Darwin oder Christoph Kolumbus und durch Romane wie 'Robinson Crusoe' oder 'Die Schatzinsel' mit Abenteuern und Gefahren, Sehnsucht und Einsamkeit.All diesen und weiteren Facetten des Insellebens geht Gavin Francis nach. Dabei wirft er philosophische und psychologische Fragen auf und greift sowohl auf die großen Reiseerzählungen der Literatur als auch auf seine eigenen Erfahrungen als Inselbewohner und -reisender zurück. Er führt uns nach Treasure Island und zu den fernen Galapagosinseln, erzählt von seiner Zeit als Leuchtturmwärter auf der kleinen schottischen Isle of May - und von dem Spagat, sein Verlangen nach Selbstbestimmtheit mit dem Leben als Arzt und Familienvater zu vereinen.'Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht' spieltmit den Gegenpolen von Ruhe und Bewegung, Unabhängigkeit und Verbundenheit, die nie relevanter waren als in unserer heutigen, permanent vernetzten Welt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Alexandra Wach versinkt in der Meditation von Gavin Francis über das Selbstgenügsame an Inseln. Mit Bezug zu D. H. Lawrence und seiner Erzählung "Der Mann, der Inseln liebte", unter Zuhilfenahme von Karten und Texten von Autoren wie Montaigne oder Marc Aurel, schließlich mittels eigener Erfahrungen auf Athos oder den Andamanen erschließt der Autor der Rezensentin den Zauber des Inseldaseins.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2022Gedankenspringen mit Stethoskop
Seit Homer einen wundersamen Ort in den Weiten des Meeres beschrieb, an dem die Zauberin Circe auf Männerfang ging und andere antike Märchenerzähler von den Hesperiden berichteten, auf denen ein Baum mit goldenen Äpfeln wuchs, wurden Inseln zum Synonym für mythische Ferne und Ziel der großen Sehnsüchte. Damit war auch die Grundmelodie dafür geschaffen, dass sich über die Jahrhunderte Abertausende Schriftsteller mit Themen wie Isolation, endemischen Erscheinungen und merkwürdigen singulären Begebenheiten beschäftigten - gebündelt zu einer schier unübersehbaren Menge von Inselgeschichten. Da gibt es wahre oder erfundene, phantasievolle oder nüchterne, über Plätze unter sengender Sonne oder im Eis erstarrte und alle mit einem Hauch Abenteuer. Manche davon wurden zu Weltliteratur, und andere verstaubten in den Bibliotheken. Das heißt, dass jedes neue Inselbuch sich einerseits in exquisiter Gesellschaft befindet, andererseits sich aber auch einer mächtigen Konkurrenz erwehren muss. Der Schotte Gavin Francis hat es trotzdem versucht, sich hier einzuordnen - mit einem etwas zwiespältigen Ergebnis. Es gibt in seinem durch die reiche Illustration mit hochinteressanten alten Karten reizvoll gestalteten Werk eine Fülle schöner poetischer Umschreibungen und kluge Beobachtungen, aber auch eine Menge verwirrender Gedankensprünge und persönliche Anmerkungen wie etwa den ständig wiederkehrenden Hinweis auf Francis' eigentlichen Beruf als Arzt, die man nicht unbedingt wissen muss und die den Fluss der Erzählung stören. Aufgefüllt wird sein Text - mit einer deutlichen Vorliebe für nasskalte Regionen - durch zahlreiche Zitate als Beweis dafür, dass er seinen Stoff intensiv studiert hat. Entsprechend lang ist mit fast zweihundertfünfzig Positionen das Quellenverzeichnis. Dort findet man wertvolle Hinweise auf Inselbücher, die man unbedingt (wieder) lesen sollte. tg
"Inseln - Die Kartierung einer Sehnsucht" von Gavin Francis. DuMont Buchverlag, Köln 2021. 256 Seiten, 80 Abbildungen. Gebunden, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seit Homer einen wundersamen Ort in den Weiten des Meeres beschrieb, an dem die Zauberin Circe auf Männerfang ging und andere antike Märchenerzähler von den Hesperiden berichteten, auf denen ein Baum mit goldenen Äpfeln wuchs, wurden Inseln zum Synonym für mythische Ferne und Ziel der großen Sehnsüchte. Damit war auch die Grundmelodie dafür geschaffen, dass sich über die Jahrhunderte Abertausende Schriftsteller mit Themen wie Isolation, endemischen Erscheinungen und merkwürdigen singulären Begebenheiten beschäftigten - gebündelt zu einer schier unübersehbaren Menge von Inselgeschichten. Da gibt es wahre oder erfundene, phantasievolle oder nüchterne, über Plätze unter sengender Sonne oder im Eis erstarrte und alle mit einem Hauch Abenteuer. Manche davon wurden zu Weltliteratur, und andere verstaubten in den Bibliotheken. Das heißt, dass jedes neue Inselbuch sich einerseits in exquisiter Gesellschaft befindet, andererseits sich aber auch einer mächtigen Konkurrenz erwehren muss. Der Schotte Gavin Francis hat es trotzdem versucht, sich hier einzuordnen - mit einem etwas zwiespältigen Ergebnis. Es gibt in seinem durch die reiche Illustration mit hochinteressanten alten Karten reizvoll gestalteten Werk eine Fülle schöner poetischer Umschreibungen und kluge Beobachtungen, aber auch eine Menge verwirrender Gedankensprünge und persönliche Anmerkungen wie etwa den ständig wiederkehrenden Hinweis auf Francis' eigentlichen Beruf als Arzt, die man nicht unbedingt wissen muss und die den Fluss der Erzählung stören. Aufgefüllt wird sein Text - mit einer deutlichen Vorliebe für nasskalte Regionen - durch zahlreiche Zitate als Beweis dafür, dass er seinen Stoff intensiv studiert hat. Entsprechend lang ist mit fast zweihundertfünfzig Positionen das Quellenverzeichnis. Dort findet man wertvolle Hinweise auf Inselbücher, die man unbedingt (wieder) lesen sollte. tg
"Inseln - Die Kartierung einer Sehnsucht" von Gavin Francis. DuMont Buchverlag, Köln 2021. 256 Seiten, 80 Abbildungen. Gebunden, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Setzt [...] Inseln ein literarisches Denkmal« Eva Krafczyk, DPA »Kunstvolles Island-Hopping, nicht nur in reisearmen Zeiten.« 3SAT KULTURZEIT »So dicht und atmosphärisch sind seine Beschreibungen, dass man meint, Möwenschreie zu hören und von der fiktiven Gischt nass zu werden [...] ein meditatives Lesevergnügen.« Anne Kohlick, DEUTSCHLANDFUNK KULTUR »[Francis] liest von den Reiseerfahrungen anderer, etwa bei Montaigne, und seine eigenen verdichten sich zu einer Meditation aus historischen Karten und Texten, von Marc Aurel bis zu Jorge Luis Borges.« Alexandra Wach, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Ein Buch, das einfach aussieht, vom Leser aber erst erschlossen werden muss. Die Reise lohnt sich.« Nicolas Freund, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Mit Francis' klugen Text-Fragmenten, die mit 80 wunderschönen alten Inselkarten illustriert sind, hüpft man vergnügt von einem Eiland zum nächsten, folgt seinen Ausflügen in die Literaturgeschichte, lernt viel und kann sich immer weiter weg sehnen.« Barbara Schaefer, WELT AM SONNTAG »Nicht nur reif für die Insel, sondern bereit für ein ganzes Buch über sie war Autor Gavin Francis und schrieb sich die Sehnsucht nach einsamen Eilanden auf 200 philosophischen Seiten von der Seele.« Iona Schlußmeier, GEO SAISON »Ein Buch zum Verreisen im Kopf.« Sabrina Junge, DEUTSCHE SEESCHIFFFAHRT »Es gibt in [Gavin Francis`] durch die reiche Illustration mit hochinteressanten alten Karten reizvoll gestalteten Werk eine Fülle schöner poetischer Umschreibungen und kluge Beobachtungen« Theodor Geus, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Insofern ist 'Inseln' in der erzwungenen Isolation durch die Pandemie nicht nur eine Möglichkeit, Fernweh zu stillen, sondern auch die positiven Seiten der Isolation zu untersuchen. « Eva Krafczyk, DIE RHEINPFALZ »'Inseln' nimmt den Leser mit auf die Reise« LÜBECKER NACHRICHTEN »Seine Manie, (vor allem karge, nördliche) Inseln aufzusuchen und ihre Geschichte zu erkunden, hat Francis zu einem bemerkenswerten Insel-Buch bewogen. [...] Und mit all den Karten ein schön gemachtes Buch.« NEUE PRESSE »Es ist wahrhaftig faszinierend, sich in die historischen Karten des Buches 'Inseln - Die Kartierung einer Sehnsucht' zu vertiefen. [...] Eine Mischung voller Magie.« FREUNDIN »Wer das Buch aufschlägt und meint schon nach der Lektüre weniger Sätze Möwengeschrei zu hören, hat das Wesen dieses Werks voll und ganz verstanden.« Werner Krause, KLEINE ZEITUNG »Ein neues Abenteuer für abenteuerlustige Leser.« Robert Sernatini, MUSENBLÄTTER »Dieses Buch ist kein Reisebericht klassischer Art, eher schon ein bibliophiles Meisterstück, bei dem es dem Autor gelingt, dem Leser die Faszination und das Geheimnis der Inseln nahezubringen« Herbert Pardatscher-Bestle, BÜCHERRUNDSCHAU »Eine Erkundung der menschlichen Faszination für Inseln ... Diese zum Nachdenken anregende Lektüre kommt im richtigen Moment ... eine Balance zwischen Verbundenheit und Isolation zu finden, war nie wichtiger als jetzt« THE HERALD »In diesem Buch sind so viele Schätze und Freuden zu finden, dass fast jede Seite zum Zitieren einlädt« THE SCOTSMAN »In seinem eleganten, forschenden Buch, das mit breiter Bildung und gründlicher Erfahrung gewürzt ist, liefert Francis einen frischen Blick auf ein ewiges Paradox: Ob wir gesellig in der Stadt oder abgeschieden auf einer Insel leben - ein Teil von uns rätselt und fantasiert immer über die andere Option« THE SPECTATOR »Ein großartig geschriebenes und ebenso tiefsinniges wie abwechslungsreiches Reisebuch der besonderen Art.« Wolfgang A. Niemann, BUCHREZENSIONEN ONLINE
Die Möglichkeit einer Insel
Woher kommt die Sehnsucht nach Isolation? Ein Arzt und ein Autor suchen in ihren Büchern nach Antworten
Noch vor zehn Jahren spielte die Tatsache, auf einer Insel zu leben, für die meisten Briten keine große Rolle. Klar, geografisch ist Großbritannien eine Insel, oder vielmehr ein Archipel. Aber so richtig zählte das nicht, auch wenn Briten vom Rest Europas noch immer gerne als „the continent“ sprechen. Man kann ja mit dem Zug nach Paris fahren und überhaupt: Als Zentrum des ehemaligen Commonwealth ist man natürlich eher so etwas wie ein eigener Kontinent, eine eigene Welt oder mindestens ihr Zentrum.
Der Brexit scheint im kollektiven britischen Bewusstsein wieder klargemacht zu haben, dass man sich tatsächlich auf einer Insel im Atlantik befindet, die mit dem Kontinent eben nicht natürlich verbunden ist. Gleich zwei sehr verschiedene Sachbücher britischer Autoren haben sich nun auf die Spuren dessen begeben, was eine Insel ausmacht, und obwohl es in beiden nicht oder kaum um Großbritannien geht, lesen sie sich doch auch wie Analysen der eigenen Lage. Alastair Bonnett ist als Professor für Sozialgeografie ein Experte für die Beziehungen von Menschen zu dem Land (oder Wasser), das sie bewohnen. Er hat mehrere Bücher über „Die seltsamsten Orte der Welt“ geschrieben, und sein neues Insel-Buch ist durchaus auch eine Fortsetzung dieser Reihe. Bonnett verkündet nicht weniger als „Das Zeitalter der Inseln“, wie der Titel seines Buches lautet. Klimawandel und neue technische Möglichkeiten seien bereits dabei, unsere Welt grundlegend zu verändern, und dies zeige sich insbesondere am Entstehen und Vergehen von Inseln, so die These Bonnetts. Eine spannende Prämisse, denn die Menschheitsgeschichte ließe sich, ob kulturell, politisch oder wirtschaftlich, in weiten Teilen als eine Geschichte der Inseln schreiben, angefangen von Odysseus’ Insel-Hopping bis zu den populistischen Abschottungsversuchen der Gegenwart.
Bonnett besucht zunächst neue, künstliche Inseln wie den Flughafen Hongkongs oder das absurde Luxusbauprojekt „The World“ in Dubai. Er spricht mit Einheimischen, geht, sofern sie zugänglich sind, auf den Inseln spazieren und trägt alle verfügbaren Informationen über Entstehung, Sinn und Zweck der Bauten zu einer Art Reportage zusammen. In Dubai zum Beispiel wohnt er bei einem jungen, westlichen Karrierepaar, das sich wegen der Sicherheit und Sauberkeit für ein Haus auf den künstlichen „Palm Islands“ entschieden hat, sich nun aber Sorgen macht, da das Kind kaum draußen spielen kann, einerseits wegen der extremen Temperaturen, aber auch, weil es auf der Insel außer Villen und Brackwasserkanälen nichts gibt.
Der Lebensraum der künstlichen Inseln kann den verschwindenden Raum der natürlichen Inseln selten ersetzen: Auf der wegen des steigenden Meeresspiegels vom Untergang bedrohten Pazifikinsel Fafa, beschreibt Bonnett, erodiert eine Seite der Insel derart schnell, dass im Küstenwasser noch die Palmstämme vom letzten Erdrutsch schwimmen. Diese Berichte von knapp zwei Dutzend Inseln und Archipelen bilden ein bedrohliches Panorama der aktuellen klimatischen und politischen Entwicklungen, kommen über bloße Beschreibungen aber selten hinaus. Bonnetts Buch ist am ehesten eine Phänomenologie der Insel der Gegenwart. Das ist trotz der unterhaltsamen Anekdoten, die er gesammelt hat, oft frustrierend, da die Kapitel meist abbrechen, wenn es interessant wird und er sich zu einer These durchringt.
Fragen und Ansätze für tiefergehende Nachforschungen gäbe es eigentlich genug. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn jemand in der Wüste von Dubai „The World“ nachbauen möchte? Was macht dieses lähmende Gefühl im Angesicht des Klimawandels mit den Inselbewohnern? Diese Fragen werden nur gestreift. Meist sind es Gemeinplätze, auf die Bonnetts Ausflüge hinauslaufen. Er stellt fest, künstliche Inseln seien oft keine öffentlichen Räume, sondern abgeschottete Bereiche. Gleichzeitig versuchten sie häufig, mit Naturschutzgebieten oder -projekten eine verloren gegangene Verbindung zwischen Mensch und Natur wiederherzustellen. Selbst diese Gedanken werden aber von Bonnett kaum weiterverfolgt. Spätestens beim Einbeziehen der Müllteppiche, die auf vielen Ozeanen treiben, wird zwar die Dramatik des menschlichen Einflusses auf die Weltmeere noch einmal verschärft, der Inselbegriff wird damit aber endgültig zu beliebig. Bonnett hat viele Inseln besucht und beschrieben, zu ihrem Wesen durchgedrungen ist er nicht.
Anders sein Landsmann Gavin Francis, Arzt und Schriftsteller. Auch er hat Dutzende Inseln besucht, viele davon real, manche auch nur in Büchern oder auf Karten. Zusammengetragen hat er aus Dokumenten, Reiseerlebnissen und der Literatur so etwas wie die Seele des Insularen oder, wie er es nennt, „Die Kartierung der Sehnsucht“. Neben vielen Karten und Zitaten stehen da Sätze wie: „Ein paar Monate nach meiner Shetland-Reise traf ich, während ich per Anhalter die Hebrideninsel Lewis überquerte, eine neunzehnjährige Französin, die ein staatliches Stipendium erhalten hatte, um durch Schottland zu reisen und Elfen zu suchen.“
Francis hat auch kein nüchternes Sachbuch über Inseln geschrieben, sondern versucht mit den Mitteln Literatur, Geografie und Reisen dem besonderen Gefühl, das Inseln auslösen, auf die Spur zu kommen. Er besucht die Orkney-Inseln und ein abgelegenes griechisches Kloster, er beobachtet den Sonnenaufgang an einer Klippe auf den Färöer-Inseln und fragt sich, warum sich bei Robinson Crusoe eigentlich immer alle nur für die Zeit auf der einsamen Insel interessieren. Er stellt mehr Fragen, als er beantwortet, aber die Inseln sind bei ihm mehr als Sandhaufen im Meer, auf denen jemand einen Flughafen oder ein Luxusressort gebaut hat.
Bei Francis geht es um eine Suche nach dem richtigen Maß zwischen Isolation und Verbundenheit, in dem man durchaus die Sinnsuche des Menschen der Gegenwart wiedererkennen kann, zwischen ständiger Erreichbarkeit und gleichzeitigem einsamem Starren auf einen Bildschirm. Mit seinem eigenwilligen, poetisch-assoziativen Verfahren, in knappen literarischen Skizzen eine Stimmung zu erzeugen, wird Francis dieser Sehnsucht gerecht, die Inseln noch immer auslösen. Ein Buch, das einfach aussieht, vom Leser aber erst erschlossen werden muss. Die Reise lohnt sich.
In einer Idee finden diese beiden unterschiedlichen Bücher zusammen und schließen unbewusst an den Brexit an: Francis stellt anhand der BBC-Radiosendung „Desert Island Discs“, in der Prominente ihre Songs für die einsame Insel vorstellen müssen und die seit 1942 gesendet wird, die Frage, ob es auch eine Lust am Schiffbruch und der einsamen Insel gibt. „Liegt hier der ewige Reiz von Robinson Crusoe? Dass wir alle danach dürsten, uns in der Einsamkeit zu definieren? Dass wir davon träumen, endlich Schiffbrüchige zu sein?“
Die Katastrophe als Chance auf den Neuanfang. Das erklärt vielleicht auch die etwas rätselhaften Aussprüche von Gilles Deleuze und D. H. Lawrence, den Bonnett zitiert, die beide die Essenz der Insel auf das Ei zurückführten. Das Eiland als Ort der Wiedergeburt. So hatte sich wahrscheinlich mancher auch den Brexit vorgestellt: Wie neugeboren aus dem Ei zu schlüpfen.
In diesem Punkt kommen die Bücher aber zum selben Schluss: Vor dem Neuanfang liegt erst die Zeit des Schiffbruchs und der einsamen Insel. Francis muss viele Inseln besuchen, bevor er sich schließlich doch mit seiner Familie in der Stadt niederlässt. Viele der künstlichen Inselprojekte, die Bonnett beschreibt, sind nie fertiggestellt worden oder bereits jetzt vom Untergang bedroht. Die Erkenntnis der Briten: Im Wunsch nach der eigenen Insel ist das Scheitern schon angelegt.
NICOLAS FREUND
Die Berichte von zwei Dutzend
Inseln und Archipelen bilden
ein bedrohliches Panorama
Gavin Francis: Inseln.
Die Kartierung einer Sehnsucht.
Aus dem Englischen von Sofia Blind. Dumont Verlag, Köln 2021.
256 Seiten, 28 Euro.
Alastair Bonnett: Das Zeitalter der Inseln. Von untergehenden Paradiesen und künstlichen Archipelen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag,
München 2021.
246 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Woher kommt die Sehnsucht nach Isolation? Ein Arzt und ein Autor suchen in ihren Büchern nach Antworten
Noch vor zehn Jahren spielte die Tatsache, auf einer Insel zu leben, für die meisten Briten keine große Rolle. Klar, geografisch ist Großbritannien eine Insel, oder vielmehr ein Archipel. Aber so richtig zählte das nicht, auch wenn Briten vom Rest Europas noch immer gerne als „the continent“ sprechen. Man kann ja mit dem Zug nach Paris fahren und überhaupt: Als Zentrum des ehemaligen Commonwealth ist man natürlich eher so etwas wie ein eigener Kontinent, eine eigene Welt oder mindestens ihr Zentrum.
Der Brexit scheint im kollektiven britischen Bewusstsein wieder klargemacht zu haben, dass man sich tatsächlich auf einer Insel im Atlantik befindet, die mit dem Kontinent eben nicht natürlich verbunden ist. Gleich zwei sehr verschiedene Sachbücher britischer Autoren haben sich nun auf die Spuren dessen begeben, was eine Insel ausmacht, und obwohl es in beiden nicht oder kaum um Großbritannien geht, lesen sie sich doch auch wie Analysen der eigenen Lage. Alastair Bonnett ist als Professor für Sozialgeografie ein Experte für die Beziehungen von Menschen zu dem Land (oder Wasser), das sie bewohnen. Er hat mehrere Bücher über „Die seltsamsten Orte der Welt“ geschrieben, und sein neues Insel-Buch ist durchaus auch eine Fortsetzung dieser Reihe. Bonnett verkündet nicht weniger als „Das Zeitalter der Inseln“, wie der Titel seines Buches lautet. Klimawandel und neue technische Möglichkeiten seien bereits dabei, unsere Welt grundlegend zu verändern, und dies zeige sich insbesondere am Entstehen und Vergehen von Inseln, so die These Bonnetts. Eine spannende Prämisse, denn die Menschheitsgeschichte ließe sich, ob kulturell, politisch oder wirtschaftlich, in weiten Teilen als eine Geschichte der Inseln schreiben, angefangen von Odysseus’ Insel-Hopping bis zu den populistischen Abschottungsversuchen der Gegenwart.
Bonnett besucht zunächst neue, künstliche Inseln wie den Flughafen Hongkongs oder das absurde Luxusbauprojekt „The World“ in Dubai. Er spricht mit Einheimischen, geht, sofern sie zugänglich sind, auf den Inseln spazieren und trägt alle verfügbaren Informationen über Entstehung, Sinn und Zweck der Bauten zu einer Art Reportage zusammen. In Dubai zum Beispiel wohnt er bei einem jungen, westlichen Karrierepaar, das sich wegen der Sicherheit und Sauberkeit für ein Haus auf den künstlichen „Palm Islands“ entschieden hat, sich nun aber Sorgen macht, da das Kind kaum draußen spielen kann, einerseits wegen der extremen Temperaturen, aber auch, weil es auf der Insel außer Villen und Brackwasserkanälen nichts gibt.
Der Lebensraum der künstlichen Inseln kann den verschwindenden Raum der natürlichen Inseln selten ersetzen: Auf der wegen des steigenden Meeresspiegels vom Untergang bedrohten Pazifikinsel Fafa, beschreibt Bonnett, erodiert eine Seite der Insel derart schnell, dass im Küstenwasser noch die Palmstämme vom letzten Erdrutsch schwimmen. Diese Berichte von knapp zwei Dutzend Inseln und Archipelen bilden ein bedrohliches Panorama der aktuellen klimatischen und politischen Entwicklungen, kommen über bloße Beschreibungen aber selten hinaus. Bonnetts Buch ist am ehesten eine Phänomenologie der Insel der Gegenwart. Das ist trotz der unterhaltsamen Anekdoten, die er gesammelt hat, oft frustrierend, da die Kapitel meist abbrechen, wenn es interessant wird und er sich zu einer These durchringt.
Fragen und Ansätze für tiefergehende Nachforschungen gäbe es eigentlich genug. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn jemand in der Wüste von Dubai „The World“ nachbauen möchte? Was macht dieses lähmende Gefühl im Angesicht des Klimawandels mit den Inselbewohnern? Diese Fragen werden nur gestreift. Meist sind es Gemeinplätze, auf die Bonnetts Ausflüge hinauslaufen. Er stellt fest, künstliche Inseln seien oft keine öffentlichen Räume, sondern abgeschottete Bereiche. Gleichzeitig versuchten sie häufig, mit Naturschutzgebieten oder -projekten eine verloren gegangene Verbindung zwischen Mensch und Natur wiederherzustellen. Selbst diese Gedanken werden aber von Bonnett kaum weiterverfolgt. Spätestens beim Einbeziehen der Müllteppiche, die auf vielen Ozeanen treiben, wird zwar die Dramatik des menschlichen Einflusses auf die Weltmeere noch einmal verschärft, der Inselbegriff wird damit aber endgültig zu beliebig. Bonnett hat viele Inseln besucht und beschrieben, zu ihrem Wesen durchgedrungen ist er nicht.
Anders sein Landsmann Gavin Francis, Arzt und Schriftsteller. Auch er hat Dutzende Inseln besucht, viele davon real, manche auch nur in Büchern oder auf Karten. Zusammengetragen hat er aus Dokumenten, Reiseerlebnissen und der Literatur so etwas wie die Seele des Insularen oder, wie er es nennt, „Die Kartierung der Sehnsucht“. Neben vielen Karten und Zitaten stehen da Sätze wie: „Ein paar Monate nach meiner Shetland-Reise traf ich, während ich per Anhalter die Hebrideninsel Lewis überquerte, eine neunzehnjährige Französin, die ein staatliches Stipendium erhalten hatte, um durch Schottland zu reisen und Elfen zu suchen.“
Francis hat auch kein nüchternes Sachbuch über Inseln geschrieben, sondern versucht mit den Mitteln Literatur, Geografie und Reisen dem besonderen Gefühl, das Inseln auslösen, auf die Spur zu kommen. Er besucht die Orkney-Inseln und ein abgelegenes griechisches Kloster, er beobachtet den Sonnenaufgang an einer Klippe auf den Färöer-Inseln und fragt sich, warum sich bei Robinson Crusoe eigentlich immer alle nur für die Zeit auf der einsamen Insel interessieren. Er stellt mehr Fragen, als er beantwortet, aber die Inseln sind bei ihm mehr als Sandhaufen im Meer, auf denen jemand einen Flughafen oder ein Luxusressort gebaut hat.
Bei Francis geht es um eine Suche nach dem richtigen Maß zwischen Isolation und Verbundenheit, in dem man durchaus die Sinnsuche des Menschen der Gegenwart wiedererkennen kann, zwischen ständiger Erreichbarkeit und gleichzeitigem einsamem Starren auf einen Bildschirm. Mit seinem eigenwilligen, poetisch-assoziativen Verfahren, in knappen literarischen Skizzen eine Stimmung zu erzeugen, wird Francis dieser Sehnsucht gerecht, die Inseln noch immer auslösen. Ein Buch, das einfach aussieht, vom Leser aber erst erschlossen werden muss. Die Reise lohnt sich.
In einer Idee finden diese beiden unterschiedlichen Bücher zusammen und schließen unbewusst an den Brexit an: Francis stellt anhand der BBC-Radiosendung „Desert Island Discs“, in der Prominente ihre Songs für die einsame Insel vorstellen müssen und die seit 1942 gesendet wird, die Frage, ob es auch eine Lust am Schiffbruch und der einsamen Insel gibt. „Liegt hier der ewige Reiz von Robinson Crusoe? Dass wir alle danach dürsten, uns in der Einsamkeit zu definieren? Dass wir davon träumen, endlich Schiffbrüchige zu sein?“
Die Katastrophe als Chance auf den Neuanfang. Das erklärt vielleicht auch die etwas rätselhaften Aussprüche von Gilles Deleuze und D. H. Lawrence, den Bonnett zitiert, die beide die Essenz der Insel auf das Ei zurückführten. Das Eiland als Ort der Wiedergeburt. So hatte sich wahrscheinlich mancher auch den Brexit vorgestellt: Wie neugeboren aus dem Ei zu schlüpfen.
In diesem Punkt kommen die Bücher aber zum selben Schluss: Vor dem Neuanfang liegt erst die Zeit des Schiffbruchs und der einsamen Insel. Francis muss viele Inseln besuchen, bevor er sich schließlich doch mit seiner Familie in der Stadt niederlässt. Viele der künstlichen Inselprojekte, die Bonnett beschreibt, sind nie fertiggestellt worden oder bereits jetzt vom Untergang bedroht. Die Erkenntnis der Briten: Im Wunsch nach der eigenen Insel ist das Scheitern schon angelegt.
NICOLAS FREUND
Die Berichte von zwei Dutzend
Inseln und Archipelen bilden
ein bedrohliches Panorama
Gavin Francis: Inseln.
Die Kartierung einer Sehnsucht.
Aus dem Englischen von Sofia Blind. Dumont Verlag, Köln 2021.
256 Seiten, 28 Euro.
Alastair Bonnett: Das Zeitalter der Inseln. Von untergehenden Paradiesen und künstlichen Archipelen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag,
München 2021.
246 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Meereshäuser aus Utopia
Alastair Bonnett und Gavin Francis widmen sich auf ganz verschiedene Weise dem Thema Inseln.
Jahrelang stritten sich Indien und Bangladesch um einen winzigen Landfleck im Golf von Bengalen. Er war 1970 nach den Verwüstungen des schweren Zyklons Bhola aufgetaucht. Besiedeln ließ sich das New Moore Island zwar nicht, aber als sich anbahnender Kriegsschauplatz erlangte es eine kurze Berühmtheit. Bevor ein Schuss fallen konnte, begann das eigentlich nutzlose Objekt der Begierde jedoch zu verschwinden. 2010 ließ der steigende Meeresspiegel die "Zufallsinsel", so nennt sie Alastair Bonnett in seinem Buch "Das Zeitalter der Inseln", vollständig in den Fluten untergehen.
Bonnett, Professor für Sozialgeographie an der Universität Newcastle, ist das Gegenteil eines Gelehrten, der Schreibtisch oder Labor niemals verlässt. Für sein Buch über "Die seltsamsten Orte der Welt" spürte er bereits Geisterstädte und Tunnellabyrinthe auf. Auch das Kapitel Inseln umkreiste er da beharrlich, mit Blick auf die tektonischen, vulkanischen, klimatischen und anthropogenen Prozesse. Für eine Fortsetzung blieb offenbar immer noch Stoff genug, vielleicht auch, weil Bonnett diesmal seine Beobachtungen mit kleinen Reportagen anreichern konnte.
Im Inselstaat Tonga im Südpazifik etwa reiht er sich unter die Insulaner, trifft Meeresbiologen, die den Klimawandel leugnen, wundert sich über Politiker und Aktivisten, die auf die Bedrohung ihrer Existenz mit "achselzuckender Gleichgültigkeit" reagieren. Das drohende Desaster vermittelt sich durch in Erinnerung bleibende Details, wie etwa eine epidemische Fettleibigkeit, die von der Unmöglichkeit herrühre, Obst und Gemüse anzubauen. Heftiger werdende Stürme zerstören Farmen, Salzwasser dringt in die Böden ein, was zur Folge hat, dass sich in den Geschäften überzuckerte Dosennahrung stapelt.
Kontrastreicher könnte die Situation in den Golfstaaten oder in China nicht sein, wo der Inselbau längst eine gängige Praxis der Wohnraumgewinnung ist. Auch auf den künstlichen Inseln von "Ocean Reef" an der Küste von Panama-Stadt gönnt sich eine Elite einen abgeschotteten Zufluchtsort. Bonnett besucht ihn in Begleitung eines Immobilienmaklers, der keine Notiz davon nimmt, dass nur siebzig Kilometer weiter Subsistenz-Bauern ihre insulare Lebensgrundlage versinken sehen. Schritt für Schritt eröffnen sich weitere, mit leichter Hand skizzierte Denkräume, etwa die ultralibertären Pläne für die schwimmende Stadt Seasteading, eine staatenlose Mikrogesellschaft ohne staatliche Regulierung, die der PayPal-Mitbegründer Peter Thiel auf die Landkarte utopischer Inselträume gesetzt hat.
Noch sind die Ideen, wie die anvisierten modularen Meereshäuser auf stürmischer See zurechtkommen sollen, nicht ausgereift. Trotzdem schätzt Bonnett an der wachsenden Seasteading-Bewegung ihre Energie und Bereitschaft zur autarken Ausrichtung, mit der sich das näher rückende "Zeitalter des Klimachaos" vielleicht bewältigen ließe. Auch für sozio-kulturelle Sonderfälle hat Bonnett Sinn, wenn er etwa auf seinen mäandernden Wegen - in seiner Nomenklatur von "Sterbenden Inseln" über "Müllinseln" zu "Heiligen Inseln" - beim Volk der Kuna auf den San-Blas-Inseln haltmacht. Deren Geschlechterbeziehungen weichen von Gewohnheiten auf dem Festland erheblich ab: Männer ziehen nach der Hochzeit ins Haus der Frau, und in Familien, in denen keine Töchter geboren wurden, übernehmen die jüngsten Söhne als Transgender-Männer ihre Rolle.
Die eine oder andere Redundanz hätte sich zwar vermeiden lassen. Dennoch gelingt es Bonnett auf knappem Raum, das Dilemma, "dass wir gleichzeitig zum gefährlichen Ufer hin- und davon wegrennen", anekdotenreich auszuarbeiten.
Ganz anders liest sich das Buch "Inseln" von Gavin Francis. Selbst wenn sich die beiden Briten an einem Punkt treffen, denn Francis, im Hauptberuf praktischer Arzt, bezieht sich genauso wie Bonnett auf die Erzählung "Der Mann, der Inseln liebte" von D.H. Lawrence. Bonnett interessiert dabei die wahre Geschichte dahinter, "das Insel-Hopping des Schriftstellers Compton Mackenzie, der in den 1920er Jahren eine Reihe immer kleinerer britischer Inseln pachtete oder kaufte und jeweils nur dort lebte". Francis interessiert dagegen der Autor D.H. Lawrence, den er als großen "Insula-philen" ansieht und der über seinen Aufenthalt auf Sardinien geschrieben hatte: "Es ist merkwürdig, wie wenig diese Küstenlandschaft zur Welt unserer Tage gehört." Diese selbstgenügsame "Welt für sich" ist es gerade, die Francis anzieht, ob er nun zu Fuß auf den Andamanen oder der griechischen Mönch-Insel Athos unterwegs ist. Er liest von den Reiseerfahrungen anderer, etwa bei Montaigne, und seine eigenen verdichten sich zu einer Meditation aus historischen Karten und Texten, von Marc Aurel bis zu Jorge Luis Borges.
ALEXANDRA WACH
Alastair Bonnett:
"Das Zeitalter der Inseln". Von untergehenden
Paradiesen und künstlichen Archipelen.
Aus dem Englischen von
Andreas Wirthensohn. C.H.Beck Verlag, München 2021. 246 S., Abb., geb., 23,- [Euro].
Gavin Francis: "Inseln".
Die Kartierung einer
Sehnsucht.
Aus dem Englischen
von Sofia Blind.
DuMont Verlag, Köln 2021. 256 S., Abb. ,geb.,
28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alastair Bonnett und Gavin Francis widmen sich auf ganz verschiedene Weise dem Thema Inseln.
Jahrelang stritten sich Indien und Bangladesch um einen winzigen Landfleck im Golf von Bengalen. Er war 1970 nach den Verwüstungen des schweren Zyklons Bhola aufgetaucht. Besiedeln ließ sich das New Moore Island zwar nicht, aber als sich anbahnender Kriegsschauplatz erlangte es eine kurze Berühmtheit. Bevor ein Schuss fallen konnte, begann das eigentlich nutzlose Objekt der Begierde jedoch zu verschwinden. 2010 ließ der steigende Meeresspiegel die "Zufallsinsel", so nennt sie Alastair Bonnett in seinem Buch "Das Zeitalter der Inseln", vollständig in den Fluten untergehen.
Bonnett, Professor für Sozialgeographie an der Universität Newcastle, ist das Gegenteil eines Gelehrten, der Schreibtisch oder Labor niemals verlässt. Für sein Buch über "Die seltsamsten Orte der Welt" spürte er bereits Geisterstädte und Tunnellabyrinthe auf. Auch das Kapitel Inseln umkreiste er da beharrlich, mit Blick auf die tektonischen, vulkanischen, klimatischen und anthropogenen Prozesse. Für eine Fortsetzung blieb offenbar immer noch Stoff genug, vielleicht auch, weil Bonnett diesmal seine Beobachtungen mit kleinen Reportagen anreichern konnte.
Im Inselstaat Tonga im Südpazifik etwa reiht er sich unter die Insulaner, trifft Meeresbiologen, die den Klimawandel leugnen, wundert sich über Politiker und Aktivisten, die auf die Bedrohung ihrer Existenz mit "achselzuckender Gleichgültigkeit" reagieren. Das drohende Desaster vermittelt sich durch in Erinnerung bleibende Details, wie etwa eine epidemische Fettleibigkeit, die von der Unmöglichkeit herrühre, Obst und Gemüse anzubauen. Heftiger werdende Stürme zerstören Farmen, Salzwasser dringt in die Böden ein, was zur Folge hat, dass sich in den Geschäften überzuckerte Dosennahrung stapelt.
Kontrastreicher könnte die Situation in den Golfstaaten oder in China nicht sein, wo der Inselbau längst eine gängige Praxis der Wohnraumgewinnung ist. Auch auf den künstlichen Inseln von "Ocean Reef" an der Küste von Panama-Stadt gönnt sich eine Elite einen abgeschotteten Zufluchtsort. Bonnett besucht ihn in Begleitung eines Immobilienmaklers, der keine Notiz davon nimmt, dass nur siebzig Kilometer weiter Subsistenz-Bauern ihre insulare Lebensgrundlage versinken sehen. Schritt für Schritt eröffnen sich weitere, mit leichter Hand skizzierte Denkräume, etwa die ultralibertären Pläne für die schwimmende Stadt Seasteading, eine staatenlose Mikrogesellschaft ohne staatliche Regulierung, die der PayPal-Mitbegründer Peter Thiel auf die Landkarte utopischer Inselträume gesetzt hat.
Noch sind die Ideen, wie die anvisierten modularen Meereshäuser auf stürmischer See zurechtkommen sollen, nicht ausgereift. Trotzdem schätzt Bonnett an der wachsenden Seasteading-Bewegung ihre Energie und Bereitschaft zur autarken Ausrichtung, mit der sich das näher rückende "Zeitalter des Klimachaos" vielleicht bewältigen ließe. Auch für sozio-kulturelle Sonderfälle hat Bonnett Sinn, wenn er etwa auf seinen mäandernden Wegen - in seiner Nomenklatur von "Sterbenden Inseln" über "Müllinseln" zu "Heiligen Inseln" - beim Volk der Kuna auf den San-Blas-Inseln haltmacht. Deren Geschlechterbeziehungen weichen von Gewohnheiten auf dem Festland erheblich ab: Männer ziehen nach der Hochzeit ins Haus der Frau, und in Familien, in denen keine Töchter geboren wurden, übernehmen die jüngsten Söhne als Transgender-Männer ihre Rolle.
Die eine oder andere Redundanz hätte sich zwar vermeiden lassen. Dennoch gelingt es Bonnett auf knappem Raum, das Dilemma, "dass wir gleichzeitig zum gefährlichen Ufer hin- und davon wegrennen", anekdotenreich auszuarbeiten.
Ganz anders liest sich das Buch "Inseln" von Gavin Francis. Selbst wenn sich die beiden Briten an einem Punkt treffen, denn Francis, im Hauptberuf praktischer Arzt, bezieht sich genauso wie Bonnett auf die Erzählung "Der Mann, der Inseln liebte" von D.H. Lawrence. Bonnett interessiert dabei die wahre Geschichte dahinter, "das Insel-Hopping des Schriftstellers Compton Mackenzie, der in den 1920er Jahren eine Reihe immer kleinerer britischer Inseln pachtete oder kaufte und jeweils nur dort lebte". Francis interessiert dagegen der Autor D.H. Lawrence, den er als großen "Insula-philen" ansieht und der über seinen Aufenthalt auf Sardinien geschrieben hatte: "Es ist merkwürdig, wie wenig diese Küstenlandschaft zur Welt unserer Tage gehört." Diese selbstgenügsame "Welt für sich" ist es gerade, die Francis anzieht, ob er nun zu Fuß auf den Andamanen oder der griechischen Mönch-Insel Athos unterwegs ist. Er liest von den Reiseerfahrungen anderer, etwa bei Montaigne, und seine eigenen verdichten sich zu einer Meditation aus historischen Karten und Texten, von Marc Aurel bis zu Jorge Luis Borges.
ALEXANDRA WACH
Alastair Bonnett:
"Das Zeitalter der Inseln". Von untergehenden
Paradiesen und künstlichen Archipelen.
Aus dem Englischen von
Andreas Wirthensohn. C.H.Beck Verlag, München 2021. 246 S., Abb., geb., 23,- [Euro].
Gavin Francis: "Inseln".
Die Kartierung einer
Sehnsucht.
Aus dem Englischen
von Sofia Blind.
DuMont Verlag, Köln 2021. 256 S., Abb. ,geb.,
28,- [Euro].
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