»Institutionen« und »Ereignis«: Sind das analytische Kategorien für eine zeitgemäße Geschichtswissenschaft? Das Thema »Institutionen« wurde im Rahmen einer Geschichtswissenschaft, die sich der internationalen kulturanthropologischen Forschung geöffnet hat, gemieden. Das Interesse am historischen Ereignis ist besonders dem strukturgeschichtlichen Blick auf die »lange Dauer« zum Opfer gefallen.Inzwischen sind die Konzepte »Institutionen« und »Ereignis« in die Theoriediskussion zurückgekehrt, massiv revidiert vor allem durch die Werke von Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Zuweilen gilt das historische Ereignis wieder als Königsweg historischer Erkenntnis. Institutionen werden als »Korrelate von Praktiken« (P. Veyne), als »verfestigte Verhaltensmuster« (G. Göhler), als »Vermittlungsinstanzen kultureller Sinnproduktion« (K.S. Rehberg) aufgefaßt. In der historiographischen Empirie sind diese Konzepte freilich noch nicht erprobt.In diesem Band werden die gegenwärtigen institutionentheoretischen Überlegungen historisch ausgelotet. Anhand einer Serie von Beispielen von den Volksversammlungen im antiken Rom bis zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern prüfen die Autoren Nutzen und Grenzen der aktuellen institutionentheoretischen Diskussionen. Die Beiträge sind also Probearbeiten für eine »Methodologie des institutionellen Blicks«.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungDas Unbewegliche, hier wird's Ereignis
Ewiges Schachern um die Ämter: Auf dem Marsch durch die Institutionen bringt die Geschichtswissenschaft die Dinge in Fluß
Wo heute über Institutionen geforscht wird, verschreibt man sich nicht mehr vornehmlich verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Untersuchungen. Zudem steht man Vorstellungen etwa im Sinne Emile Durkheims oder Arnold Gehlens kritisch gegenüber, daß Institutionen aufgrund ihrer Fundierung im Archaischen und Vorrationalen immer schon gerechtfertigt seien, auch wenn man das Institutionelle anthropologisch als Instanz zur Entlastung des "weltoffenen" Menschen begreift.
Die Autoren des vorliegenden Bandes haben kein ontologisches Verständnis von Institutionen, sondern suchen sie in den Sinnmustern, auf die soziales Handeln sich bezieht. Als Prüfstein dieser Methode sollen sich nach Meinung der Herausgeber jene "diskursiven Ereignisse" erweisen, von denen man annimmt, daß durch sie das Institutionelle reproduziert oder transformiert wird. Die Herausgeber forderten von ihren Mitarbeitern "historisch kulturvergleichende Perspektiven" und somit die Bereitschaft zu "empirischen Probebohrungen ins institutionelle Gestein der okzidentalen Geschichte" von der Antike bis zur Gegenwart. Die Autoren des Bandes bohrten dann mit unterschiedlichem Erfolg, und dies lag wohl auch daran, daß man sich nicht auf ein gemeinsames Verständnis von "Institution" und "Ereignis" zumindest als heuristische Vorgabe geeinigt hatte. Der Althistoriker Egon Flaig geht der Frage nach, ob die römische Volksversammlung tatsächlich ein Entscheidungsorgan war, und überprüft dies anhand jener Ereignisse, bei denen sich diese Einrichtung gerade nicht an die Regeln hielt und sich gegen Vorentscheidungen des Senats wandte, so daß beträchtliche Anstrengungen von seiten einzelner Senatoren notwendig waren, um das Votum wieder in das Erwartungsraster zurückzuholen. Die "Institution" Volksversammlung existierte nur im rituellen Vollzug, der der Aufrechterhaltung von augenscheinlich dauerhaften Herrschaftsverhältnissen diente und dann brüchig wurde, wenn Sonderinteressen die Semiotik des Rituals störten. Rituale, so Flaig, leben von dem "Glauben" an ihre perpetuierende Macht. Den Begriff "Kontinuität" möchte Flaig durch denjenigen der "sozialen Reproduktion" ersetzen. André Holenstein gelangt anhand der "Guten Polizey" des achtzehnten Jahrhunderts und ihrer Rügegebräuche zu analogen Ergebnissen und fordert, Institutionen nicht mehr als "dauerhaft funktionierende Funktions- und Organisationseinheiten" zu definieren, sondern sie in "ihrer Wechselbeziehung mit den Praktiken der Akteure" zu erfassen.
Valentin Groebner betrachtet geheime Bestechungen und öffentliche Beschenkungen von Amtsträgern in Städten des fünfzehnten Jahrhunderts. Ihn interessiert die kreative Auslegung von Normen durch Handlungen, die vermeintlichen Normverstößen Sinn verleiht. Ganz ähnlich argumentiert Beate Schuster, wenn sie die problematische Integration der Dirnen in Städten des ausgehenden Mittelalters vor dem Hintergrund von Rechtssatzungen und sittlichen Ordnungsvorstellungen untersucht und dabei eine komplizierte Serie von Kommunikationsakten zwischen Obrigkeit und Stadtbewohnern entdeckt, die die Duldung der Prostitution als pragmatisches Mittel gerade der Ordnungsstabilisierung heraufführte.
Gegen die Bezeichnung der Konzentrationslager als "Todesfabriken" und "Vernichtungsmaschinerie" wendet sich Alf Lüdtke. Er lenkt den Blick auf das individuell motivierte Handeln der Akteure. Hinter den industriellen Metaphern vermutet er ideologische Prämissen. Er warnt vor der "Falle der Übersichtlichkeit": Wer das individuelle Handeln in Institutionen verschwinden läßt, negiert Verantwortung.
Wer zur Ereignisgeschichte zurückkehren wollte, fiele allerdings, um Lüdtkes Formulierung umzuwenden, in die Falle der Unübersichtlichkeit. Bernhard Jussen verdeutlicht, wie an der Epochenschwelle von der Antike zum Mittelalter die Aristokratisierung der gallischen Bischofsämter in einem zähen Grabenkampf um Symbole durchgesetzt wurde, die die religiöse Leitidee des Asketischen mit Repräsentationsformen von Herrschaft verträglich machen sollten. Das Gaibacher Verfassungsfest von 1832 kann Reinhard Blänkner an den Anfang seiner Beobachtungen über Legitimations- und Wissensformen des Konstitutionalismus setzen, weil es "Ereignis" sowohl als inszenierter "Teil eine Ensembles institutioneller Symbolisierungen" wie als "Weggabelung" im Verfassungsdiskurs des neunzehnten Jahrhunderts war.
Um beides also geht es in dem Band: Wie konstituieren, reproduzieren oder transformieren einerseits Ereignisse institutionelle Verfestigungen, und wie erzeugen andererseits institutionelle Rahmenbedingungen bestimmte Ereignisketten? Pointiert gesagt und den vermeintlichen Gegensatz aufhebend, heißt dies, die Frage zu stellen: Wie "ereignen" sich Institutionen? Andeutungen einer theoretischen Antwort finden sich in einem abschließenden Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg über die "Fiktionalität" von Präsenz und Dauer. Die vielfältigen "Formen der Stabilisierung von Sozialbeziehungen" wird man dann unterscheiden können, wenn man Institutionen nicht als Wesenheiten auffaßt, sondern nach "institutionellen Mechanismen" fragt. GERT MELVILLE
Reinhard Blänkner, Bernhard Jussen (Hrsg.): "Institutionen und Ereignis". Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 138. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 407 S., geb., 86,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ewiges Schachern um die Ämter: Auf dem Marsch durch die Institutionen bringt die Geschichtswissenschaft die Dinge in Fluß
Wo heute über Institutionen geforscht wird, verschreibt man sich nicht mehr vornehmlich verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Untersuchungen. Zudem steht man Vorstellungen etwa im Sinne Emile Durkheims oder Arnold Gehlens kritisch gegenüber, daß Institutionen aufgrund ihrer Fundierung im Archaischen und Vorrationalen immer schon gerechtfertigt seien, auch wenn man das Institutionelle anthropologisch als Instanz zur Entlastung des "weltoffenen" Menschen begreift.
Die Autoren des vorliegenden Bandes haben kein ontologisches Verständnis von Institutionen, sondern suchen sie in den Sinnmustern, auf die soziales Handeln sich bezieht. Als Prüfstein dieser Methode sollen sich nach Meinung der Herausgeber jene "diskursiven Ereignisse" erweisen, von denen man annimmt, daß durch sie das Institutionelle reproduziert oder transformiert wird. Die Herausgeber forderten von ihren Mitarbeitern "historisch kulturvergleichende Perspektiven" und somit die Bereitschaft zu "empirischen Probebohrungen ins institutionelle Gestein der okzidentalen Geschichte" von der Antike bis zur Gegenwart. Die Autoren des Bandes bohrten dann mit unterschiedlichem Erfolg, und dies lag wohl auch daran, daß man sich nicht auf ein gemeinsames Verständnis von "Institution" und "Ereignis" zumindest als heuristische Vorgabe geeinigt hatte. Der Althistoriker Egon Flaig geht der Frage nach, ob die römische Volksversammlung tatsächlich ein Entscheidungsorgan war, und überprüft dies anhand jener Ereignisse, bei denen sich diese Einrichtung gerade nicht an die Regeln hielt und sich gegen Vorentscheidungen des Senats wandte, so daß beträchtliche Anstrengungen von seiten einzelner Senatoren notwendig waren, um das Votum wieder in das Erwartungsraster zurückzuholen. Die "Institution" Volksversammlung existierte nur im rituellen Vollzug, der der Aufrechterhaltung von augenscheinlich dauerhaften Herrschaftsverhältnissen diente und dann brüchig wurde, wenn Sonderinteressen die Semiotik des Rituals störten. Rituale, so Flaig, leben von dem "Glauben" an ihre perpetuierende Macht. Den Begriff "Kontinuität" möchte Flaig durch denjenigen der "sozialen Reproduktion" ersetzen. André Holenstein gelangt anhand der "Guten Polizey" des achtzehnten Jahrhunderts und ihrer Rügegebräuche zu analogen Ergebnissen und fordert, Institutionen nicht mehr als "dauerhaft funktionierende Funktions- und Organisationseinheiten" zu definieren, sondern sie in "ihrer Wechselbeziehung mit den Praktiken der Akteure" zu erfassen.
Valentin Groebner betrachtet geheime Bestechungen und öffentliche Beschenkungen von Amtsträgern in Städten des fünfzehnten Jahrhunderts. Ihn interessiert die kreative Auslegung von Normen durch Handlungen, die vermeintlichen Normverstößen Sinn verleiht. Ganz ähnlich argumentiert Beate Schuster, wenn sie die problematische Integration der Dirnen in Städten des ausgehenden Mittelalters vor dem Hintergrund von Rechtssatzungen und sittlichen Ordnungsvorstellungen untersucht und dabei eine komplizierte Serie von Kommunikationsakten zwischen Obrigkeit und Stadtbewohnern entdeckt, die die Duldung der Prostitution als pragmatisches Mittel gerade der Ordnungsstabilisierung heraufführte.
Gegen die Bezeichnung der Konzentrationslager als "Todesfabriken" und "Vernichtungsmaschinerie" wendet sich Alf Lüdtke. Er lenkt den Blick auf das individuell motivierte Handeln der Akteure. Hinter den industriellen Metaphern vermutet er ideologische Prämissen. Er warnt vor der "Falle der Übersichtlichkeit": Wer das individuelle Handeln in Institutionen verschwinden läßt, negiert Verantwortung.
Wer zur Ereignisgeschichte zurückkehren wollte, fiele allerdings, um Lüdtkes Formulierung umzuwenden, in die Falle der Unübersichtlichkeit. Bernhard Jussen verdeutlicht, wie an der Epochenschwelle von der Antike zum Mittelalter die Aristokratisierung der gallischen Bischofsämter in einem zähen Grabenkampf um Symbole durchgesetzt wurde, die die religiöse Leitidee des Asketischen mit Repräsentationsformen von Herrschaft verträglich machen sollten. Das Gaibacher Verfassungsfest von 1832 kann Reinhard Blänkner an den Anfang seiner Beobachtungen über Legitimations- und Wissensformen des Konstitutionalismus setzen, weil es "Ereignis" sowohl als inszenierter "Teil eine Ensembles institutioneller Symbolisierungen" wie als "Weggabelung" im Verfassungsdiskurs des neunzehnten Jahrhunderts war.
Um beides also geht es in dem Band: Wie konstituieren, reproduzieren oder transformieren einerseits Ereignisse institutionelle Verfestigungen, und wie erzeugen andererseits institutionelle Rahmenbedingungen bestimmte Ereignisketten? Pointiert gesagt und den vermeintlichen Gegensatz aufhebend, heißt dies, die Frage zu stellen: Wie "ereignen" sich Institutionen? Andeutungen einer theoretischen Antwort finden sich in einem abschließenden Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg über die "Fiktionalität" von Präsenz und Dauer. Die vielfältigen "Formen der Stabilisierung von Sozialbeziehungen" wird man dann unterscheiden können, wenn man Institutionen nicht als Wesenheiten auffaßt, sondern nach "institutionellen Mechanismen" fragt. GERT MELVILLE
Reinhard Blänkner, Bernhard Jussen (Hrsg.): "Institutionen und Ereignis". Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 138. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 407 S., geb., 86,- DM.
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