Wolfgang Tomaschitz & Michael Shorny Was meinen wir mit »Inter«? – ein zweiter Anlauf Einleitung Polylog 41 Der bosnische Autor Dževad Karahasan bemerkt einmal, dass eine »allzu klare Bewusstheit« kultureller Identität immer an »ein gewisses Unbehagen« grenze. Das rühre daher, dass man diese Identität der »ständigen Anwesenheit von Menschen mit einer anderen Identität« verdanke. Die Beiträge zum ersten Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe legen den Verdacht nahe, dass auch eine Positionierung zwischen solchen Identitäten – in einer wie immer bestimmten Sphäre des »inter« – zu einem Unbehagen führen kann, das begrifflich erst bewältigt werden muss. In polylog 40 war mit der Frage »Was meinen wir mit dem ›inter‹ der interkulturellen Philosophie?« öffentlich zu einer Reflexion dieses Ansatzes eingeladen worden. In der aktuellen Ausgabe führen fünf Redakteurinnen diesen Polylog – der viel mit dem Gründungsimpuls der Zeitschrift zu tun hat – fort. Sie beziehen sich dabei sowohl auf die Beiträge der Nummer 40 als auch den redaktions-internen Austausch über diese Frage. Anke Graneß macht in ihrem Beitrag darauf aufmerksam, dass Begriffe des Inter-, Trans- und Multi-Kulturellen und auch der Begriff Kultur selbst zunehmend kontroversiell diskutiert werden und plädiert entschieden für eine Verortung des »inter« in der Sphäre der Interaktion von Individuen unter ganz konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Eine interkulturelle Philosophie, die nicht auch konkrete Machtverhältnisse bis in das Institutionelle und universitäre Strukturen thematisiere und bereit sei, diese auch zu verändern, verfehle ihrer Ansicht nach eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Amalia Barboza erinnert an das »große Versprechen« der Interkulturellen Philosophie, einen Weg aufzuzeigen, der es möglich mache, »zwischen verschiedenen Denktraditionen zu wandern, [...] um sich durch das Dazwischen der Diskurse kritisch zu bereichern« und auch dadurch die Welt mitzugestalten. Sie verweist dabei auf frühe Ansätze der Wissenssoziologie, die schon in der Gründungsphase Fragen nach der Seinsverbundenheit des Denkens bzw. nach den Möglichkeiten »freischwebender Intelligenz« bewegt habe und die in der Selbstreflexion interkulturellen Philosophierens hilfreich sein könnten. Auch bei Barboza erweitert sich das zunächst kulturelle Feld des »inter« zu einem politischen, sozialen und auch ästhetischen und sie folgert daraus die Notwendigkeit einer Öffnung zu empirischer Methodik. Nausikaa Schirilla teilt den anti-essentialistischen Ansatz ihrer Kolleginnen und betont die Notwendigkeit einer explizit politischen Perspektive, die aber auch als eine Herausforderung an die Theoriebildung zu verstehen sei. Als beispielgebende Ansätze, in welchen Kultur von Anfang an auch als Ausdruck von Machtverhältnissen betrachtet werde, bezieht sie sich auf Stuart Hall und Homi K. Bhabha. Die Integration dieser Ansätze in ein interkulturelles Philosophieren sei in vieler Hinsicht erst noch zu leisten. Bianca Boteva-Richter nähert sich der Frage des »inter« über eine stärker anthropologisch orientierte Erörterung, die auf die Arbeiten von Tetsurô Watsuji Bezug nimmt. Der Kern dieses Ansatzes liege darin, Menschsein als eine Struktur zu begreifen, die als ein »individuell-soziales Netzwerk« zu verstehen sei. Dieses Netzwerk oder diese Verbundenheit sei aber durch die Dynamik von Interaktionen bestimmt und könne in einer optimalen Variante – wie Boteva-Richter formuliert – als eine »korrelative, aktive Wissensteilhabe durch einen solidarischen, sich gegenseitig verstehenden, miteinander gleichwertig kommunizierenden Austausch im Zwischen der menschlichen Verbindungen« verstanden werden. Britta Saal argumentiert in ihrem Beitrag dafür, den topografischen Ort von Philosophie für die Darstellung der Dynamik einer Denkbewegung in die Ortlosigkeit (Mall) fruchtbar zu machen. Ihr Beitrag versucht eine Präzisierung der Begriffe Ort, Raum und Praxis des interkulturellen Philosophierens und betont dabei den ereignishaften, aktionistischen Aspekt dieses Unternehmens. Wo sich interkulturelles Philosophieren wirklich ereigne, geschehe das dadurch, dass sprechend und handelnd ein Anfang gesetzt werde, der einen »Inter-Raum«, eine Stätte eröffne, die es ohne philosophische Intervention nicht gebe. Mit in diesen Schwerpunkt gehört der Beitrag von Anton Luis Sevilla zur Aidagara-Ethik des japanischen Philosophen Watsuji Tetsurô (1889–1960). Der Autor spricht selbst von einer »Re-Lektüre« der Position Watsujis, in der die Funktion und die transformative Wirkung des Erzählens und Neu-Erzählens reflektiert werde. Ausgehend vom Begriff des »inter« entwirft Sevilla die Skizze einer narrativen Ethik und hebt deren psychologisch, historisch und sozial transformatives Potential hervor. Religiöse Erfahrung, säkulare Vernunft und Politik um 1900: Zwei Beiträge Der anderen Schwerpunkt dieser Ausgabe macht zwei Forschungsbeiträge von Hans Schelkshorn und Karl Baier zugänglich, die erstmals anlässlich der Tagung »Religiöse Erfahrung, säkulare Vernunft und Politik um 1900«, die im November 2017 von der Forschungsplattform Religion and Transformation in Contemporary Society der Universität Wien und dem Titus Brandsma Institut der Radboud Universität Nijmegen gemeinsam veranstaltet wurde, vorgestellt wurden. Beide Artikel machen die fast erschreckende Aktualität von Fragen deutlich, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewegt haben und deren Lösung wir seither kaum näher gekommen sind. Karl Baiers Beitrag befasst sich mit Swami Vivekananda (1863–1902), einer Galionsfigur des Neohinduismus, und analysiert dessen Werk im Kontext nationalistischer Tendenzen und der Bestrebung einer Erneuerung des Hinduismus, die mit einer zum Teil radikalen Neuinterpretation der Traditionen einherging, und im Kontext eines Ansatzes, den Baier als »szientistische Erfahrungsreligiosität« bezeichnet, die das Einholen religiöser Inhalte durch meditative Methoden und dadurch deren wissenschaftliche Fundierung für möglich halte. Hans Schelkshorn stellt das Werk des aus Uruguay stammenden Essayisten José Enrique Rodó (1871–1917) vor, der durch seine kulturphilosophischen Arbeiten im südlichen Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts entscheidend zu einer Neubewertung religiöser Sinnhorizonte beigetragen hat und dessen »Appell zu einem ethisch-spirituellen Aufbruch« die lateinamerikanischen Philosophien des 20. Jahrhunderts, bis hin zur Theologie der Befreiung, inspiriert hat.