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In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert der ukrainische Autor Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein Kriegsfeld verwandelt. Und er erzählt von unbeirrbaren Menschen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung entgegensetzen.
Ein junger Lehrer will seinen Neffen aus der Schule, die unter Beschuss geraten ist und keine Sicherheit mehr bietet, nach Hause holen. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr…mehr

Produktbeschreibung
In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert der ukrainische Autor Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein Kriegsfeld verwandelt. Und er erzählt von unbeirrbaren Menschen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung entgegensetzen.

Ein junger Lehrer will seinen Neffen aus der Schule, die unter Beschuss geraten ist und keine Sicherheit mehr bietet, nach Hause holen. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf und apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.

»Auf diesen Roman haben wir Ukrainer gewartet.« Katja Petrowskaja
Autorenporträt
Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum 'Buch des Jahrzehnts'. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw und ist seit Mai 2024 Soldat. Juri Durkot, 1965 geboren, studierte Germanistik in Lemberg und Wien. Seit 2007 übersetzt er gemeinsam mit Sabine Stöhr das Romanwerk von Serhij Zhadan. Sabine Stöhr, 1968 geboren, studierte Slawistik in Mainz und Simferopol. Seit 2004 übersetzt sie aus dem Ukrainischen, v.a. die Werke von Juri Andruchowytsch und, gemeinsam mit Juri Durkot, das Romanwerk von Serhij Zhadan. 2014 wurde sie mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung ausgezeichnet. Ebenfalls 2014 erhielt sie, gemeinsam mit Juri Durkot und dem Autor, den Brückepreis Berlin für Die Erfindung des Jazz im Donbass von Serhij Zhadan. 2018 wurde Sabine Stöhr und Juri Durkot der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen für ihre Übersetzung des Romans Internat von Serhij Zhadan.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Debalzewe im Osten der Ukraine war 2015 Schauplatz heftiger Gefechte zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützten Separatisten, an deren Ende die Armee geschlagen abzog. Seitdem steht die Stadt unter separatistischer Kontrolle. Serhij Zhadan hat der Schlacht um Debalzewe ein literarisches Denkmal gesetzt. Er schickt einen Antihelden durch seine namenlose Romanstadt, der den Krieg so lange ignoriert, bis er mittendrin ist: Pascha, ein Lehrer mittleren Alters, wohnt zusammen mit seinem Vater in einer kleinen Provinzsiedlung. In der nahen Stadt lebt sein 13-jähriger Neffe im Internat. Erst als es fast schon zu spät ist, als gerade die Armee die Stadt aufgibt, entschließt Pascha sich, den Jungen nach Hause zu holen. Seine Mission ist ein Weg durch die Vorhölle und zurück. Zhadan findet surrealistisch-apokalyptische Bilder für das Überleben in der kaputten Stadt, in der man erschossen werden kann, wenn man über eine Straße geht. Die Menschen begegnen sich mit größtem Misstrauen, doch gleichzeitig ist jede Begegnung bedeutungsvoll, weil potenziell mit Gefahr verbunden. So formt sich aus den vielen Szenen und Gesprächen, die im Roman verarbeitet sind, ein lebendiges Menschenmosaik inmitten des Krieges, das bei aller Endzeitstimmung auch skurrile Züge trägt.

© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
»Große Sprachkunst.« Susanne Mayer DIE ZEIT 20221117

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2018

Wenn die Handys der Toten klingeln

Es ist sein erster Kriegsroman. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan lässt einen Lehrer drei Tage zwischen den Frontlinien irren und seine Leser wissen, dass alles wahr ist: das Blut, die toten Jungs und die Ruinen

Vier Jahre sind seit der russischen Annexion der Krim vergangen. Auch der Krieg im Osten der Ukraine dauert - wie sogar meine Facebook-Freunde melden - länger an als die deutsche Okkupation während des Zweiten Weltkriegs. Darin besteht gewiss keine Analogie, aber der Vergleich lässt uns den Zeitraum nachspüren. Der Krieg ist längst von kopfverdrehender absurder Tragik in dramatischen Alltag übergegangen, man hat sich an diesen Krieg beinahe gewöhnt. Er hat bereits Millionen Menschen geprägt und wird Generationen im Gedächtnis bleiben. Über eine Million Menschen sind auf der Flucht, die anderen leben in der Ungewissheit der sich bewegenden Frontlinie, oder der Grauzone, es sterben Soldaten, der Krieg führt zu einer Radikalisierung der Gesellschaft, aber niemand bringt die Kraft auf, dies alles zu beenden. Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, aber: das Schlimmste am Krieg ist der Krieg selbst.

Wer einmal in einer gotischen Kirche in Czernowitz Serhij Zhadan seine Kriegsgedichte und Rilke-Übersetzungen hat vortragen hören (er könnte vielleicht auch eine Messe lesen), der ahnt, dass dieser wie ein rebellischer Teenager aussehende Mann mit seinen ewigen Chucks und in Jeans und schwarzem T-Shirt ein lebender Klassiker ist. Er macht es weder sich noch seinem Publikum einfach. Eine gefährliche Art von Talent - aktuell, hautnah, akut. Es ist spannend, ihn zu beobachten, und sehr aufwühlend.

Zhadan stammt aus dem berühmt-berüchtigten Gebiet Lugansk, jener Region nordöstlich von Donezk, direkt an der russischen Grenze, die zum großen Teil von Separatisten und russischen Militärs beherrscht wird. Zhadan hat zahlreiche Romane geschrieben, er ist Dichter, Übersetzer und Rock-Musiker und zieht mit seinen Lesungen oder mit seiner Band "Hunde im Kosmos" kreuz und quer durch das Land, im Frieden wie im Krieg. Der Donbass ist nicht nur seine große Heimat, er ist auch die Region seiner ukrainischen Utopien, in der seine Werke spielen. Dort stellt er sich bewusst und mutig dem "sowjetischen Erbe". Auch in seinem neuen Buch scheinen die unsichtbaren Chimären eines bekannten Imperiums durch die realen Ruinen einer namenlosen Stadt hindurch.

Auf diesen Roman haben wir Ukrainer gewartet. Und wir haben einen sehr ungewöhnlichen Text bekommen. Im Zentrum dieses Kriegsromans stehen keine Soldaten, keine Helden oder Märtyrer, keine bösen Separatisten oder politischen Aktivisten, es gibt auch keine patriotischen Slogans. Der Roman "Internat" handelt von einem verlorenen und zerstreuten Zivilisten, einem unpolitischen, etwas willenlosen Lehrer. Mit einem Ruck reißt Zhadan sein Werk ebenso aus der heroisch-tragischen Tradition der sowjetischen Kriegsliteratur heraus wie aus den patriotischen Erwartungen vieler seiner Leser.

Pascha ist Ukrainisch-Lehrer in einer Schule an einer namenlosen Bahnstation, er ist russischsprachig, schon in den Pausen spricht er Russisch. Er ist jemand, der es nicht gewohnt ist, zu agieren, und sogar seine Berufswahl erscheint zufällig. Pascha ist Mitte dreißig, und seine Welt ist brüchig, seine Mutter ist früh gestorben, sein Vater versteht ihn nicht, seine Schwester ist verschwunden, seine Schüler respektieren ihn nicht mehr, weil er sie im Chaos der Zeit nicht unterstützt, und auch seine Freundin hat ihn verlassen, als er sich am Anfang des Krieges politisch nicht positionieren konnte. Auf wessen Seite steht er?

",Fahr und hol ihn', brüllt der Alte." Mit diesem Satz fängt das Buch an. Pascha soll seinen dreizehnjährigen Neffen, der von seiner Schwester ins Internat abgegeben wurde, abholen und nach Hause bringen (viele Märchen fangen mit einem ähnlichen Auftrag an). Der Junge hatte merkwürdige Anfälle, und niemand wusste, was zu tun sei, und so war es das Einfachste gewesen, ihn loszuwerden, ihn auf ein Internat zu schicken. Niemand hatte für den Kleinen gekämpft, für ihn gesorgt und ihn verteidigt, weder sein Onkel Pascha noch sein Großvater, der Alte. Der lebt mit seinem Sohn in einer verkrüppelten Welt: Pascha hat unbewegliche Finger an der rechten Hand; beide wohnen in einem Haus, das wie ein halber Brotlaib aussieht. Es brannte irgendwann zur Hälfte ab, und die Nachbarn sind weggezogen. Etwas von ihrem Leben wurde abgeschnitten, und sie hausen in der übriggebliebenen Hälfte.

Als Pascha seine Wohnung verlässt, geschieht im Fernseher etwas Entsetzliches, "etwas, das alle angeht". Er sieht einen blutüberströmten Mann, der ihn direkt anschreit und ihm etwas erklären will. Der Fernseher läuft ohne Ton, so dass Pascha nichts hört. Es wird aber klar, dass der Krieg nicht mehr im Fernseher ist, sondern vor Ort. Deswegen muss er auch den Neffen abholen. Pascha geht nach draußen und erlebt den Krieg "live". Der Fernseher, dieser Haupt-Held oder -Schuldige des Informationskrieges, ist die offene Wunde des kollektiven Gedächtnisses, "das Ewige Feuer": es "leuchtet weniger zur Freude der Lebendigen als zur Erinnerung an die Toten". Wir werden aus der warmen Stube in die Mitte des militärischen Chaos katapultiert, auf Paschas dreitägigen Road-Trip durch den Krieg.

Der Roman ist wie ein Drehbuch geschrieben. Das ganze "Sehen" erfolgt durch den kurzsichtigen Pascha: Die Kamera läuft, und Pascha bewegt sich im Nebel auf schmutzigem Schnee. Das Kriegsgelände ist eine unbegreifliche "Zone" mit kaputten Straßen und rätselhaften Menschen, was dem exsowjetischen Leser sofort die Zone aus dem Film "Stalker" von Andrej Tarkowski vor Augen führt. Zhadan selbst sieht sich jedoch von einem ganz anderen Film inspiriert: In dem Western-Klassiker "Zwei glorreiche Halunken" ("The Good, the Bad and the Ugly") mit Clint Eastwood verfolgen die Helden ihr eigenes Ziel, ohne das historische Ausmaß des amerikanischen Bürgerkriegs auch nur wahrzunehmen.

Dem Leser werden viele Seiten begegnen, die in albtraumhaftem Tempo den Weg Paschas verfolgen. Es wird selten reflektiert, nur registriert, als wäre der Lehrer ein Meldesoldat, der unter Maschinengewehrfeuer rennt, man hört das Rattern des Erzählens, und es klingt so, als würde er gebückt rennen, hetzen, von einem Schutzpunkt zu einem anderen. Dort kann der Leser, dessen Herz schon rast, dann einmal durchatmen. In diesen Atempausen gibt es Rückblenden in die Zeit vor dem Krieg, in die Kindheit von Pascha, und eine Frage kehrt immer wieder: Warum ist plötzlich alles, was man hat, unter Beschuss?

Ukrainische Truppen ziehen sich aus der Stadt zurück, und die Separatisten ziehen ein (ukrainische Leser werden sich an die erbitterte Schlacht um den mehrmals eingekesselten Eisenbahnknotenpunkt von Debalzewe erinnern). Zwischen den Kämpfen bewegen sich Menschenmassen - Frauen und Kinder auf dem Bahnhof, die fliehen wollen, aber weder Züge noch Busse fahren, und sie laufen im Kreis mit ihren Kindern und ihren Koffern, einzelne Personen, die sogar trotz Artilleriebeschusses nach Hause möchten, aber gar kein Zuhause mehr haben, Einheimische, die seit Monaten in Kellern sitzen. Hier fährt man über die Frontlinien mit dem Taxi, manchmal mit einem Sarg auf dem Dach, Pascha trifft einen seiner Schüler, der an einem Wachposten der Separatisten aufgestellt ist. Es klingeln die Handys der Toten, wie das von einem Minensucher, zehn vor acht Uhr rufen seine Kinder an, vor der Schule, wie vereinbart, aber ihr Vater liegt zerrissen da, und ein verlassener Mantel, der wie der gekreuzigte Jesus aussieht, gibt einen Vorgeschmack auf das weitere Geschehen. Auch der verlorene Pascha läuft rastlos umher, aber er hat noch ein Zuhause und auch ein Ziel: Er muss seinen Neffen nach Hause bringen.

Häufig versteht er gar nicht, wen genau er gerade vor sich hat: Separatisten? Ukrainische Soldaten? Paramilitärische Gruppen, die auf der einen oder der anderen Seite stehen? Alle fürchten alle. Pascha meint, er sei auf keiner Seite. Im Buch gibt es "diese" und "jene", es gibt "sie" und die anderen "sie", "unsere" und "uns". "Er müsste eigentlich die Staatssprache sprechen", denkt Pascha bei einer Kontrolle. Aber auch die Sprache ist kein Merkmal mehr. Ein durch ein Knalltrauma ertaubter Separatist nennt Pascha einen "Landsmann", aber er hört kaum noch die Antwort. Das Nicht-Hören oder Nicht-genau-hören-Wollen führt dann zu so einem Gespräch: "Die Station gehört uns" - sagt der Soldat, "uns, natürlich" - erwidert Pascha. Das Buch ist voll von erstaunlichen Beobachtungen über dieses "wir", über die zersplitterte wackelige Zugehörigkeit in diesem Krieg. "Wir" schafft Vertrauen, "wir" flackert und hat gegensätzliche Bedeutungen, manchmal ist dieses "wir" auch eine Fälschung und Vortäuschung: Wenn Pascha einem Einheimischen mit Axt, der jetzt wie Pascha um sein Leben fürchtet, "Freund, alles in Ordnung!" zuruft.

Die Welt in diesem Roman ist so unbegreiflich und flimmerig, dass Paschas Auge sich ständig an Vergleichen und Metaphern aus dem friedlichen Leben festhält: Die Wunden eines Soldaten sehen aus, "als hätte man eine Honigmelone aufgeschnitten", am Straßenrand liegt eine tote Kuh, "wie Anna Karenina". Auch dieses Bild ist keine groteske Idee eines gebildeten Menschen, sondern spiegelt den erschütternden Zerfall der Realität.

Durch Ruinen hindurch und nach zahlreichen Begegnungen erreicht Pascha das Internat, das seit einem Monat schon zerbombt ist, und im Keller trifft er auf Kinder, die mit zwei Lehrern dort hausen. Spätestens hier muss er sein Mantra "Ich habe niemanden gerufen, ich habe niemanden vertrieben" überdenken. "Und wenn jemand auf Ihren Neffen schießt - sind Sie dann auch auf niemandes Seite?", fragt ihn die Lehrerin.

Das Paradox dieses Kriegstextes besteht darin, dass er ein Bildungsroman ist, in dem nicht ein Jugendlicher, sondern ein Lehrer gebildet wird. Pascha hat einen Pass, einen Beruf und einen Neffen, aber er lebt in einem infantilen Halbschlaf. Er befindet sich bereits auf der einen Seite, es ist ihm aber nicht bewusst. Auf dem Weg zum Internat (ein epischer Abstieg in die Hölle) erwacht in ihm langsam eine Verantwortlichkeit, weil das Kriegsschicksal ihn dazu zwingt, einen Willen zu entwickeln. Es muss geholfen werden. So verhandelt er mit Separatisten, um Frauen am Bahnhof mit Essen zu versorgen, weil er der einzige zivile Mann dort ist. Er ist auch der Einzige, der im Internat Wasser für die Kinder holen kann. Er ist zufällig in der ersten Reihe, als ein Wagen mit verletzten und sterbenden Soldaten ankommt, und plötzlich steht auch er in der Mitte des Kampfes für das Leben und muss einen Soldaten festhalten, der am Hals operiert wird (eine der stärksten Stellen des Buches). Der Schmerz der Anderen erzieht ihn, er teilt diesen Schmerz, und dadurch wird er erwachsen.

Auf dem Rückweg nach Hause trifft Pascha einen Separatisten, der ihm aus einer Art Respekt ein Stück Kohle schenkt, mit einem Abdruck eines Farns, der eine Million Jahre alt ist, aus dem zerstörten Heimatmuseum. Das müsse irgendwann zur Schule gebracht und aufbewahrt werden, da es Geschichte sei. Denn auch für diesen Krieger ist letztlich ein Lehrer jemand, der bleibt und das Gedächtnis bewahrt. Für die Kinder.

Zugleich steht Pascha für den unbekannten Menschen aus der "Zivilbevölkerung", er repräsentiert, vermittelt das Gefühl der Verlassenheit der Menschen im Osten der Ukraine. Der Titel "Internat"ist darum auch eine - fast schon bedrohliche - Metapher für die ganze Region, vielleicht für ein ganzes Land, dessen Bürger den entmündigten Bewohnern eines wirklichen Internats gleichen. Über solche Menschen wie Pascha wird viel im friedlichen Teil der Ukraine geredet, es heißt, dass sie selbst für den Krieg verantwortlich seien, weil sie keine Meinung hätten - oder eine "falsche", oder weil sie nicht wüssten, zu wem sie gehörten und dass sie den Zerfall und die russische Okkupation selbst zugelassen hätten und nun verantworten müssten.

Und das ist das Erstaunliche an diesem Buch - wie dieser etwas Tschechowsche Lehrer sich selbst aus der Routine des verlassenen und vergessenen Zustands befreit. Am Ende wird die optische Schärfe des Romans nochmals neu ausgerichtet: Für ein paar Seiten wechselt die Erzählperspektive, nun ist es der Neffe, Sascha, der "sieht". Onkel Pascha wird von ihm gesehen, wie er nun liebt und geliebt wird. Und damit wissen wir, dass alles wahr ist: das Blut, die Ruinen, die toten Jungs und das Erwachsenwerden. Oder, wie Zhadan sagt: "Ich interpretiere es nicht als Literatur, sondern als einen Versuch, über die wichtigen Dinge zu reden."

KATJA PETROWSKAJA

Serhij Zhadan: "Internat". Suhrkamp, 300 Seiten, 22 Euro. Die Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.04.2018

Niemand weiß,
warum
Am Kriegsende steht oft die Hoffnung, die verfeindeten Parteien mögen wenigstens etwas gelernt haben. Als müsse aus dem Töten und der Zerstörung noch ein erbaulicher Sinn gezogen werden. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan demonstriert in seinem Roman „Internat“ über den Konflikt im Donbass, was sich aus dem Krieg lernen lässt. Der Lehrer Sascha soll seinen Neffen aus dem Internat abholen. Einfach so zieht er los, als wäre alles ganz normal, als gäbe es keinen Winter und keinen Krieg, hier, im Osten der Ukraine. Die Stadt mit dem Internat wird belagert, niemand weiß sicher, warum eigentlich gekämpft wird. Wer sind diese Bewaffneten, die auf alles schießen? Wohin sind die Menschen alle verschwunden? Drei Tage irrt Sascha durch eine apokalyptische Landschaft, die gerade noch eine Stadt am Rande Europas war. Seine wichtigsten Lektionen sind: Sich still verhalten, nachts kein Licht anschalten, allem und jedem misstrauen. „Als wanderten Ertrunkene mit einer Karte auf dem Grund des Flusses umher.“ Ein Roman, der in großartigen Bildern zeigt, dass sich im Krieg nur für den Krieg lernen lässt.
NICOLAS FREUND




Serhij Zhadan: Internat. Roman. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp, Berlin 2018. 300 Seiten, 22 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Anlässlich des andauernden Krieges in der Ukraine Rezensent Christian Thomas in seiner Reihe "Kleine Ukraine-Bibliothek" noch einmal Serhij Zhadans bereits 2018 erschienenen Roman "Internat" vor. Mit vielen Zitaten lernen wir Pascha kennen, der seinen Neffen Sascha im Angesicht der sich anbahnenden Katastrophe aus dem Internat im Donbass bergen will. Die dramatische Geschichte einer Rettungsaktion, die von Zhadan, so Thomas, bewusst unemotionalisiert vorgetragen wird und somit ihre erschreckende Wirkung entfaltet. Der Autor wird am 23. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten - zurecht, wie der Rezensent mit Bezug auf die poetische Kraft seines Werkes betont. Von dem Panorama des Krieges und der Angst in der Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr zeigt er sich nachhaltig beeindruckt.

© Perlentaucher Medien GmbH