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In den letzten drei Jahrzehnten haben sich in der Philosophie zwei Richtungen entwickelt, die sich teils als Weiterentwicklung, teils als Gegenposition zur Hermeneutik verstehen: Interpretation und Dekonstruktion. Trotz ihrer unterschiedlichen Zugänge zum Phänomen des Sinns stehen sie gemeinsam dafür ein, daß sich menschliches Leben wesentlich im Sprechen und Verstehen vollzieht. Emil Angehrn kommt im Verlauf seiner leicht faßlichen Untersuchung zu dem Schluß, daß alle drei Richtungen die verschiedenen Aspekte des Sinnprozesses nur unterschiedlich akzentuieren, und plädiert deshalb dafür, alle…mehr

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Produktbeschreibung
In den letzten drei Jahrzehnten haben sich in der Philosophie zwei Richtungen entwickelt, die sich teils als Weiterentwicklung, teils als Gegenposition zur Hermeneutik verstehen: Interpretation und Dekonstruktion. Trotz ihrer unterschiedlichen Zugänge zum Phänomen des Sinns stehen sie gemeinsam dafür ein, daß sich menschliches Leben wesentlich im Sprechen und Verstehen vollzieht. Emil Angehrn kommt im Verlauf seiner leicht faßlichen Untersuchung zu dem Schluß, daß alle drei Richtungen die verschiedenen Aspekte des Sinnprozesses nur unterschiedlich akzentuieren, und plädiert deshalb dafür, alle drei Theoriekontexte in einen erweiterten Begriff von Hermeneutik aufzunehmen.
Autorenporträt
Emil Angehrn geb. 1946, Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Löwen und Heidelberg, Dr. phil 1976 in Heidelberg, Habilitation 1983 an der Freien Universität Berlin, 1989 Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., von 1991 bis 2013 Professor für Philosophie an der Universität Basel. 2000-2004 Mitglied des Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds 2004-2007 Dekan/Prodekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Forschungsschwerpunkte - historisch: Antike Philosophie, 19. und 20. Jahrhundert; systematisch: Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik, Politik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2003

Fröhlich saust die Abrißbirne
Emil Angehrn führt durch die Gebäude der Dekonstruktionen

"Im Auslegen seid frisch munter!" Kaum eine andere Maxime ist wohl stets so lebhaft befolgt worden wie diese. Und sie wird auch weiterhin befolgt. Sie gibt - tenorgetreu - zugleich den Titel ab für die endlose Geschichte, die üblicherweise den Namen Hermeneutik trägt. Munterer als die Hermeneutiker treiben es nur noch die Dekonstruktivisten. Die belassen keinen Text wie er war oder zu sein vorgab. Hier wird die Munterkeit mitunter zum frivolen Spiel mit allem, was geschrieben steht. Nichts ist den Dekonstruktivisten heilig. Außer lesen und sehen, was sich mit dem Gelesenen anstellen läßt. Und dies, obwohl doch schon das blanke Lesen das Unangenehme hat, "daß man gewissermaßen genötigt wird, an das zu denken, was man liest". So E. T. A. Hoffmann.

Diese Zumutung aber wird von den Dekonstruktivisten ganz mühelos überboten. Es genügt ihnen eben keineswegs, lediglich schon Vorformuliertes einfach zu lesen. Sie verlangen - und leisten - mehr. Wenn schon nicht das Aufstellen ganzer Heere, so doch einiger Truppen, notfalls auch Trüppchen neuer Metaphern. Das ist ihr Geschäft und das derer, die ihnen - manchmal zum Verwechseln - ähnlich sind. Daraus ist der Stoff gemacht für spannende Kapitel. Meisterhaft nacherzählt sowie, versteht sich, angereichert durch eigene Konstruktionen, Destruktionen und Dekonstruktionen von Emil Angehrn.

Er hat ein gutes Buch geschrieben. Materialvoll und kenntnisreich. Doch das Wichtigste: Angehrn führt den Leser auf sicheren Pfaden quer durch das weite Land zwischen Autor und Text, das Gebiet der "Sinnzusammenbrüche" und Sinnkonstruktionen, in welchem sich ausweglos zu verirren so schnell und leicht geschieht wie bei Hänsel und Gretel im Walde. Nur, anders als die bösen Eltern meinen es die Dekonstruktivisten gut. Mit uns und der Welt, die sie verschont wissen wollen vor den Weissagungen gläubiger Essentialisten und den Heimsuchungen der ewigen Wahrheitsforscher mit ihrer Kreuzzugsmentalität. Wer weiß, was beide bis auf den heutigen Tag nicht zuletzt im Recht anrichten, der kann sich nicht genug freuen über jeden, der Licht ins Dunkel bringt. Und einen, der den Zugang bahnt zu Einsichten, die es nach wie vor schwer haben, akzeptiert zu werden, gerade weil sie auf weite Strecken ein völliges Umdenken erfordern.

Doch bedarf es auch eines Zusammendenkens des bislang regelmäßig getrennt Gedachten. So haben sich viele zu sehr daran gewöhnt, in der "Hermeneutik eine Denkfigur der Moderne" zu sehen und die Dekonstruktivisten als deren postmoderne Überwinder. Was just wieder vor allem die Juristen nicht hinnehmen wollen. Ihnen ist die überkommene Hermeneutik heilig als Garant ihres größten Glückes, den einzig wahren Sinn eines Gesetzestextes nicht allein zu suchen, sondern auch zu finden. Sie müssen umlernen. Es gibt nicht allein kein erlöstes Draußen (Adorno), vielmehr auch kein aus der Umklammerung des Textes erst zu erlösendes Drinnen. Gemeinhin Sinn oder Bedeutung genannt. Was anderswo als inzüchtige Glasperlenspielerei durchgehen mag, im Recht wird es bitter ernst. Denn hier muß entschieden werden. Mit gegebenenfalls entschiedener Wirkung für die Rechtsunterworfenen. Ein schlimmes Wort, das dafür unübersehbar zeigt, was auf dem Spiele steht.

Wenn Richter sich hermeneutisch über Gesetzestexte hermachen, dann letztlich noch immer und nahezu ausschließlich in vermeintlicher Nachfolge Fried Carl von Savignys. Dieser Oldtimer juristischer Hermeneutik kommt bei Angehrn gar nicht vor. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, sollte aber den Juristen zu denken geben. Zeigt es doch, daß Hermeneutik noch weitaus mehr und anderes umfaßt, als sie sich mehrheitlich vorstellen. Und das bereits allein bezogen auf den Umgang mit Texten, wobei die Textauslegung aber andererseits durchaus als "Modell für die humanwissenschaftliche Methode, ja für das Verstehen als solches" fungiert. Die "Festgelegtheit des Sinnes", für Alteuropäer der Traum, für Dekonstruktivisten ein Albtraum, wird aber keineswegs erst als Ergebnis dekonstruktivistischer Tätigkeit "aufgesprengt". Das besorgen bereits aufgeklärte Hermeneutiker.

Angehrn handelt von ihnen allen. Und dies so glänzend, daß der Leser nicht selten versucht ist, selbst das noch zu bestaunen, was nach seiner Überzeugung inzwischen überholt ist. Mit dem Nebeneffekt, daß man bereit wird, den Vertretern der überkommenen juristischen Hermeneutik mit Nachsicht zu begegnen. So auch, wenn diese wieder einmal versuchen, das ihnen in Gesetzesform "vorliegende Textgebilde in seiner äußeren Gestalt zu durchdringen und einem adäquaten Verständnis des im Text Gemeinten möglichst nahezukommen". Sie müßten dann allerdings auch von einem Bilde die Farbe abkratzen, um zu sehen, ob dahinter die Kunst versteckt ist. Im Ernst: Sie sollen Angehrn lesen. Alle diese spannenden Passagen über das Verstehen und Interpretieren der "Texte, Symbole, Kunstwerke, Inszenierungen, Kulte, Stilformen, Traditionen". Am Ende, nach dem lustvollen Durchwandern des umfangreichen Textes von Angehrn weiß jeder (erneut), daß kein Sinn "ist" ohne dessen Konstrukteure.

WALTER GRASNICK

Emil Angehrn: "Interpretation und Dekonstruktion". Untersuchungen zur Hermeneutik. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2003. 354 S., br., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Grasnick ist ganz hingerissen und bespricht Emil Angehrns Band über die Traditionen und den Widerstreit von Hermeneutik (ein Text hat eine feste Bedeutung, man muss sie nur finden) und Dekonstruktion (ein Text ist ein Text ist ein Text ...) so beschwingt, dass man Lust kriegt, die ganzen Ideen wie beim ersten Seminar mit leuchtenden Augen zu verschlingen. "Meisterhaft" erzähle Angehrn die Geschichte und die Geschichten der Ausleger und der Zweifler, "materialvoll und kenntnisreich" - ein eloquenter, sicherer Führer "durch das weite Land zwischen Autor und Text, das Gebiet der 'Sinnzusammenbrüche' und Sinnkonstruktionen", an dessen vorläufigen Ende es die munteren, wohl meinenden Gegner der "ewigen Wahrheitssucher" und "gläubigen Essentialisten" noch immer schwer haben. Und so fordert der Rezensent am Ende auf: "Im Ernst: Sie sollen Angehrn lesen."

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