"Einerseits schließt die soziologische Systemtheorie aus, Intervention sei etwas anderes als Sabotage, die als soziales Konzept fungiert, etwas anderes als eine Art Spiegel- und Blendwerk in einer blind herumpreschenden Evolution, etwas anderes als Illusion, bei der alles darauf ankommt, wie man geschickt Erfolg zurechnen kann; andererseits wird man nicht sagen können, daß die Theorie diesen Befund schon hinreichend ausgearbeitet und vorgelegt habe. Dieser kuriosen Lage nimmt sich dieses Buch an - abstrakt, was sich von selbst versteht, und asketisch, damit die Unterscheidungen sichtbar werden, um die es geht."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2000Alles normal
Nur die Systemtheorie gerät in die Krise: Peter Fuchs hat einen neuen Sprengstoff entdeckt
Sollte die älteste und ärgste Kritik an der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann am Ende Recht behalten? Sie betreibe eine Metaphysik der Systeme und sei für eine empirische Forschung und Wissenschaft schlicht unbrauchbar - so wurde dieser Theorie spätestens seit ihrer autopoietischen Wende im Buch "Soziale System" von 1984 vorgehalten. Diese sattsam bekannte Darstellung wäre nicht von sonderlichem Interesse, bekäme sie nicht ausgerechnet durch einen der profiliertesten Vertreter der Systemtheorie selbst neue Nahrung.
Vordergründig gibt sich die Studie von Peter Fuchs über "Intervention und Erfahrung" nur als eine Bereinigung von zweifelhaften Tendenzen innerhalb der systemtheoretischen Provinz. Sie richtet sich gegen mittlerweile weit verbreitete Versuche, die Relevanz der Theorie durch das Versprechen ihrer Anwendbarkeit für Beratungs- und Steuerungsbedarf zu sichern, ihre besondere Eignung für zielgerichtete Interventionen in komplexen Handlungszusammenhängen zu erweisen. Intervention im üblichen Sinne, als Eingriff, der Wünschenswertes bewirke, könne es der Theorie geschlossener System zufolge gar nicht geben, so sehr die Beratungs- und Steuerungsbedürftigkeit der modernen Gesellschaft, der Organisationen und Individuen in ihr diesem Befund auch widerspreche. Was muss, fragt Fuchs, der Theorie angetan werden, damit ausgerechnet sie - die doch wie keine andere von der Autonomie der Systeme ausgeht - so Erfolg verheißend dem boomenden Markt der Beratung angedient werden kann? Sie muss schlicht die Vorstellung der Evolution ausblenden. Sie muss Systeme, die sich nur durch selbstbestimmten Wechsel eigener Strukturen immer wechselnden Lagen anpassen können, zu stabilen Objekten degradieren, deren Fehlfunktionen durch einsichtige Subjekte erkannt und wohlwollend behoben werden könnten.
Interventions-, Beratungs- und Steuerungstheorien diesen Typs sind - so das vernichtende Urteil des Systemtheoretikers - dem Rückfall in das cartesische Dual von Subjekt und Objekt anheim gegeben, mit welch abstrakten Theoriemitteln sie diese Dualität auch anreichern und verschleiern mögen. Doch damit nicht genug. "Kleinzeitiges Beobachten" sei ihr zweites Kennzeichen. Nur die Einschränkung auf äußerst kurze Fristen erlaube es der Beobachtung, von Evolution abzusehen und einen Zusammenhang von Eingriff und Erfolg behaupten zu können. Ob die Anpassungen, die durch Interventionen vorgenommen werden, dem beeinflussten System für weitere Anpassungserfordernisse zum Guten oder zum Schlechten gereichen, muss offen bleiben, damit sich eine Intervention als Erfolg behaupten kann.
Solche Analysen und Thesen mögen die Szene der Familien-, Organisations- und Politikberatung in Unruhe versetzen. Denn wer, der sich systemtheoretisch informiert gibt, könnte die Verdikte des cartesischen Denkens und des kleinzeitigen, evolutionsblinden Beobachtens schon auf sich sitzen lassen? Die soziologische Systemtheorie beharrt auf ihrer Unbrauchbarkeit für die gesellschaftliche Praxis, um ihre Begriffe rein zu halten. Nun gut, könnte man denken, wenn so wenigstens ihre Wissenschaftlichkeit gewahrt werden könnte. Aber ausgerechnet im Blick auf die Wissenschaftlichkeit der Systemtheorie, im Blick auf ihre Herkunftsdisziplin, die Soziologie, liegt erst der eigentliche Zündstoff, den Peter Fuchs in seiner Studie präpariert. Da wird eine Lunte gelegt, und das Interventionsthema dient nur dazu, sie vorerst feucht zu halten.
Diesen Sprengsatz birgt der zweite titelgebende Begriff, der Begriff der Erfahrung. Innerhalb der Dramaturgie des Buches dient der Exkurs zu diesem Thema nur der Vorbereitung eines neuen, eines systemtheoretisch modifizierten Interventionsbegriffes. Intervention, wird es dann am Ende heißen, kann nur als Bildung einer eigenen Kommunikationsform verstanden werden, die soziale Systeme mit einer eigenen Umwelt erzeugt. Berater wie Beratener finden sich immer als Umwelt der Beratung wieder. Die Eigenständigkeit und Geschlossenheit des Beratungssystems ist in der Auszeichnung (und dann erst in der Bearbeitung) von Krisenlagen zu sehen, also in der Unterscheidung von Krise und Normalität. Die Institution der Beratung schafft in einer Gesellschaft, in der geschieht, was geschieht, die Zeit, Normalitäten zu besprechen und von einer Normalität zu einer anderen Normalität zu finden - zu einer besseren Normalität, so hofft man, garantieren aber kann es keiner. Man kann es nur probieren. Intervention, Beratung und Steuerung wären demnach die sozial zulässigen Formen des Experiments mit Normalität.
Aber was ist Normalität? Spätestens seit Foucaults berühmter Untersuchung über "Wahnsinn und Gesellschaft" kann man wissen, dass Normalität eine soziale Konstruktion, wenngleich wohl eine gesellschaftlich unverzichtbare Fiktion sei. Wie will ausgerechnet die alltagsferne Systemtheorie der Trivialität des Normalen noch Interessantes und Wissensförderliches abgewinnen? Normalität, so behauptet Peter Fuchs, sei das Produkt einer spezifischen Form von Blindheit. Das Problem der notwendigen Blindheit, die Sehen und Einsicht erst ermögliche, findet Fuchs in der philosophischen Diskussion des Erfahrungsbegriffes von Aristoteles bis David Hume wieder: eine Diskussionslinie, die erst mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis von Erfahrungstatsachen und Empirie, also mit Francis Bacon abbreche und das Problem der Blindheit auf die Kontrolle und Überprüfbarkeit von Wahrnehmungsdaten reduziere. In der vormodernen Tradition bezeichnete Erfahrung das Vermögen, auch unerwartete Ereignisse rasch und routiniert einzuordnen; man kann auch sagen: Überraschungen das Überraschende zu nehmen.
Erfahrung erinnert bereits Gewusstes, ohne - und darin liegt ihre Blindheit - dass das Erinnern selbst erinnert werden könnte oder müsste. Sie erkennt das Gleichartige im Verschiedenen und dann auch das Verschiedene im Gleichen. So und nur so kann die Differenz von alt und neu, von normal und abweichend erzeugt und wirksam werden. Systemtheoretisch reformuliert, überrascht ein System durch Erfahrung sich selbst, lernt es die eigenen Erkennungsroutinen kennen und verschafft sich so auch die Chance zum Lernen, zum Austausch des bereits Gewussten gegen neues Wissen.
Aber diese Chance beruht darauf, dass jede Selbstkenntnis immer nur partielle Kenntnis ist. Andernfalls könnte Erfahrung niemals Überraschungen bringen, und erfahrene Systeme wären zur Langeweile an sich selbst verdammt. Indem sie Normalitäten aufruft und ihren reibungslosen Einsatz behindert, forciert die Kommunikationsform der Intervention nur die Selbstüberraschungsfähigkeiten bei Erfahrungen. Sie fügt sich damit ein in eine Gesellschaft, der alles Normale und jede Verlängerung von Erfahrungswerten in die Zukunft fragwürdig erscheint. Und sie gibt der Arbeit an diesem Zweifel eine soziale Form.
Was immer für Theorie und Praxis der Intervention aus solchen Thesen noch zu gewinnen sein mag: Unter der Hand zersetzt die Erinnerung an den traditionellen Erfahrungsbegriff und seine systemtheoretische Reformulierung die Selbstverständlichkeit (soll man sagen: die Normalität?) dessen, was unter einer empirischen Wissenschaft verstanden werden kann. Wenn Erfahrung Blindheit voraussetzt, und die Soziologie mit Erfahrungen zu rechnen beginnt: Inwieweit lässt sie sich dann selbst noch als eine Wissenschaft begreifen, die sich Erfahrungstatsachen verpflichtet weiß? Welche Blindheiten müsste sie dann sich selbst zugestehen? Und wie könnte sie dann ihre Erkenntnisse nach außen hin noch mit Sicherheit vertreten? Bei allen Abstraktionslagen, die Niklas Luhmann angepeilt und erreicht hatte: Stets hatte er sein Beobachten als ein empirisches ausgewiesen, als ein Beobachten, das in der Welt stattfindet und deshalb seinerseits beobachtbar sei. Stets hatte er mit diesem Hinweis sein Unternehmen der Gesellschaftstheorie gegen Philosophien und Metaphysiken abgegrenzt, die ihre Letztbegriffe im Unbeobachtbaren, im transzendentalen Subjekt, im Geist, in der Materie oder im Sein, verankerten.
Die Aufnahme des Erfahrungsbegriffs in das Arsenal der Theorie wird es schwierig machen, diese Begründungs- und Abgrenzungsfigur aufrechtzuerhalten. Die Konsequenzen für die Systemtheorie und ihre Stellung innerhalb der Soziologie sind kaum abzusehen. Fuchs warnt in seiner Studie davor, Systeme wie Objekte zu behandeln. Oberflächlich gesehen gilt diese Warnung nur der Beratungs- und Interventionsszene. Aber wenn Systeme nicht als Objekte behandelbar sind, wovon spricht dann die Systemtheorie selbst? Was kann sie selbst dann noch als ihren Gegenstand festhalten, der sich einer wissenschaftlichen und überprüfbaren Forschung unterziehen ließe? Luhmanns Thesen zur modernen Gesellschaft sind doch umstritten genug. Was hilft es, der Arbeit und Kritik an diesen Thesen auch noch die letzte Gegenständlichkeit zu nehmen? Über Probleme dieser Art schweigt sich Fuchs weitgehend aus.
ACHIM BROSZIEWSKI
Peter Fuchs: "Intervention und Erfahrung". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 159 S., br., 17,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur die Systemtheorie gerät in die Krise: Peter Fuchs hat einen neuen Sprengstoff entdeckt
Sollte die älteste und ärgste Kritik an der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann am Ende Recht behalten? Sie betreibe eine Metaphysik der Systeme und sei für eine empirische Forschung und Wissenschaft schlicht unbrauchbar - so wurde dieser Theorie spätestens seit ihrer autopoietischen Wende im Buch "Soziale System" von 1984 vorgehalten. Diese sattsam bekannte Darstellung wäre nicht von sonderlichem Interesse, bekäme sie nicht ausgerechnet durch einen der profiliertesten Vertreter der Systemtheorie selbst neue Nahrung.
Vordergründig gibt sich die Studie von Peter Fuchs über "Intervention und Erfahrung" nur als eine Bereinigung von zweifelhaften Tendenzen innerhalb der systemtheoretischen Provinz. Sie richtet sich gegen mittlerweile weit verbreitete Versuche, die Relevanz der Theorie durch das Versprechen ihrer Anwendbarkeit für Beratungs- und Steuerungsbedarf zu sichern, ihre besondere Eignung für zielgerichtete Interventionen in komplexen Handlungszusammenhängen zu erweisen. Intervention im üblichen Sinne, als Eingriff, der Wünschenswertes bewirke, könne es der Theorie geschlossener System zufolge gar nicht geben, so sehr die Beratungs- und Steuerungsbedürftigkeit der modernen Gesellschaft, der Organisationen und Individuen in ihr diesem Befund auch widerspreche. Was muss, fragt Fuchs, der Theorie angetan werden, damit ausgerechnet sie - die doch wie keine andere von der Autonomie der Systeme ausgeht - so Erfolg verheißend dem boomenden Markt der Beratung angedient werden kann? Sie muss schlicht die Vorstellung der Evolution ausblenden. Sie muss Systeme, die sich nur durch selbstbestimmten Wechsel eigener Strukturen immer wechselnden Lagen anpassen können, zu stabilen Objekten degradieren, deren Fehlfunktionen durch einsichtige Subjekte erkannt und wohlwollend behoben werden könnten.
Interventions-, Beratungs- und Steuerungstheorien diesen Typs sind - so das vernichtende Urteil des Systemtheoretikers - dem Rückfall in das cartesische Dual von Subjekt und Objekt anheim gegeben, mit welch abstrakten Theoriemitteln sie diese Dualität auch anreichern und verschleiern mögen. Doch damit nicht genug. "Kleinzeitiges Beobachten" sei ihr zweites Kennzeichen. Nur die Einschränkung auf äußerst kurze Fristen erlaube es der Beobachtung, von Evolution abzusehen und einen Zusammenhang von Eingriff und Erfolg behaupten zu können. Ob die Anpassungen, die durch Interventionen vorgenommen werden, dem beeinflussten System für weitere Anpassungserfordernisse zum Guten oder zum Schlechten gereichen, muss offen bleiben, damit sich eine Intervention als Erfolg behaupten kann.
Solche Analysen und Thesen mögen die Szene der Familien-, Organisations- und Politikberatung in Unruhe versetzen. Denn wer, der sich systemtheoretisch informiert gibt, könnte die Verdikte des cartesischen Denkens und des kleinzeitigen, evolutionsblinden Beobachtens schon auf sich sitzen lassen? Die soziologische Systemtheorie beharrt auf ihrer Unbrauchbarkeit für die gesellschaftliche Praxis, um ihre Begriffe rein zu halten. Nun gut, könnte man denken, wenn so wenigstens ihre Wissenschaftlichkeit gewahrt werden könnte. Aber ausgerechnet im Blick auf die Wissenschaftlichkeit der Systemtheorie, im Blick auf ihre Herkunftsdisziplin, die Soziologie, liegt erst der eigentliche Zündstoff, den Peter Fuchs in seiner Studie präpariert. Da wird eine Lunte gelegt, und das Interventionsthema dient nur dazu, sie vorerst feucht zu halten.
Diesen Sprengsatz birgt der zweite titelgebende Begriff, der Begriff der Erfahrung. Innerhalb der Dramaturgie des Buches dient der Exkurs zu diesem Thema nur der Vorbereitung eines neuen, eines systemtheoretisch modifizierten Interventionsbegriffes. Intervention, wird es dann am Ende heißen, kann nur als Bildung einer eigenen Kommunikationsform verstanden werden, die soziale Systeme mit einer eigenen Umwelt erzeugt. Berater wie Beratener finden sich immer als Umwelt der Beratung wieder. Die Eigenständigkeit und Geschlossenheit des Beratungssystems ist in der Auszeichnung (und dann erst in der Bearbeitung) von Krisenlagen zu sehen, also in der Unterscheidung von Krise und Normalität. Die Institution der Beratung schafft in einer Gesellschaft, in der geschieht, was geschieht, die Zeit, Normalitäten zu besprechen und von einer Normalität zu einer anderen Normalität zu finden - zu einer besseren Normalität, so hofft man, garantieren aber kann es keiner. Man kann es nur probieren. Intervention, Beratung und Steuerung wären demnach die sozial zulässigen Formen des Experiments mit Normalität.
Aber was ist Normalität? Spätestens seit Foucaults berühmter Untersuchung über "Wahnsinn und Gesellschaft" kann man wissen, dass Normalität eine soziale Konstruktion, wenngleich wohl eine gesellschaftlich unverzichtbare Fiktion sei. Wie will ausgerechnet die alltagsferne Systemtheorie der Trivialität des Normalen noch Interessantes und Wissensförderliches abgewinnen? Normalität, so behauptet Peter Fuchs, sei das Produkt einer spezifischen Form von Blindheit. Das Problem der notwendigen Blindheit, die Sehen und Einsicht erst ermögliche, findet Fuchs in der philosophischen Diskussion des Erfahrungsbegriffes von Aristoteles bis David Hume wieder: eine Diskussionslinie, die erst mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis von Erfahrungstatsachen und Empirie, also mit Francis Bacon abbreche und das Problem der Blindheit auf die Kontrolle und Überprüfbarkeit von Wahrnehmungsdaten reduziere. In der vormodernen Tradition bezeichnete Erfahrung das Vermögen, auch unerwartete Ereignisse rasch und routiniert einzuordnen; man kann auch sagen: Überraschungen das Überraschende zu nehmen.
Erfahrung erinnert bereits Gewusstes, ohne - und darin liegt ihre Blindheit - dass das Erinnern selbst erinnert werden könnte oder müsste. Sie erkennt das Gleichartige im Verschiedenen und dann auch das Verschiedene im Gleichen. So und nur so kann die Differenz von alt und neu, von normal und abweichend erzeugt und wirksam werden. Systemtheoretisch reformuliert, überrascht ein System durch Erfahrung sich selbst, lernt es die eigenen Erkennungsroutinen kennen und verschafft sich so auch die Chance zum Lernen, zum Austausch des bereits Gewussten gegen neues Wissen.
Aber diese Chance beruht darauf, dass jede Selbstkenntnis immer nur partielle Kenntnis ist. Andernfalls könnte Erfahrung niemals Überraschungen bringen, und erfahrene Systeme wären zur Langeweile an sich selbst verdammt. Indem sie Normalitäten aufruft und ihren reibungslosen Einsatz behindert, forciert die Kommunikationsform der Intervention nur die Selbstüberraschungsfähigkeiten bei Erfahrungen. Sie fügt sich damit ein in eine Gesellschaft, der alles Normale und jede Verlängerung von Erfahrungswerten in die Zukunft fragwürdig erscheint. Und sie gibt der Arbeit an diesem Zweifel eine soziale Form.
Was immer für Theorie und Praxis der Intervention aus solchen Thesen noch zu gewinnen sein mag: Unter der Hand zersetzt die Erinnerung an den traditionellen Erfahrungsbegriff und seine systemtheoretische Reformulierung die Selbstverständlichkeit (soll man sagen: die Normalität?) dessen, was unter einer empirischen Wissenschaft verstanden werden kann. Wenn Erfahrung Blindheit voraussetzt, und die Soziologie mit Erfahrungen zu rechnen beginnt: Inwieweit lässt sie sich dann selbst noch als eine Wissenschaft begreifen, die sich Erfahrungstatsachen verpflichtet weiß? Welche Blindheiten müsste sie dann sich selbst zugestehen? Und wie könnte sie dann ihre Erkenntnisse nach außen hin noch mit Sicherheit vertreten? Bei allen Abstraktionslagen, die Niklas Luhmann angepeilt und erreicht hatte: Stets hatte er sein Beobachten als ein empirisches ausgewiesen, als ein Beobachten, das in der Welt stattfindet und deshalb seinerseits beobachtbar sei. Stets hatte er mit diesem Hinweis sein Unternehmen der Gesellschaftstheorie gegen Philosophien und Metaphysiken abgegrenzt, die ihre Letztbegriffe im Unbeobachtbaren, im transzendentalen Subjekt, im Geist, in der Materie oder im Sein, verankerten.
Die Aufnahme des Erfahrungsbegriffs in das Arsenal der Theorie wird es schwierig machen, diese Begründungs- und Abgrenzungsfigur aufrechtzuerhalten. Die Konsequenzen für die Systemtheorie und ihre Stellung innerhalb der Soziologie sind kaum abzusehen. Fuchs warnt in seiner Studie davor, Systeme wie Objekte zu behandeln. Oberflächlich gesehen gilt diese Warnung nur der Beratungs- und Interventionsszene. Aber wenn Systeme nicht als Objekte behandelbar sind, wovon spricht dann die Systemtheorie selbst? Was kann sie selbst dann noch als ihren Gegenstand festhalten, der sich einer wissenschaftlichen und überprüfbaren Forschung unterziehen ließe? Luhmanns Thesen zur modernen Gesellschaft sind doch umstritten genug. Was hilft es, der Arbeit und Kritik an diesen Thesen auch noch die letzte Gegenständlichkeit zu nehmen? Über Probleme dieser Art schweigt sich Fuchs weitgehend aus.
ACHIM BROSZIEWSKI
Peter Fuchs: "Intervention und Erfahrung". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 159 S., br., 17,80 DM.
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