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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2011

Die erste Europäische Union
Die Kraft der Wohlstandsunterschiede: Peter Heathers „Invasion der Barbaren“ entwirft ein großes Tableau von der wandernden Menschheit des ersten Jahrtausends
Es hat die Völkerwanderung gegeben: Manchmal muss die Geschichtswissenschaft zu überkommenen Erkenntnissen zurückkehren, sie dabei aber mit neuer Anschauung füllen. Das leistet der englische Historiker Peter Heather jetzt ein zweites Mal. 2005 hatte in seiner großen Erzählung vom Fall des Römischen Imperiums (sie erschien auf Deutsch 2007) die Bedeutung der Barbarenstürme für den Untergang Roms neu ans Licht gehoben, im Streit vor allem mit soziopolitischen Dekadenztheorien, die innere Zerfallsprozesse für entscheidend halten; nun setzt er das fort mit einer noch umfangreicheren Studie über „Empires and Barbarians“ (so der englische Titel), die die europäische Geschichte vom Hunneneinfall des vierten Jahrhunderts bis zum Jahr 1000 insgesamt in den Blick nimmt, vom Ende des weströmischen Reiches also bis zu dem Punkt, an dem mit der Gründung der slawischen Königreiche in Polen, Russland und Böhmen die Völkerfamilie des Kontinents sich geschlossen hatte. Heather nennt das die erste Europäische Union.
Diesen gewaltigen Prozess beschreibt Heather als Abfolge von „Migrationen“, mit einem heutigen Begriff, den wir mit Globalisierung und wirtschaftlichem Gefälle zwischen Reich und Arm in Verbindung bringen. Und genau darum geht es auch Heather, um die Erschließung eines großen Raums für gleiche Lebensverhältnisse, für Verkehr, Handel und Zivilisation. Er vollzog sich nicht allein, aber wesentlich in einer Kette von Völkerverschiebungen durchaus beträchtlichen Ausmaßes.
Heathers Buch ist dabei gleichzeitig epischer Bericht und sozialwissenschaftliche Typologie; es geht um die dramatischen Ereignisse der Barbareninvasionen in reiches, überlegenes Kulturland, aber auch um die oft ganz unterschiedlichen Formen dieser Wanderungs- und Eroberungsströme. Das Ineinander von Erzählung und Systematik macht die Lektüre streckenweise anspruchsvoll; der Leser ist gut beraten, ein konventionelles Handbuch für Fakten und Chronologie zur Hand zu haben, wenn er Heathers Darstellung ganz nutzen will.
Am Anfang steht das Wohlstandsgefälle zwischen Römern und Germanen an den Rhein- und Donaugrenzen des Reiches. Der Wohlstand lockt an und strahlt aus: Die Germanen profitieren von Handel und Reichtum, mit der Folge, dass sie sich selbst besser organisieren. Ihr Ackerbau wird erfolgreicher, er produziert Überschüsse, die Barbaren treiben nun Handel. Die Überschüsse erlauben die Ausrüstung militärischer Gefolgschaften, ja Ansätze von größerer Gruppenbildung. Ein „Germanien der zwei Geschwindigkeiten“ entsteht, eine Art von Assimilation an den Grenzen des Imperiums, von der auch die Römer profitieren, weil sie Gewinne machen und Germanen zur Verteidigung einstellen können. Diese friedlichen, in der Archäologie ablesbaren Prozesse ließen die älteren, kriegerischen Bilder von der Völkerwanderung letzthin etwas verblassen: Man sah Durchdringung und Austausch, nicht mehr die gewaltsamen nach außen geschlossenen „Billardkugeln“ ethnisch reiner Stämme, die vorherige Bewohner einfach verdrängen, gar mit Ausrottungen. Doch Heather stellt fest: Es gab die Invasionen, und zwar nicht nur in Gestalt kleinerer spezialisierter Kriegergruppen, die dann aufgesogen wurden, sondern als Völkerzüge, mit Kriegern, ihren Gefolgschaften, Freien und Sklaven, samt Frauen und Kindern. Also große Gruppen, in denen auf je einen bewaffneten Kämpfer mindestens fünf andere Personen kamen. Das setzte hohen Organisationsgrad, imperiale Wirtschaftsüberschüsse, übrigens auch das Straßennetz des Reiches voraus, auf dem man mit Wagen und Gepäck zügig vorankam.
Angestoßen aber wurden diese riesigen, sich über lange Jahre und Tausende Kilometer hinziehenden Völkerzüge mit oft mehreren Zigtausenden Goten, Vandalen, Sueben durch die aus Mittelasien vordringenden hunnischen Reiterscharen, die die Germanen teils unterwarfen, teils vor sich hertrieben. Das war die erste Phase der Wanderungen im späten vierten und im fünften Jahrhundert. Sie führte zum Zusammenbruch Westroms und zur Gründung germanischer Königreiche in Italien, Gallien, Spanien und Nordafrika, die durchaus ältere Strukturen weiterleben ließen, sich aber große Teile des Kuchens an Land und Leuten sicherten: Es kam zu einem Elitenaustausch, teilweise zu geschlossenen Neusiedlungen.
Kleinteiliger, dafür auch nachhaltiger verliefen die Prozesse im Nordwesten, auf den britischen Inseln und an der gallofränkischen Grenze, wo stetiger Zustrom von Bauern und Kriegern zu tiefgreifenden ethnischen Veränderungen führten: England wurde – von Friesland und Skandinavien aus – angelsächsisch, das westrheinische Gebiet bis weit nach Frankreich hinein germanisch-fränkisch, Grundlage des späteren merowingisch-karolingischen Reiches. Hier war die (auch sprachliche) Verdrängung der keltisch-römischen Vorbewohner besonders vollständig, es muss zu ganz neuen Siedlungsstrukturen und Landaufteilungen gekommen sein, vom römischen Großbetrieb, der Villa, hin zu protofeudalen Verhältnissen. Da Heather systematisch arbeitet, vergleicht er das auch mit der normannischen Invasion nach England von 1066, bei der es zu einem reinen Elitenaustausch auf der Grundlage der vorherigen Landaufteilung kam, wo also nur die Herren ausgewechselt wurden.
Das am ehemals römischen Rand entstandene Frankenreich durchdrang dann wiederum den Raum bis zur Elbe, das einst imperiale Vorland, und traf dabei auf die in der zweiten Jahrtausendhälfte den Germanen nachgefolgten slawischen Völkerschaften, die den Raum Ostmitteleuropas besetzt hatten. Auch diesen besonders stummen, in historischer Schriftüberlieferung kaum fassbaren Prozess slawischer Landnahme versteht Heather als Migration in einem „Schneeballsystem“, nicht als weiterschieben ethnischer Billardkugeln: Vorreiter machen sich vertraut mit neuen Gebieten, ziehen dann größere Massen nach, diese koexistieren aber auch mit verbliebenen Ureinwohnern. Hier hilft eine kleinteilige, seit 1990 auch von nationalistischen Vorurteilen bereinigte Archäologie stumme kollektive Prozesse zum Sprechen zu bringen.
Auch in dieser zweiten, osteuropäischen Phase des gesamteuropäischen Wanderungstableaus spielt das Wohlstandsgefälle die entscheidende Rolle. Slawen verlassen erschöpfte Böden und rücken an die Zentren der Zivilisation heran. Germanische Wikinger plündern seit dem achten Jahrhundert an allen Küsten von England bis Italien; Raub und Handel, also Bernstein, Pelze und Sklaven finden ihre weiten Wege von der Ostsee bis nach Byzanz und zu den arabischen Kalifen, die phantastische Geldsummen hoch zur Wolga und in die baltischen Gebiete schicken. Missionare und Mönche folgen nach. Der neue Raub- und Handelsreichtum stößt auch hier erste Staatsbildungen in gewaltigen Burg- und Kirchenbauten an.
An Elbe und Oder treffen dann um 1000 germanische und slawische, aber nun schon gemeinsam christliche Völker zusammen; die Reise Kaiser Ottos III. ins neue polnische Bistum Gnesen im Jahre 999 setzt einen chronologischen Schlusspunkt.
Ausblicke in die Bauern- und Ritterkolonisation, die seit dem Hochmittelalter Schlesien, Pommern und Preußen deutsch werden ließ, bleiben knapp; unerwähnt bleibt die dramatische Revision dieses Prozesses 750 Jahre später am Ende des Zweiten Weltkrieges. Für Heather ist entscheidend, dass der Ungarneinfall des 10. Jahrhunderts zu keiner größeren Folgewanderung mehr führte: sicherster Beweis, dass die neuen Bevölkerungs- und Wohlstandsverhältnisse sich konsolidiert hatten. Man integrierte die Ungarn ins bestehende Tableau, aber damit hatte es sich. Die türkischen Invasionen auf dem Balkan seit dem späten 14. Jahrhundert erwähnt Heather dann gar nicht mehr.
Trotzdem zeigt dieses wichtige, große Buch ein abgerundetes Bild: Es handelt im Kern von der Durchdringung des europäischen Raums zwischen Rhein, Donau und Ural mit hochentwickelter Wirtschaft, Kultur und Staatlichkeit. Heather beschreibt die ethnisch-migratorische Grundlage dieses Jahrtausendvorgangs, also handelt er von Wanderungs- und Raubzügen, von Siedlungsformen und Grabsitten, von archäologischen Spuren und fernen Historikernachrichten.
Das, was darauf folgte, die Christianisierung, der Anschluss an die Kulturzentren in Rom und Konstantinopel, die Erschließung durch die Weltorganisationen der Kirchen des Westens und des Ostens, vor allem auch der Mönchsorden, in Deutschland zum Beispiel erst durch den Umweg über Irland, viel später dann durch die Pariser Zentrale der Zisterzienser, erwähnt er mit keinem Wort. Das sollte man aber im Auge behalten, weil diese zweite Ebene ja ebenfalls schon im ersten Jahrtausend beginnt, auch wenn die innere Zivilisierung durch die kirchliche Schriftkultur dann zur Hauptaufgabe erst des hohen Mittelalters wurde.
Heather schreibt aber nicht nur die Geschichte eines fernen Jahrtausends. Er stellt zugleich die Menschheit als wandernde, von Fall zu Fall bis in die Gegenwart wanderungsbereite Spezies vor. Dass er den Bauernkriegerzug der Buren in Südafrika nach 1830 immer wieder als Gegenprobe heranzieht, ist nur eine seiner Pointen. Die bis heute fortwirkende Lehre aus den vielen frühmittelalterlichen Erfahrungen besteht in der Kraft der Wohlstandsunterschiede, die mehr oder weniger friedliche Völkerschaften unausweichlich in Bewegung setzen. Jeder aufmerksame Zeitgenosse kann hier Parallelen bilden und Schlüsse ziehen. Wann werden die Völkerwanderungen aufhören? Wenn überall gleiche Lebensverhältnisse herrschen. Dann wird aus Wanderung Verkehr geworden sein, ja eine Art Ende der Geschichte kommen. Denn dann besteht die Welt nur noch aus umzäunten Gärten und verteiltem Land.
GUSTAV SEIBT
PETER HEATHER: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 667 Seiten, 39,95 Euro.
Vorreiter machen sich vertraut
mit neuen Gebieten, ziehen
dann größere Massen nach
Jeder aufmerksame Zeitgenosse
kann hier Parallelen bilden und
Schlüsse ziehen
Aus dem Zeichentrickfilm „Asterix und die Wikinger“ (Astérix et les Vikings), Frankreich 2006 Foto: NG Collection/Interfoto
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