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Invasive Introspektion nennt Ternes all die Versuche philosophischer, soziologischer und "erkenntnistheoretischer" Beschreibungen des Verhältnisses zwischen lebenden Systemen oder zwischen Mensch und Welt, die sich darum bemühen, Wissen, Verstehen, Lernen und soziale Ordnung als offene Prozesse zu fassen. Der antirepräsentationistischen und weitgehend anticartesianischen Stoßrichtung dieser Beschreibungen kommen Begrifflichkeiten entgegen, die davon ausgehen, daß die "Realität" nur eine von vielen Möglichkeiten ist, die Reproduktionen und Autopoiesen lebender, sozialer und psychischer Systeme…mehr

Produktbeschreibung
Invasive Introspektion nennt Ternes all die Versuche philosophischer, soziologischer und "erkenntnistheoretischer" Beschreibungen des Verhältnisses zwischen lebenden Systemen oder zwischen Mensch und Welt, die sich darum bemühen, Wissen, Verstehen, Lernen und soziale Ordnung als offene Prozesse zu fassen. Der antirepräsentationistischen und weitgehend anticartesianischen Stoßrichtung dieser Beschreibungen kommen Begrifflichkeiten entgegen, die davon ausgehen, daß die "Realität" nur eine von vielen Möglichkeiten ist, die Reproduktionen und Autopoiesen lebender, sozialer und psychischer Systeme anzuschließen; die davon ausgehen, daß nichts im traditionellen Sinne "aufgeklärt" werden kann.

Niklas Luhmanns Systemtheorie ist die avancierteste Form dieser neuen theoretischen Markierungen. Ihr gilt Ternes Frage: Ist die "alteuropäische" Begrifflichkeit tatsächlich so unhaltbar, wie Luhmann suggeriert?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2000

Nun sag, wie hast du's mit der Passion?
Der Unterscheidung liegt die Entscheidung immer schon zugrunde: Bernd Ternes richtet an Niklas Luhmann die Gretchenfrage

Wie geht eine Theorie, die als Bedingung für die Teilnahme am Diskurs Vernunft voraussetzt, mit den Unvernünftigen um? "Habermas meint vermutlich, dass sein Begriff des vernünftigen Konsenses niemanden ausschließt oder, wie der absolute Geist in der Theorie Hegels, nur das Ausschließen ausschließt. Aber das heißt ja doch nur, dass die Theorie ihre eigenen Opfer unbezeichnet läßt": Zu diesem Schluss kommt die Rezension von "Faktizität und Geltung", die Niklas Luhmann 1993 im "Rechtshistorischen Journal" veröffentlicht hat. Bernd Ternes kehrt in seiner ideologiekritischen Innenschau der Systemtheorie den Spieß um und fragt nach den Opfern einer Theorie, unter deren "Neutronenbombenblick" der Mensch gänzlich aus den sozialen Systemen verschwindet.

Die Fragen, die Ternes an Niklas Luhmanns Systemtheorie richtet, münden schließlich in die "Gretchenfrage": "Gehe ich vom Leid der Menschen oder von der polykontextural gewordenen Logik aus?" Dabei hält Ternes selbst an der ethischen Voraussetzung fest, dass man nicht nur eine Unterscheidung treffen müsse - im Falle Luhmanns die Unterscheidung zwischen "System" und "Umwelt" -, um eine Beobachtung machen und eine Theoriemaschine in Gang setzen zu können; diese Unterscheidung impliziert immer auch eine Entscheidung im Hinblick auf das Menschenbild. Luhmann tilgt es in den Augen von Ternes vollkommen aus der Systemtheorie, weil die Leidenserfahrung des Menschen seinem Ehrgeiz widersteht, eine fugenlose "Theorie der Anfertigung systemtheoretischer Theorie zu liefern", die jede denkbare Kritik immer schon vorweggenommen hat.

Ternes' "Invasive Introspektion" ist nicht zuletzt eine Wiederbelebung der Debatte zwischen Habermas und Luhmann. Wie bei einer swiftschen Bücherschlacht werden die beiden rechtssoziologischen Schriften "Faktizität und Geltung" und "Das Recht der Gesellschaft" gegeneinander ins Feld geführt. Dabei übersieht Ternes allerdings, dass beide Bücher nicht unabhängig voneinander hätten geschrieben werden können, beziehen die Theorien von Habermas und Luhmann doch jeweils einen Teil ihrer Evidenz aus dem Verweis auf das Ungenügen der anderen. Das trägt nicht unbeträchtlich zum jeweiligen polemischen Schwung bei, der auch Schlagwörter nicht scheut, um den Gegner zu treffen und im Fundament seiner theoretischen Grundannahmen zu erschüttern: Während Luhmann der Diskursethik von Habermas eine erkenntnistheoretisch naive "Verklärung" der empirischen Verhältnisse vorwirft, die er idealisierend überhöhe, sieht dieser in Luhmanns Systemtheorie das moralisch verwerfliche Projekt einer "Gegenaufklärung", die letztlich die bedrohliche Erosion der solidarischen Kohäsionskräfte in unserer Gesellschaft fördere. Der Systemtheoretiker wirft dem Diskurstheoretiker mangelnde Abgeklärtheit, dieser jenem fehlenden Aufklärungswillen vor.

Daraus ergibt sich für den Leser das befremdliche Wechselspiel, dass Habermas' Diskurstheorie des Rechts aus der Perspektive von Luhmanns Systemtheorie ihre moralische Überzeugungskraft verliert, weil sie an den gegebenen Verhältnissen zu scheitern droht, während die empirische Evidenz von Luhmanns Systemtheorie aus der Perspektive von Habermas' Diskursethik die zynischen Züge einer Apologie der herrschenden Zustände annimmt, die der Faszination einer möglichst zutreffenden und im "Theoriedesign" maßgeschneiderten Beschreibung jeglichen Veränderungswillen opfert. Als "Hochform eines technokratischen Bewusstseins" hat Jürgen Habermas die funktionalistische Systemtheorie der Gesellschaft von Niklas Luhmann bezeichnet. Dieser mochte im Gegenzug in Habermas' Konsenstheorie des Diskurses nicht mehr als ein bloßes "Postulat", eine "kontrafaktische Unterstellung" sehen, die die eigentlichen soziologischen Probleme "in der Form von idealisierenden Annahmen wegdefiniert".

In dieser Debatte sucht Ternes verzweifelt den "archimedischen Punkt", von dem aus sich die Systemtheorie kritisieren ließe, ohne dass er von dieser immer schon besetzt wäre. Die Verzweiflung rührt von der Abgeklärtheit, die der Autor von Luhmanns Systemtheorie gelernt hat und hinter die er nicht zurückfallen möchte. Ternes gleicht dem kritisch geschulten Hasen, der das Märchen von Hase und Igel nur allzu gut kennt, um sich naiv auf ein Wettlaufen mit der Systemtheorie einzulassen. Er bleibt ihr auf der Spur, indem er sie jeweils einen Schritt vorausgehen lässt, um sogleich umständlich nachzumessen, wie sie immer schon dabei angelangt sein wird, "Ick bün all hier" zu sagen.

So entlarvt Ternes trickreich allerlei Kniffe, die die Systemtheorie als Gewinnertheorie auszeichnen, und liefert eine bei aller stilistischen Unwegsamkeit anregungsreiche Darstellung der Systemtheorie für Fortgeschrittene, die trittsicher genug sind, nicht über Wendungen wie die "reichliche Verohnmachtung des Menschen als notwendiges ,Werkzeug' der Kommunikation" zu stolpern, um hier zu "verbeispielen", wie der Autor "gegenzuthesen" pflegt. Das Quälende, Ternes selbst nicht vom Fleck kommen zu sehen, verkehrt die Moral des Märchens allerdings in sein Gegenteil: Lieber in Bewegung bleiben als nicht verlieren.

MARTIN STINGELIN

Bernd Ternes: "Invasive Introspektion". Fragen an Niklas Luhmanns Systemtheorie. Wilhelm Fink Verlag, München 1999. 259 S., br., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Martin Stingelin empfindet einige Sympathie für den Autor, der sich auf das Schlachtfeld der Habermas-Luhmann-Debatte begeben hat. Ternes, der offenbar auf der Seite von Habermas ficht, überprüfe Luhmanns Systemtheorie unter dem Blickwinkel des Menschenbildes, dass Luhmann vermittle. Fazit des Autors: Der Mensch ist unter Luhmanns `Neutronenbombenblick` vollkommen aus den sozialen Systemen verschwunden. Der Rezensent beschreibt halb amüsiert, halb mitleidig, wie Ternes einen Punkt sucht, von dem aus sich Luhmann kritisieren läßt - und scheitert. Ternes sei wie der Hase, der das Spiel des Igels durchschaut, deshalb einfach stehenbleibt und analysiert, während es schon wieder heißt: `ich bün all hier`. Zwar "entlarve" Ternes allerlei Tricks, die die Systemtheorie als "Gewinnertheorie" kennzeichnen, aber am Ende überwiegt bei Stingelin das Mitleid mit dem "Hasen" Ternes: "Lieber in Bewegung bleiben als nicht verlieren", meint der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH