In vier poetischen Streifzügen von außerordentlicher Vorstellungskraft verbindet Carson Rhythmus und Metaphorik der Dichtung mit der schweifenden Natur des Essays und der Direktheit des Theaters. Die Lesenden erkennen, dass Geschichten und Mythen unsere Wirklichkeit durchweben. Neben einer modernen Variation auf den Dichter Mimnermos von Kolophon finden sich in diesem Band Kurzvorträge zu so diversen Themen wie Forellen, Rembrandt und Entjungferung; Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Winter und Birnen sowie ein Langgedicht zum Leben des Renaissancemalers Perugino. Schließlich steht unser ganzes komplexes Heute auf dem Spiel. Was sehen und was verstehen wir? Welche Lust ziehen wir gerade aus dem, was wir nicht verstehen und was dennoch da ist? Anne Carson, die wohl aufregendste lebende Dichterin der angloamerikanischen Welt, findet am Entdecken nicht weniger Freude als am Irren/ Irrtum/IndieIrreGehen. Frauen sind stark, sagt diese Dichterin, sie verstehen etwas von Gefäßen,vom Wasser und vom irdischen Durst.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Wärmstens empfiehlt Rezensentin Angela Schader Anne Carsons "Irdischen Durst" vor allem jenen, die mit dem vielfältigen Werk der kanadischen Autorin noch nicht vertraut sind. Der dünne Band nämlich bietet eine herrliche Kostprobe aus Versen, Prosatexten, Essays und fiktiven Unterredungen mit dem antiken Dichter Mimnermos. Dieser steht im Zentrum von Schaders neugierigen literarischen Annäherungen aus verschiedenen Richtungen. Spielerisch und trotzdem gewissenhaft greift sie Mimnermos Themen und Gedanken auf, um sie über ihren historischen Kontext hinaus zu erweitern und zu bearbeiten, so Schader. Versiert trägt sie die wenigen bekannten Fakten aus dem Leben des Griechen zusammen, nur um die so aufgebaute Sicherheit und Autorität im nächsten Abschnitt des Buches wieder zu unterwandern, lesen wir. Und geschickt verbindet und verwebt sie Gegenwart mit Vergangenheit, Realität und Fiktion, und strenge kulturgeschichtlich eingebettete Konzepte mit "Sinnlichkeit, Empathie, Ironie". Ein Fest, findet die begeisterte Rezensentin, und alles andere als nur "zerebrales Trockenfutter".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2020Auf der Pirsch mit Brigitte Bardot
Wie schön ist doch das Leben im Vollgummihaus: "Irdischer Durst" bietet neue Übersetzungen der kanadischen Dichterin Anne Carson.
Von Jan Wagner
Wie verschwindend gering der Abstand zwischen Antike und unserer eigenen Gegenwart ist, weiß jeder, der sich je, auf dem Weg zum Briefkasten oder zum Spätkauf um eine Straßenecke biegend, unvermittelt im Schlachtgetümmel vor Troja wiederzufinden glaubte. Und wie seltsam vertraut die Tragödien aus vermeintlich längst vergangener Zeit sein können, wissen beispielsweise die Leser der britischen Lyrikerin Alice Oswald, die in ihrem unlängst auch auf Deutsch erschienenen Langgedicht "Memorial" von Achill, Ajax, Agamemnon schwieg und stattdessen den mehr als zweihundert namentlich genannten, aber in keinem Bildungskanon präsenten Gefallenen der Ilias ein ebenso berührendes wie kühnes Sprachmahnmal errichtete.
Eine Poetin mit ganz anderer Handschrift, aber ähnlich regem Interesse an der antiken Welt, ihren Sprachen und Gestalten ist die 1950 in Toronto geborene Anne Carson - die sowohl als Professorin für klassische Philologie an renommierten Universitäten als auch als Übersetzerin von Sophokles und Euripides für die New Yorker Bühne wirkte, und auch sie verbindet die Zeiten und Epochen mit leichter Hand, bringt etwa mühelos Sappho, Marguerite Porete und Simone Weil miteinander ins Gespräch. Die genaue Lektüre eines Sappho-Fragments gerät bei Carson ebenso anregend wie der Versuch, in einer Oper Hephaistos, Aphrodite und Ares mit einem "Vulkanischen Chor" zu konfrontieren, der überdies lateinisch singt. Und selbst berühmte Episoden der ältesten Poesie erscheinen auf ihrem Schreibtisch in ungewohntem Licht, etwa die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa: "Sie ist das sauberste Mädchen der gesamten Epik. Und sein Schmutz unterstreicht das, von der brutalen Undurchsichtigkeit seines Schlafs gar nicht zu reden."
Vor allem aber ist Anne Carson eine weithin geschätzte Poetin - nicht zuletzt übrigens in Deutschland, wo sie im vergangenen Seuchensommer eingeladen war, die "Rede zur Poesie" beim Berliner Poesiefestival zu halten (und dies auf sicherste Distanz, nämlich mit einem ganzen Atlantik zwischen ihr und dem Publikum, auch tat), und wo sich mittlerweile eine ganze Riege namhafter Übersetzer ihrer Werke annimmt: Alissa Walser und Gerhard Falkner machten vor Jahren den Anfang, die Lyrikerin Anja Utler tat mit wie auch, nun zum wiederholten Mal, Marie Luise Knott, deren Beiträge zur deutschen Carson bei Matthes & Seitz erscheinen und schon vom Erscheinungsbild her ungewöhnlich attraktiv sind. Dabei sind die zwei Bücher (drei sind es, wenn man eine schmale, aber originelle Proust-Etüde mitzählt) eigentlich ein einziges Buch, das im Original 1995 unter dem Titel "Plainwater" publiziert wurde; wer beide Bücher vor sich hat, besitzt mithin eines von Anne Carsons wichtigsten Werken komplett in deutscher Übersetzung.
Mag sein, dass die zweite Hälfte vor drei Jahren als "Anthropologie des Wassers" deshalb zuerst erschien, weil die darin gesammelten kurzen Prosastücke chronologisch den Reisen eines Paares folgen - sich auf dem Jakobsweg Richtung Santiago mühend, über die amerikanischen Wüstenhighways schnurrend - und solcherart auch dem lyrikfernen Leser einen mühelosen Zugang zum Carson'schen Werk bieten, dabei findet man auch hier all das, was es so attraktiv macht: Die phantastischen Volten, die linguistischen Überraschungen, dazu ein manchmal spröder, aber regelrecht ansteckender Humor - gelegentlich muss man laut auflachen, wenn die Erzählerin ihren rätselhaften Geliebten und mit ihm das gesamte männliche Geschlecht zu fassen sucht.
Es ist ein quecksilbriges Denken, das hier zur Sprache findet, eine Lust an der produktiven Irritation, der man sich schon bald nicht mehr entziehen kann, geschweige denn will. "Die Freude des Erhabenen empfinden heißt, sich für einen Moment im Inneren einer schöpferischen Kraft zu befinden, über die Erfindung des Künstlers an einem elektrisierenden Lebensüberschuss teilzuhaben, an einer überschäumenden Bewegung", so schrieb es Carson vor Jahren in einem (von Anja Utler übersetzen) Essay, und man darf das durchaus auf ihr eigenes Werk beziehen: "Alles kann überschäumen."
Nun also "Irdischer Durst" - und welch ein champagnerhaft perlender Titel allein dies schon ist! Dem vermeintlich abgestandenen Altertum begegnen wir auch hier, wenn Carson gleich in der ersten der vier in dem Band vereinten Sequenzen die erhaltenen Fragmente des Elegikers Mimnermos von Kolophon mit einer Mischung aus poetischem Kommentar und Hommage überschreibt, ob es um die "blauen Ohrläppchen des Ozeans" geht oder die Tränen des ewig lebenden, doch stetig alternden Tithonos. Auch fehlt nicht der verblüffende Hechtsprung durch die Zeiten, also aus dem alten Griechenland ins Ostberlin der DDR und hier zu einer besonders köstlichen und natürlich gänzlich unantiken Tafel Schokolade. Dass vier überaus amüsante imaginäre Interviews mit dem alten und alles andere als toten Mimnermos beigefügt werden, erhöht nur den Reiz und lässt die Wertschätzung Carsons für diesen Urahn deutlich werden, vollendet ihren Versuch, dessen Zeilen der Drögheit von Pflichtseminaren zu entreißen: "Wenn du in seinen Gedichten von der Sonne in den Schatten wechselst, kannst du spüren, dass dir der Unterschied wie kaltes Wasser den Schädel herabläuft."
Dieses prachtvolle Lob wird als Echo Dutzende Seiten später wiederkehren, im wohl schönsten Kapitel des Bandes, dessen Überschrift, "Kurze Reden", mitunter eine Untertreibung ist. "Tag für Tag denk ich an dich, sobald ich aufwache. Jemand hat der Luft Vogelschreie aufgesteckt, wie Juwelen." Derart knapp wie bezaubernd liest sich der Versuch "Über Le Bonheur d'Être Bien Aimée". Eine weitere Partie, deren Überschrift ("Über das Gefühl beim Starten eines Flugzeugs") fast ebenso lang ist wie die Rede selbst, klingt so: "Ich frag mich immer, ob es Liebe ist, was da mit erhobenen Armen auf mein Leben zurennt und schreit, das kaufen wir uns, was für ein Schnäppchen!"
Passagen wie diese sind von ganz unverstelltem Reiz, doch zugleich ist Anne Carson eine höchst gelehrte Dichterin, die sich nicht scheut, eine solche akademische Neugier auch von ihren Leserinnen einzufordern, auf deren profundes poetisches Vorwissen sie baut. So finden sich in ihren Gedichten Verweise auf Beckett, Hegel, Woolf, Kafka, Aristoteles, Seurat, Gertrude Stein, Ovid, Prokofjew, Van Gogh, Camille Claudel, Silvia Plath, Rembrandt, die Brontë-Schwestern, Dostojewski, Hölderlin, Emily Dickinson und Puschkin, um nur einige zu nennen, dazu natürlich Mimnermos und Perugino, dem eine weitere Sequenz gewidmet ist. Dennoch: Wie Carson die Bögen schlägt vom Abstrakten und Bildungssatten hin zum unmittelbar Spürbaren, Sinnlichen, ist bewundernswert, und wenn sie die Bedeutung griechischer Wörter in ihrer Musik sucht, möchte man sich stante pede bei einem ihrer Seminare einschreiben - "das Adjektiv argaleon, das ,beschwerlich' meint und klingt wie ein Steinschlag in einer trockenen Schlucht", ist eines dieser Wörter, ein anderes "das Adjektiv harpaleon, das ,wonnig' meint und klingt, als würde eine Forelle verstohlen den Strom hinabgleiten".
Die erste Zeile müsse das Hirn hecheln lassen, bemerkt die Dichterin in einem älteren Text und nennt Homer und Frank O'Hara als Meister dieser Kunst. Sie selbst steht ihnen darin in nichts nach. "Sonnenlicht verlangsamt Europäer", lautet einer ihrer Auftaktverse, ein anderer: "Brigitte Bardot ist auf der Pirsch". Unwiderstehlich ein Einstieg wie dieser: "Du kannst mit einem Fischherz auf eine Wand schreiben, wegen des Phosphors." Und wer wollte nicht weiterlesen, wenn ein Text ihn mit dieser Aussicht zu locken versteht: "Ich hoffe, bald in einem Vollgummihaus zu leben. Denk nur, wie schnell ich von einem in den nächsten Raum gelange." Wirklich, Anne Carson schreibt, um das Bild aufzunehmen, erstaunliche, immens beschleunigende Vollgummigedichte, in denen sich selbst solche Leser, denen einige der Bezüge ein Rätsel bleiben, zu Hause fühlen dürften, schwindelig und beglückt.
"Städte sind die Illusion, dass Dinge irgendwie zusammenhängen, meine Birne, dein Winter." Auch dies ist ein Beispiel für beides, Carsons Hochgeschwindigkeitsdenken wie ihre Kunst der ersten Zeile, allerdings in diesem Fall nicht eines Gedichts, sondern der Einführung zum letzten Kapitel im Irdischen Durst. Benötigt denn ein Gedicht einen Kommentar der Autorin? Natürlich nicht, mag man einwenden und hätte, grundsätzlich gesprochen, recht; bei Carson ist es jedoch eher so, dass all die Einführungen, Nachbemerkungen, Erläuterungen nie Anhängsel des Eigentlichen, dass sie vielmehr unabdingbarer Teil der Dichtung selbst sind. Sie gehören zu Carsons poetischem Verfahren, und so mischt sie immer wieder die Lyrik mit dem Essay, schreibt Opern, Chorpartien, verdichtete Kurzprosa, baut erfundene Interviews und kundige Exkurse ein.
Und ist es denn nicht konsequent bei einer Dichterin, die den Sprüngen und Irrungen, die unser Denken und Erkennen bestimmen, auf jede erdenkliche Art zu folgen sucht, dass sie sich ihrem Thema mit allen ihr zur Verfügung stehenden Formen nähert? Immer wieder finden sich ja hier wie dort jene Zeilen, Einfälle, Bilder, die einen schier aufspringen lassen vor Begeisterung. Hat man jemals prägnanter Memento mori und Lebenslust zusammengeführt gesehen wie in den Zeilen über jene alte Frau, "die du. / Vor Jahren kanntest. / Als sie. / Schön war und die Nerven sie durchprasselten wie Palastfeuer"? Wie von Sonne zu Schatten geht hier der Leser, und es läuft ihm als herrlicher, kalter Guss den Schädel herab.
In den abschließenden Städte-Gedichten (aber was für seltsame Städte sind dies, und auf welcher Karte fände man "Emilystadt", "Apostelstadt" und "Entgegenwärtigungsstadt"?) gelingt Anne Carson die Verschiebung des Blicks, das Aufmischen der Leserträgheiten durch ein eigentlich recht simples Verfahren: Sie setzt, wie bei den Zeilen über die auflodernden Nerven, die prasselnden Palastfeuer, einen Punkt an jedem Zeilenende, selbst da, wo der Satz fortgeführt wird, so dass der Leser ins Stocken gerät, gezwungen ist, nach neuen syntaktischen, nach neuen Sinnzusammenhängen zu suchen; besonders anregend gelingt ihr dies in der "Wolfstadt" und der "Stadt meines Abschieds", die, wie das naheliegt, das Buch beschließt: "Schau wie diese tausend blauen tausend weißen. / Tausend blauen tausend weißen tausend. / Blauen tausend weißen tausend blauen tausend. / Weißen tausend blauen Winde und zwei Arme heute. / Durch die Straße fegen." Wirklich erscheint das formale Prinzip gerade angesichts des Themas Stadt mehr als angemessen, ist es doch so, als liefe man eine Straße entlang, an deren Ende nicht auszumachen ist, wie es weitergeht, weil ein Häuserblock als Querriegel die Sicht verstellt, seinen Punkt setzt; erst am Ende biegt man links oder rechts ab, und siehe da: Es geht abermals weiter, mit neuen Eindrücken, anderen Klängen, einer gänzlich geweiteten Szenerie, so dass man Straße um Straße, Ecke um Ecke, Bild um Bild seine Stadt errichtet.
"Seien Sie versichert", schreibt Anne Carson im Vorspruch zu ihren "Kurzen Reden", "ich werde alles tun, damit keine Langeweile aufkommt. Eine lebenslange Aufgabe. Man kann nie genug wissen, nie genug arbeiten, Infinitive und Partizipien nie seltsam genug einsetzen, eine Bewegung nie schroff genug vereiteln, einen Gedanken nie schnell genug verlassen." Das ist ein Versprechen. Und wirklich: Wer Anne Carsons behender lyrischer Gedankensprungkunst folgt, von hier nach dort nach anderswo, mag hernach mit müden Augäpfeln zu Bett gehen, die Dinge aber an allen folgenden Tagen nur umso klarer sehen.
Anne Carson: "Irdischer Durst".
Aus dem Englischen von Marie Luise Knott. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 120 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie schön ist doch das Leben im Vollgummihaus: "Irdischer Durst" bietet neue Übersetzungen der kanadischen Dichterin Anne Carson.
Von Jan Wagner
Wie verschwindend gering der Abstand zwischen Antike und unserer eigenen Gegenwart ist, weiß jeder, der sich je, auf dem Weg zum Briefkasten oder zum Spätkauf um eine Straßenecke biegend, unvermittelt im Schlachtgetümmel vor Troja wiederzufinden glaubte. Und wie seltsam vertraut die Tragödien aus vermeintlich längst vergangener Zeit sein können, wissen beispielsweise die Leser der britischen Lyrikerin Alice Oswald, die in ihrem unlängst auch auf Deutsch erschienenen Langgedicht "Memorial" von Achill, Ajax, Agamemnon schwieg und stattdessen den mehr als zweihundert namentlich genannten, aber in keinem Bildungskanon präsenten Gefallenen der Ilias ein ebenso berührendes wie kühnes Sprachmahnmal errichtete.
Eine Poetin mit ganz anderer Handschrift, aber ähnlich regem Interesse an der antiken Welt, ihren Sprachen und Gestalten ist die 1950 in Toronto geborene Anne Carson - die sowohl als Professorin für klassische Philologie an renommierten Universitäten als auch als Übersetzerin von Sophokles und Euripides für die New Yorker Bühne wirkte, und auch sie verbindet die Zeiten und Epochen mit leichter Hand, bringt etwa mühelos Sappho, Marguerite Porete und Simone Weil miteinander ins Gespräch. Die genaue Lektüre eines Sappho-Fragments gerät bei Carson ebenso anregend wie der Versuch, in einer Oper Hephaistos, Aphrodite und Ares mit einem "Vulkanischen Chor" zu konfrontieren, der überdies lateinisch singt. Und selbst berühmte Episoden der ältesten Poesie erscheinen auf ihrem Schreibtisch in ungewohntem Licht, etwa die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa: "Sie ist das sauberste Mädchen der gesamten Epik. Und sein Schmutz unterstreicht das, von der brutalen Undurchsichtigkeit seines Schlafs gar nicht zu reden."
Vor allem aber ist Anne Carson eine weithin geschätzte Poetin - nicht zuletzt übrigens in Deutschland, wo sie im vergangenen Seuchensommer eingeladen war, die "Rede zur Poesie" beim Berliner Poesiefestival zu halten (und dies auf sicherste Distanz, nämlich mit einem ganzen Atlantik zwischen ihr und dem Publikum, auch tat), und wo sich mittlerweile eine ganze Riege namhafter Übersetzer ihrer Werke annimmt: Alissa Walser und Gerhard Falkner machten vor Jahren den Anfang, die Lyrikerin Anja Utler tat mit wie auch, nun zum wiederholten Mal, Marie Luise Knott, deren Beiträge zur deutschen Carson bei Matthes & Seitz erscheinen und schon vom Erscheinungsbild her ungewöhnlich attraktiv sind. Dabei sind die zwei Bücher (drei sind es, wenn man eine schmale, aber originelle Proust-Etüde mitzählt) eigentlich ein einziges Buch, das im Original 1995 unter dem Titel "Plainwater" publiziert wurde; wer beide Bücher vor sich hat, besitzt mithin eines von Anne Carsons wichtigsten Werken komplett in deutscher Übersetzung.
Mag sein, dass die zweite Hälfte vor drei Jahren als "Anthropologie des Wassers" deshalb zuerst erschien, weil die darin gesammelten kurzen Prosastücke chronologisch den Reisen eines Paares folgen - sich auf dem Jakobsweg Richtung Santiago mühend, über die amerikanischen Wüstenhighways schnurrend - und solcherart auch dem lyrikfernen Leser einen mühelosen Zugang zum Carson'schen Werk bieten, dabei findet man auch hier all das, was es so attraktiv macht: Die phantastischen Volten, die linguistischen Überraschungen, dazu ein manchmal spröder, aber regelrecht ansteckender Humor - gelegentlich muss man laut auflachen, wenn die Erzählerin ihren rätselhaften Geliebten und mit ihm das gesamte männliche Geschlecht zu fassen sucht.
Es ist ein quecksilbriges Denken, das hier zur Sprache findet, eine Lust an der produktiven Irritation, der man sich schon bald nicht mehr entziehen kann, geschweige denn will. "Die Freude des Erhabenen empfinden heißt, sich für einen Moment im Inneren einer schöpferischen Kraft zu befinden, über die Erfindung des Künstlers an einem elektrisierenden Lebensüberschuss teilzuhaben, an einer überschäumenden Bewegung", so schrieb es Carson vor Jahren in einem (von Anja Utler übersetzen) Essay, und man darf das durchaus auf ihr eigenes Werk beziehen: "Alles kann überschäumen."
Nun also "Irdischer Durst" - und welch ein champagnerhaft perlender Titel allein dies schon ist! Dem vermeintlich abgestandenen Altertum begegnen wir auch hier, wenn Carson gleich in der ersten der vier in dem Band vereinten Sequenzen die erhaltenen Fragmente des Elegikers Mimnermos von Kolophon mit einer Mischung aus poetischem Kommentar und Hommage überschreibt, ob es um die "blauen Ohrläppchen des Ozeans" geht oder die Tränen des ewig lebenden, doch stetig alternden Tithonos. Auch fehlt nicht der verblüffende Hechtsprung durch die Zeiten, also aus dem alten Griechenland ins Ostberlin der DDR und hier zu einer besonders köstlichen und natürlich gänzlich unantiken Tafel Schokolade. Dass vier überaus amüsante imaginäre Interviews mit dem alten und alles andere als toten Mimnermos beigefügt werden, erhöht nur den Reiz und lässt die Wertschätzung Carsons für diesen Urahn deutlich werden, vollendet ihren Versuch, dessen Zeilen der Drögheit von Pflichtseminaren zu entreißen: "Wenn du in seinen Gedichten von der Sonne in den Schatten wechselst, kannst du spüren, dass dir der Unterschied wie kaltes Wasser den Schädel herabläuft."
Dieses prachtvolle Lob wird als Echo Dutzende Seiten später wiederkehren, im wohl schönsten Kapitel des Bandes, dessen Überschrift, "Kurze Reden", mitunter eine Untertreibung ist. "Tag für Tag denk ich an dich, sobald ich aufwache. Jemand hat der Luft Vogelschreie aufgesteckt, wie Juwelen." Derart knapp wie bezaubernd liest sich der Versuch "Über Le Bonheur d'Être Bien Aimée". Eine weitere Partie, deren Überschrift ("Über das Gefühl beim Starten eines Flugzeugs") fast ebenso lang ist wie die Rede selbst, klingt so: "Ich frag mich immer, ob es Liebe ist, was da mit erhobenen Armen auf mein Leben zurennt und schreit, das kaufen wir uns, was für ein Schnäppchen!"
Passagen wie diese sind von ganz unverstelltem Reiz, doch zugleich ist Anne Carson eine höchst gelehrte Dichterin, die sich nicht scheut, eine solche akademische Neugier auch von ihren Leserinnen einzufordern, auf deren profundes poetisches Vorwissen sie baut. So finden sich in ihren Gedichten Verweise auf Beckett, Hegel, Woolf, Kafka, Aristoteles, Seurat, Gertrude Stein, Ovid, Prokofjew, Van Gogh, Camille Claudel, Silvia Plath, Rembrandt, die Brontë-Schwestern, Dostojewski, Hölderlin, Emily Dickinson und Puschkin, um nur einige zu nennen, dazu natürlich Mimnermos und Perugino, dem eine weitere Sequenz gewidmet ist. Dennoch: Wie Carson die Bögen schlägt vom Abstrakten und Bildungssatten hin zum unmittelbar Spürbaren, Sinnlichen, ist bewundernswert, und wenn sie die Bedeutung griechischer Wörter in ihrer Musik sucht, möchte man sich stante pede bei einem ihrer Seminare einschreiben - "das Adjektiv argaleon, das ,beschwerlich' meint und klingt wie ein Steinschlag in einer trockenen Schlucht", ist eines dieser Wörter, ein anderes "das Adjektiv harpaleon, das ,wonnig' meint und klingt, als würde eine Forelle verstohlen den Strom hinabgleiten".
Die erste Zeile müsse das Hirn hecheln lassen, bemerkt die Dichterin in einem älteren Text und nennt Homer und Frank O'Hara als Meister dieser Kunst. Sie selbst steht ihnen darin in nichts nach. "Sonnenlicht verlangsamt Europäer", lautet einer ihrer Auftaktverse, ein anderer: "Brigitte Bardot ist auf der Pirsch". Unwiderstehlich ein Einstieg wie dieser: "Du kannst mit einem Fischherz auf eine Wand schreiben, wegen des Phosphors." Und wer wollte nicht weiterlesen, wenn ein Text ihn mit dieser Aussicht zu locken versteht: "Ich hoffe, bald in einem Vollgummihaus zu leben. Denk nur, wie schnell ich von einem in den nächsten Raum gelange." Wirklich, Anne Carson schreibt, um das Bild aufzunehmen, erstaunliche, immens beschleunigende Vollgummigedichte, in denen sich selbst solche Leser, denen einige der Bezüge ein Rätsel bleiben, zu Hause fühlen dürften, schwindelig und beglückt.
"Städte sind die Illusion, dass Dinge irgendwie zusammenhängen, meine Birne, dein Winter." Auch dies ist ein Beispiel für beides, Carsons Hochgeschwindigkeitsdenken wie ihre Kunst der ersten Zeile, allerdings in diesem Fall nicht eines Gedichts, sondern der Einführung zum letzten Kapitel im Irdischen Durst. Benötigt denn ein Gedicht einen Kommentar der Autorin? Natürlich nicht, mag man einwenden und hätte, grundsätzlich gesprochen, recht; bei Carson ist es jedoch eher so, dass all die Einführungen, Nachbemerkungen, Erläuterungen nie Anhängsel des Eigentlichen, dass sie vielmehr unabdingbarer Teil der Dichtung selbst sind. Sie gehören zu Carsons poetischem Verfahren, und so mischt sie immer wieder die Lyrik mit dem Essay, schreibt Opern, Chorpartien, verdichtete Kurzprosa, baut erfundene Interviews und kundige Exkurse ein.
Und ist es denn nicht konsequent bei einer Dichterin, die den Sprüngen und Irrungen, die unser Denken und Erkennen bestimmen, auf jede erdenkliche Art zu folgen sucht, dass sie sich ihrem Thema mit allen ihr zur Verfügung stehenden Formen nähert? Immer wieder finden sich ja hier wie dort jene Zeilen, Einfälle, Bilder, die einen schier aufspringen lassen vor Begeisterung. Hat man jemals prägnanter Memento mori und Lebenslust zusammengeführt gesehen wie in den Zeilen über jene alte Frau, "die du. / Vor Jahren kanntest. / Als sie. / Schön war und die Nerven sie durchprasselten wie Palastfeuer"? Wie von Sonne zu Schatten geht hier der Leser, und es läuft ihm als herrlicher, kalter Guss den Schädel herab.
In den abschließenden Städte-Gedichten (aber was für seltsame Städte sind dies, und auf welcher Karte fände man "Emilystadt", "Apostelstadt" und "Entgegenwärtigungsstadt"?) gelingt Anne Carson die Verschiebung des Blicks, das Aufmischen der Leserträgheiten durch ein eigentlich recht simples Verfahren: Sie setzt, wie bei den Zeilen über die auflodernden Nerven, die prasselnden Palastfeuer, einen Punkt an jedem Zeilenende, selbst da, wo der Satz fortgeführt wird, so dass der Leser ins Stocken gerät, gezwungen ist, nach neuen syntaktischen, nach neuen Sinnzusammenhängen zu suchen; besonders anregend gelingt ihr dies in der "Wolfstadt" und der "Stadt meines Abschieds", die, wie das naheliegt, das Buch beschließt: "Schau wie diese tausend blauen tausend weißen. / Tausend blauen tausend weißen tausend. / Blauen tausend weißen tausend blauen tausend. / Weißen tausend blauen Winde und zwei Arme heute. / Durch die Straße fegen." Wirklich erscheint das formale Prinzip gerade angesichts des Themas Stadt mehr als angemessen, ist es doch so, als liefe man eine Straße entlang, an deren Ende nicht auszumachen ist, wie es weitergeht, weil ein Häuserblock als Querriegel die Sicht verstellt, seinen Punkt setzt; erst am Ende biegt man links oder rechts ab, und siehe da: Es geht abermals weiter, mit neuen Eindrücken, anderen Klängen, einer gänzlich geweiteten Szenerie, so dass man Straße um Straße, Ecke um Ecke, Bild um Bild seine Stadt errichtet.
"Seien Sie versichert", schreibt Anne Carson im Vorspruch zu ihren "Kurzen Reden", "ich werde alles tun, damit keine Langeweile aufkommt. Eine lebenslange Aufgabe. Man kann nie genug wissen, nie genug arbeiten, Infinitive und Partizipien nie seltsam genug einsetzen, eine Bewegung nie schroff genug vereiteln, einen Gedanken nie schnell genug verlassen." Das ist ein Versprechen. Und wirklich: Wer Anne Carsons behender lyrischer Gedankensprungkunst folgt, von hier nach dort nach anderswo, mag hernach mit müden Augäpfeln zu Bett gehen, die Dinge aber an allen folgenden Tagen nur umso klarer sehen.
Anne Carson: "Irdischer Durst".
Aus dem Englischen von Marie Luise Knott. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 120 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main