Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Gedichte Erstdruck: »Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem von Herrn Barthold Heinrich Brockes in fünf Theilen herausgegebenen Irdischen Vergnügen in Gott, mit Genehmhaltung des Verfassers gesammlet und mit verschiedenen Kupfern ans Licht gestellt«, Hamburg bey Christian Herold 1738. Die vorliegende Auswahl aus den ersten fünf Bänden des Werkes (bis 1748 erschienen noch weitere vier) wurde von Friedrich von Hagedorn herausgegeben und vom Verfasser autorisiert. Hagedorn stützte sich dabei auf den jeweils neuesten Druck der mehrfach aufgelegten einzelnen Bände. Neuausgabe mit einer Biographie des Autors. Herausgegeben von Karl-Maria Guth. Berlin 2019. Textgrundlage sind die Ausgaben: Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1738, Stuttgart: Metzler, 1965. Walter Killy (Hg.): Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart in 10 Bänden, Band 5: Gedichte 1700¿1770, Herausgegeben von Jürgen Stenzel, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969. Die Paginierung obiger Ausgaben wird in dieser Neuausgabe als Marginalie zeilengenau mitgeführt. Dieses Buch folgt in Rechtschreibung und Zeichensetzung obiger Textgrundlage. Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Gemälde von Dominicus van der Smissen. Gesetzt aus der Minion Pro, 11 pt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2014Kein Schnee von gestern
Barthold Heinrich Brockes spielt mit Literatur und Wissen
Naturwissenschaften und Mathematik sind keine fremden Themen in der Gegenwartslyrik, Enzensberger, Grünbein und Schrott zählen zu ihren besten poetischen Anwälten. Als Mittler zwischen den zwei Kulturen ist ihnen ein starkes Interesse der aufblühenden Forschung zur Wissenspoetik sicher. Die ältere Tradition der naturkundlichen Lehrdichtung hingegen gilt oft als altbacken, das neueste Handbuch zu "Literatur und Wissen" würdigt diese Gattung nicht einmal eines eigenen systematischen Eintrags. Das ist erstaunlich, berühren sich doch Dichtung und experimentelle Wissenschaft gerade hier am stärksten.
Schon Goethe sprach in seinem Aufsatz "Über das Lehrgedicht" ein Machtwort gegen dessen Verächter und erklärte: "Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich." Bei Barthold Heinrich Brockes triumphiert zwar noch das didaktische Moment über dessen kunstvolle Verbergung, wer wollte angesichts dieses poetisch lückenlos erschlossenen Naturkosmos aber etwas dagegen einwenden?
Brockes' neunbändiges "Irdisches Vergnügen in Gott" (1721 bis 1748) ist eine welthaltige lyrische Realenzyklopädie. In Hunderten von "Physicalisch und Moralischen Gedichten", so der Untertitel, werden alle Reiche von Pflanzen und Tieren, menschlichen Sinnesleistungen, Körperteilen und Krankheiten, geologischen und meteorologischen Erscheinungen empirisch betrachtet. Auf das Staunen über die kleinsten und größten, hellsten und dunkelsten, offensichtlichsten und geheimsten Phänomene folgt immer die physikotheologische Einsicht in die Perfektion und Herrlichkeit der Schöpfung. Sie mildert selbst die "feurig wilde Pein" im Gedicht "Der Zahn", der mit "gräßlichem Gekrach" gezogen werden muss, versöhnt in "Ein neblichtes und schlackriges Wetter" mit dem trüben Novembergrau, da irgendwo hinter dem Hochnebel die Sonne funkeln muss, oder hilft ein "widriges und ekelhaftes Grauen" bei einer Sektion auf dem anatomischen Theater überwinden, da unser Körper vollkommen gebaut ist.
Diese an Facetten nicht zu überbietende Lobpreisung Gottes soll jetzt in einer Gesamtausgabe von Brockes' Werken erstmals vollständig ediert werden. Im vorliegenden zweiten Band sind die ersten beiden Teile des "Irdischen Vergnügens" enthalten, abgedruckt nach der jeweils spätesten Auflage, versehen mit Varianten früherer Drucke und einem sparsamen Sachkommentar. Bei der Jagd nach Realien und Sachthemen bieten Digitalisate im Internet bisher noch den Vorteil von Registern in den Originalbänden und Möglichkeiten zur Volltextsuche. Entsprechende Indizes werden die Buchausgabe hoffentlich irgendwann komplettieren. Mit ihrem Abschluss wird man einen einzigartigen Atlas der Natur zur Hand haben, der Buffons "Histoire naturelle" oder Linnés "Systema naturae" poetisch ausbuchstabiert.
Für den Zusammenhang von Literatur und Wissen ist das so frisch wie Neuschnee, auf dessen Lob Brockes hier mehr als hundert Verse verwendet: "Es ist wahrhaftig nicht zu gläuben, / Noch minder zu beschreiben, / Wie manche nett' und zierliche Figur / Die spielende Natur / Uns in gefrornen Düften weiset, / So daß ein' jegliche des Schöpfers Weisheit preiset."
ALEXANDER KOSENINA
Barthold Heinrich Brockes: "Irdisches Vergnügen in Gott". Erster und zweiter Teil.
Hrsg. und kommentiert von Jürgen Rathje. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. Zus. 1048 S., geb., 98,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barthold Heinrich Brockes spielt mit Literatur und Wissen
Naturwissenschaften und Mathematik sind keine fremden Themen in der Gegenwartslyrik, Enzensberger, Grünbein und Schrott zählen zu ihren besten poetischen Anwälten. Als Mittler zwischen den zwei Kulturen ist ihnen ein starkes Interesse der aufblühenden Forschung zur Wissenspoetik sicher. Die ältere Tradition der naturkundlichen Lehrdichtung hingegen gilt oft als altbacken, das neueste Handbuch zu "Literatur und Wissen" würdigt diese Gattung nicht einmal eines eigenen systematischen Eintrags. Das ist erstaunlich, berühren sich doch Dichtung und experimentelle Wissenschaft gerade hier am stärksten.
Schon Goethe sprach in seinem Aufsatz "Über das Lehrgedicht" ein Machtwort gegen dessen Verächter und erklärte: "Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich." Bei Barthold Heinrich Brockes triumphiert zwar noch das didaktische Moment über dessen kunstvolle Verbergung, wer wollte angesichts dieses poetisch lückenlos erschlossenen Naturkosmos aber etwas dagegen einwenden?
Brockes' neunbändiges "Irdisches Vergnügen in Gott" (1721 bis 1748) ist eine welthaltige lyrische Realenzyklopädie. In Hunderten von "Physicalisch und Moralischen Gedichten", so der Untertitel, werden alle Reiche von Pflanzen und Tieren, menschlichen Sinnesleistungen, Körperteilen und Krankheiten, geologischen und meteorologischen Erscheinungen empirisch betrachtet. Auf das Staunen über die kleinsten und größten, hellsten und dunkelsten, offensichtlichsten und geheimsten Phänomene folgt immer die physikotheologische Einsicht in die Perfektion und Herrlichkeit der Schöpfung. Sie mildert selbst die "feurig wilde Pein" im Gedicht "Der Zahn", der mit "gräßlichem Gekrach" gezogen werden muss, versöhnt in "Ein neblichtes und schlackriges Wetter" mit dem trüben Novembergrau, da irgendwo hinter dem Hochnebel die Sonne funkeln muss, oder hilft ein "widriges und ekelhaftes Grauen" bei einer Sektion auf dem anatomischen Theater überwinden, da unser Körper vollkommen gebaut ist.
Diese an Facetten nicht zu überbietende Lobpreisung Gottes soll jetzt in einer Gesamtausgabe von Brockes' Werken erstmals vollständig ediert werden. Im vorliegenden zweiten Band sind die ersten beiden Teile des "Irdischen Vergnügens" enthalten, abgedruckt nach der jeweils spätesten Auflage, versehen mit Varianten früherer Drucke und einem sparsamen Sachkommentar. Bei der Jagd nach Realien und Sachthemen bieten Digitalisate im Internet bisher noch den Vorteil von Registern in den Originalbänden und Möglichkeiten zur Volltextsuche. Entsprechende Indizes werden die Buchausgabe hoffentlich irgendwann komplettieren. Mit ihrem Abschluss wird man einen einzigartigen Atlas der Natur zur Hand haben, der Buffons "Histoire naturelle" oder Linnés "Systema naturae" poetisch ausbuchstabiert.
Für den Zusammenhang von Literatur und Wissen ist das so frisch wie Neuschnee, auf dessen Lob Brockes hier mehr als hundert Verse verwendet: "Es ist wahrhaftig nicht zu gläuben, / Noch minder zu beschreiben, / Wie manche nett' und zierliche Figur / Die spielende Natur / Uns in gefrornen Düften weiset, / So daß ein' jegliche des Schöpfers Weisheit preiset."
ALEXANDER KOSENINA
Barthold Heinrich Brockes: "Irdisches Vergnügen in Gott". Erster und zweiter Teil.
Hrsg. und kommentiert von Jürgen Rathje. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. Zus. 1048 S., geb., 98,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Zugang zu einem liebenswerten, poetischen und, wie der Rezensent findet, auch kuriosen Zweig der Naturbetrachtung erhält Andreas Wang mit dem von Jürgen Rathje herausgegebenen dritten und vierten Teil von Barthold Heinrich Brockes neunbändigem Hauptwerk. Darin entdeckt er vorformulierte Erkenntnisse des radikalen Konstruktivismus von heute, Descartes' Erkenntnislehre in Versen und vieles mehr. Vor allem aber scheint ihm die vom Hamburger Senator und Schriftsteller Brockes verfolgte Naturtheologie über Gott und die Welt erschöpfend zu berichten, sogar über die Ursache des Windes, wie Wang staunt. Auch wenn ein solcher zwischen Mensch und Gott aufgespannter dialogischer Erkenntnisweg heute vielleicht belächelt wird, wie Wang vermutet - für ihn hat er seinen Reiz, einen poetischen nicht zuletzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Wallstein Verlag verschafft uns durch diese Edition Zugang zu einem liebenswerten, poetischen, teilweise kuriosen Zweig der Betrachtung der Natur.« (Andreas Wang, Neue Zürcher Zeitung. 17.12.14) »Insgesamt hat der Herausgeber Jürgen Rathje abermals eine sehr sorgfältige Konstituierung und Kommentierung des Textes vollbracht« (Wolfgang Albrecht, Informationsmittel (IFB), Dezember 2016) »eine ausgesprochen attraktive Werkausgabe« (Cord-Friedrich Berghahn, Germanisch-Romanische Monatsschrift 67.1, 2017)