Nach dem großen Erfolg von «Sie kam aus Mariupol», dem Buch über die Mutter, begibt Natascha Wodin sich auf Spurensuche nach ihrem Vater. Erzählt wird die Zeit, als die ältere seiner beiden Töchter sechzehn ist. Sie lebt beim Vater abseits in den «Häusern» am Fluss, unter Verschleppten und Entwurzelten. Dabei möchte sie so gern zu den Deutschen gehören, möchte Ursula oder Susanne heißen und träumt von einem Handwerker, den sie heiraten könnte, um ihrer russischen Herkunft zu entkommen. Aber der seit je gefürchtete Vater sperrt sie ein. In einem Taftkleid der Mutter flieht sie in die Schutzlosigkeit der Straße ...
Eine ungeheuerliche Geschichte der Ort- und Obdachlosigkeiten - verfasst in Natascha Wodins klarer, sachlicher und doch von Emotion und Poesie getragener Sprache, die ihresgleichen sucht.
Eine ungeheuerliche Geschichte der Ort- und Obdachlosigkeiten - verfasst in Natascha Wodins klarer, sachlicher und doch von Emotion und Poesie getragener Sprache, die ihresgleichen sucht.
"Irgendwo in diesem Dunkel" findet Wodin das gedemütigte Kind und sie zeigt, wie mühsam es sich emanzipierte. Das hat eine immense Wirkung, weil der Abstand zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenleben der Autorin riesig ist. (...) Hier zeigt sich ihre Kunst. Cornelia Geißler Frankfurter Rundschau 20181124
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2018Auch Schnittchen verheißen kein deutsches Dauerglück
Bei einem solchen Leben ist erzählerische Redundanz noch das geringste Problem: Natascha Wodins Vaterbuch "Irgendwo in diesem Dunkel"
Mancher professionelle Leser meinte nach Erscheinen des vorliegenden Buchs, Natascha Wodin habe eine schwächere Fortsetzung ihrer preisgekrönten Familiengeschichte geschrieben - schwächer deswegen, da sie das Muster des Mutterbuchs auf den Vater umkopiert habe. "Sie kam aus Mariupol" war das Porträt einer von Flucht und Vertreibung bezwungenen Ukrainerin, die sich 1956 - da war Natascha Wodin zehn Jahre alt - in der Regnitz nahe Nürnberg ertränkte. Zur großen Überraschung der Autorin war ihre Mutter, die immerzu weinte, ansonsten aber stumm wie ein Fisch blieb, adeliger Herkunft gewesen. Im revolutionären Russland ein Todesurteil. Ein Leben voller Demütigungen und Flucht war die Folge.
Wodins Mutterbuch war das Protokoll einer Spurensuche, die sie, inzwischen Ende sechzig, in einen russischen Chatroom für Kriegsvertriebene verschlug. Dort traf sie auf einen engagierten Genealogen aus Mariupol, der die Sache ins Rollen brachte. Bald tauchte ein Großcousin namens Kiril auf, der Wodin die Namen weiterer Verwandter nannte und sich irgendwann als psychiotischer Muttermörder entpuppte - das späte Opfer einer durch politische Gewalt dysfunktional gewordenen Familie.
Die Wodins wiederum, all das war in diesem tapferen Buch zu erfahren, haben ihre besten Jahre auf der Flucht und in den menschenschinderischen Flick-Werken verbracht - wahlweise sind sie vor den russischen Machthabern davongelaufen, die sie erst als Klassenfeinde (wegen der adeligen Herkunftslinie) und später als Vaterlandsverräter (wegen ihrer deutschen Kriegsgefangenschaft) drangsalierten. Später wurden sie von der deutschen Nachkriegsgesellschaft als Bestien aus dem Osten stigmatisiert, als "menschlicher Unrat". Nach Hause in die Ukraine können sie nicht. Es bleibt nur eine Option: dort bleiben, wo ein Leben in Würde und Anstand unmöglich ist. Natascha Wodins Biographie ist ein Resultat der Umstände ihrer gewaltvollen Kindheit.
Der vom Tod der Mutter überforderte Vater trinkt und prügelt. Einmal will er sich an seiner Tochter vergehen. Das zu Hause drangsalierte Kind muss Fuß fassen in einer Nachkriegsgesellschaft, die für die "Russen" nichts als Abscheu übrighat. "Irgendwo in diesem Dunkel" - so nun der Titel des Folgewerks - liegt auch die Geschichte des Vaters begraben, der, Jahrgang 1900, die zwanzig Jahre jüngere Mutter um dreißig Jahre überleben sollte. Das Vaterbuch ist insofern die Fortsetzung des Mutterbuchs, als beide zusammen das autobiographische Schreibprojekt der Natascha Wodin grundieren. Und obwohl ihre Vater-Recherchen im Kleineleutemilieu des heutigen Moskau weniger spektakulär ausfallen als die über das Vorleben der Mutter, sind sie wertvoll für Wodins schonungslose Rekonstruktion der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Zunächst sieht man einen älteren Mann, der sein Auskommen als Sänger in einem Kosakenchor hat und auf Tournee ist, als seine Frau sich das Leben nimmt. "Auf meinem nächsten Erinnerungsbild saß er in der Küche und rauchte, eine Zigarette nach der anderen, Nacht für Nacht. Ich wusste, worüber er nachdachte, während er in den Rauch starrte, den er aus seinen Lungen ausstieß. Er musste wieder auf Tournee, er hatte nichts anderes als seine Stimme, um Geld zu verdienen, und er wusste nicht, wohin mit meiner Schwester und mir. Seine Frau hatte ihn alleingelassen mit den zwei Kindern, die hatte ihn zum Witwer einer Selbstmörderin gemacht, ihn, den schon gealterten sechsundfünfzigjährigen Mann, den Fremdling, der sich mit nichts auskannte in Deutschland und keine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte."
Wodin kommt erst einmal bei einer deutschen Kriegerwitwe unter. "Jeden Tag gab es zum Abendbrot etwas, das Schnittchen hieß." Doch die Schnittchen verhießen kein deutsches Dauerglück. Es folgen der Rausschmiss wegen mutmaßlicher Verderbtheit, Stationen im Waisenhaus, in einem katholischen Mädchenheim, auf einem Bauerhof in Belgien, schließlich auf der Straße. Schuldgefühle und Schuldunterstellungen sind der Basso continuo einer Jugend, die Natascha Wodin, man muss es so sehen, mit Mühe und Not überlebt hat. Einmal sperrt der Vater sie tagelang ohne Nahrung und Wasser in ihrem Zimmer ein, dessen Fenster er vorsichtshalber noch zugenagelt hat. Immer wieder scheint die Verkommenheit der anderen auf die Erzählerin abzufärben. Noch als sie, die immer zu den Deutschen gehören wollte, von ihrem Vergewaltiger, einem Perser, als "deutsche bitch" bezeichnet wird. Und noch als der Frauenarzt ihr die Abtreibung der so zustandegekommenen Schwangerschaft aus Sittlichkeitsgründen verweigert.
Obwohl mit Wodins überraschender Anstellung als Telefonistin und ihrem neuen Status eines "möblierten Fräuleins" endlich eine Emanzipation aus dem geerbten Elend in Sicht kommt, muss von den bleibenden Schäden ausgegangen werden. Vor allem mit Blick auf Wodins Buch "Nachtgeschwister" über ihre Ehe mit dem suchtkranken Dichter Wolfgang Hilbig.
"Irgendwo in diesem Dunkel" liefert viele Informationen, die Leser des Mutterbuchs schon haben, noch einmal. Eine Redundanz, die einem die Situation der russischen Emigranten, die "irgendein unverständliches, namenloses Abfallprodukt des Krieges waren", aber noch einmal vor Augen führt. Über den dokumentarischen Charakter hinaus sollte aber vor allem die herausragende literarische Qualität dieses Romans hervorgehoben werden. Denn all das zu lesen ist überhaupt nur erträglich, weil die Autorin aus einer reflektierenden Distanz heraus berichtet. Auf einer Russlandreise besucht sie Verwandte des verstorbenen Vaters: "Als mein Cousin mir Feuer für meine Zigarette gab, berührten unsere Hände sich flüchtig, und diese Berührung traf mich wie ein Stromschlag. Ich empfand keine Sympathie für ihn, er stieß ich eher ab, aber mein Körper ging eigene Wege. Die Tatsache, dass ich mit Vitalij verwandt war, bewirkte bei mir das Gegenteil dessen, was das normalerweise bedeutete. Dieser Mann war nicht das Fremde, das Andere, sondern das Allernächste, das Eigene, nach dem mein Körper sich seit je verzehrt hatte." Das emotionale Prägemuster einer Autorin, die nur im Schreiben ihren familiären Zusammenhängen entkommen konnte.
KATHARINA TEUTSCH
Natascha Wodin:
"Irgendwo in diesem
Dunkel." Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 239 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei einem solchen Leben ist erzählerische Redundanz noch das geringste Problem: Natascha Wodins Vaterbuch "Irgendwo in diesem Dunkel"
Mancher professionelle Leser meinte nach Erscheinen des vorliegenden Buchs, Natascha Wodin habe eine schwächere Fortsetzung ihrer preisgekrönten Familiengeschichte geschrieben - schwächer deswegen, da sie das Muster des Mutterbuchs auf den Vater umkopiert habe. "Sie kam aus Mariupol" war das Porträt einer von Flucht und Vertreibung bezwungenen Ukrainerin, die sich 1956 - da war Natascha Wodin zehn Jahre alt - in der Regnitz nahe Nürnberg ertränkte. Zur großen Überraschung der Autorin war ihre Mutter, die immerzu weinte, ansonsten aber stumm wie ein Fisch blieb, adeliger Herkunft gewesen. Im revolutionären Russland ein Todesurteil. Ein Leben voller Demütigungen und Flucht war die Folge.
Wodins Mutterbuch war das Protokoll einer Spurensuche, die sie, inzwischen Ende sechzig, in einen russischen Chatroom für Kriegsvertriebene verschlug. Dort traf sie auf einen engagierten Genealogen aus Mariupol, der die Sache ins Rollen brachte. Bald tauchte ein Großcousin namens Kiril auf, der Wodin die Namen weiterer Verwandter nannte und sich irgendwann als psychiotischer Muttermörder entpuppte - das späte Opfer einer durch politische Gewalt dysfunktional gewordenen Familie.
Die Wodins wiederum, all das war in diesem tapferen Buch zu erfahren, haben ihre besten Jahre auf der Flucht und in den menschenschinderischen Flick-Werken verbracht - wahlweise sind sie vor den russischen Machthabern davongelaufen, die sie erst als Klassenfeinde (wegen der adeligen Herkunftslinie) und später als Vaterlandsverräter (wegen ihrer deutschen Kriegsgefangenschaft) drangsalierten. Später wurden sie von der deutschen Nachkriegsgesellschaft als Bestien aus dem Osten stigmatisiert, als "menschlicher Unrat". Nach Hause in die Ukraine können sie nicht. Es bleibt nur eine Option: dort bleiben, wo ein Leben in Würde und Anstand unmöglich ist. Natascha Wodins Biographie ist ein Resultat der Umstände ihrer gewaltvollen Kindheit.
Der vom Tod der Mutter überforderte Vater trinkt und prügelt. Einmal will er sich an seiner Tochter vergehen. Das zu Hause drangsalierte Kind muss Fuß fassen in einer Nachkriegsgesellschaft, die für die "Russen" nichts als Abscheu übrighat. "Irgendwo in diesem Dunkel" - so nun der Titel des Folgewerks - liegt auch die Geschichte des Vaters begraben, der, Jahrgang 1900, die zwanzig Jahre jüngere Mutter um dreißig Jahre überleben sollte. Das Vaterbuch ist insofern die Fortsetzung des Mutterbuchs, als beide zusammen das autobiographische Schreibprojekt der Natascha Wodin grundieren. Und obwohl ihre Vater-Recherchen im Kleineleutemilieu des heutigen Moskau weniger spektakulär ausfallen als die über das Vorleben der Mutter, sind sie wertvoll für Wodins schonungslose Rekonstruktion der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Zunächst sieht man einen älteren Mann, der sein Auskommen als Sänger in einem Kosakenchor hat und auf Tournee ist, als seine Frau sich das Leben nimmt. "Auf meinem nächsten Erinnerungsbild saß er in der Küche und rauchte, eine Zigarette nach der anderen, Nacht für Nacht. Ich wusste, worüber er nachdachte, während er in den Rauch starrte, den er aus seinen Lungen ausstieß. Er musste wieder auf Tournee, er hatte nichts anderes als seine Stimme, um Geld zu verdienen, und er wusste nicht, wohin mit meiner Schwester und mir. Seine Frau hatte ihn alleingelassen mit den zwei Kindern, die hatte ihn zum Witwer einer Selbstmörderin gemacht, ihn, den schon gealterten sechsundfünfzigjährigen Mann, den Fremdling, der sich mit nichts auskannte in Deutschland und keine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte."
Wodin kommt erst einmal bei einer deutschen Kriegerwitwe unter. "Jeden Tag gab es zum Abendbrot etwas, das Schnittchen hieß." Doch die Schnittchen verhießen kein deutsches Dauerglück. Es folgen der Rausschmiss wegen mutmaßlicher Verderbtheit, Stationen im Waisenhaus, in einem katholischen Mädchenheim, auf einem Bauerhof in Belgien, schließlich auf der Straße. Schuldgefühle und Schuldunterstellungen sind der Basso continuo einer Jugend, die Natascha Wodin, man muss es so sehen, mit Mühe und Not überlebt hat. Einmal sperrt der Vater sie tagelang ohne Nahrung und Wasser in ihrem Zimmer ein, dessen Fenster er vorsichtshalber noch zugenagelt hat. Immer wieder scheint die Verkommenheit der anderen auf die Erzählerin abzufärben. Noch als sie, die immer zu den Deutschen gehören wollte, von ihrem Vergewaltiger, einem Perser, als "deutsche bitch" bezeichnet wird. Und noch als der Frauenarzt ihr die Abtreibung der so zustandegekommenen Schwangerschaft aus Sittlichkeitsgründen verweigert.
Obwohl mit Wodins überraschender Anstellung als Telefonistin und ihrem neuen Status eines "möblierten Fräuleins" endlich eine Emanzipation aus dem geerbten Elend in Sicht kommt, muss von den bleibenden Schäden ausgegangen werden. Vor allem mit Blick auf Wodins Buch "Nachtgeschwister" über ihre Ehe mit dem suchtkranken Dichter Wolfgang Hilbig.
"Irgendwo in diesem Dunkel" liefert viele Informationen, die Leser des Mutterbuchs schon haben, noch einmal. Eine Redundanz, die einem die Situation der russischen Emigranten, die "irgendein unverständliches, namenloses Abfallprodukt des Krieges waren", aber noch einmal vor Augen führt. Über den dokumentarischen Charakter hinaus sollte aber vor allem die herausragende literarische Qualität dieses Romans hervorgehoben werden. Denn all das zu lesen ist überhaupt nur erträglich, weil die Autorin aus einer reflektierenden Distanz heraus berichtet. Auf einer Russlandreise besucht sie Verwandte des verstorbenen Vaters: "Als mein Cousin mir Feuer für meine Zigarette gab, berührten unsere Hände sich flüchtig, und diese Berührung traf mich wie ein Stromschlag. Ich empfand keine Sympathie für ihn, er stieß ich eher ab, aber mein Körper ging eigene Wege. Die Tatsache, dass ich mit Vitalij verwandt war, bewirkte bei mir das Gegenteil dessen, was das normalerweise bedeutete. Dieser Mann war nicht das Fremde, das Andere, sondern das Allernächste, das Eigene, nach dem mein Körper sich seit je verzehrt hatte." Das emotionale Prägemuster einer Autorin, die nur im Schreiben ihren familiären Zusammenhängen entkommen konnte.
KATHARINA TEUTSCH
Natascha Wodin:
"Irgendwo in diesem
Dunkel." Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 239 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geissler liest gebannt über die Befreiung der jungen Natascha Wodin zur späteren Schriftstellerin. Auch wenn das neue Buch für Geissler nicht einfach das Gegenstück zu Wodins Mutterbuch "Sie kam aus Mariupol" darstellt, führt es doch in die Kindheit ud Jugend der Autorin, zu einem prügelnden, schweigenden Vater, dessen Geschichte Wodin, ausgehend von seinem Tod zu ergründen sucht. Seine fesselnde Wirkung zieht der Text laut Geissler aus dem riesigen hier ausgemessenen Abstand zwischen den beiden Punkten in Wodins Biografie, der schwierigen Kindheit des russischen Einwandererkindes einerseits, dem Erwachsenenleben als Schriftstellerin andererseits.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Cornelia Geissler liest gebannt über die Befreiung der jungen Natascha Wodin zur späteren Schriftstellerin. Auch wenn das neue Buch für Geissler nicht einfach das Gegenstück zu Wodins Mutterbuch "Sie kam aus Mariupol" darstellt, führt es doch in die Kindheit ud Jugend der Autorin, zu einem prügelnden, schweigenden Vater, dessen Geschichte Wodin, ausgehend von seinem Tod zu ergründen sucht. Seine fesselnde Wirkung zieht der Text laut Geissler aus dem riesigen hier ausgemessenen Abstand zwischen den beiden Punkten in Wodins Biografie, der schwierigen Kindheit des russischen Einwandererkindes einerseits, dem Erwachsenenleben als Schriftstellerin andererseits.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Kind der Unwirklichkeit
Fortwährende Suchbewegung: Natascha Wodins neues Buch „Irgendwo in diesem Dunkel“
Ein Foto am Anfang des letzten Kapitels von Natascha Wodins Erfolgsbuch „Sie kam aus Mariupol“ zeigt die zehn Jahre alte Ich-Erzählerin mit hübschem Pagenkopf, aber ernstem, beinahe schon erwachsenem Blick. Ihre kleine Schwester schaut rechts daneben lächelnd in die Kamera. Der Vater der beiden hat eine Hand auf die Schulter der jüngeren gelegt, die andere auf den Grabstein seiner Frau. Sie hat sich zwei Wochen zuvor im Alter von sechsunddreißig Jahren im fränkischen Flüsschen Regnitz bei Forchheim ertränkt.
Mit „Sie kam aus Mariupol“ gewann Wodin 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. Sie berichtet darin, wie sie bei der Suche nach den ukrainischen Wurzeln der Mutter auf eine durch die russische Revolution zersprengte Familie von Kaufleuten und Adeligen aus einer kleinen, weltoffenen Handelsstadt am Schwarzen Meer stieß. Nichts in der ärmlichen Zwangsarbeiter- und Lagerexistenz am Rande der jungen Bundesrepublik, in der Wodin aufwuchs, hatte darauf hingedeutet.
Ihr neuer Roman „Irgendwo in diesem Dunkel“ nimmt das Thema wieder auf. Nun steht das Begräbnis des Vaters am Anfang. Der breitschultrige Mann mit kantigem Kopf im heroischen Profil, der ohne weiteres als Modell für sowjetische Kriegerdenkmäler hätte herhalten können, liegt im offenen Sarg, beinahe neunzig Jahre alt. Am Ende lebte er, elend verwahrlost, in einem Altersheim. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an seine „beinahe unnatürliche“ Gesundheit bis zum Schlaganfall, und an seine ernüchternde Heimkehr nach dem Tod der Mutter.
Damals war der Vater als Sänger eines Kosakenchors durch Europa getingelt. Ein guter Job. Da die Amerikaner die Sache finanzieren, gibt es Schokolade und vieles mehr. Doch bis der Vater die Todesnachricht erhält, vergehen zwei Wochen. Als die Zehnjährige hört, er stehe ohne Schlüssel vor der Tür, stürzt sie nach Hause. „Außer ihm und meiner Schwester, die erst vier Jahre alt war, hatte ich niemanden mehr.“ Der Vater nimmt ihr den Schlüssel aus der Hand. Er beachtet sie nicht.
So die Urszene ihrer Beziehung zum Vater, an die sich die Ich-Erzählerin an seinem Grab erinnert. Damals begann sie ihn, der nur mit Strafe und Kontrolle erzog, zu hassen. Zunächst in einem katholischen Heim stillgestellt, kommt sie später auf eine Mittelschule, in der die Mädchen auf Pfennigabsätzen gehen, ihre Petticoats spazieren führen und brav lernen, sexy und anständig zugleich zu sein. Während sie, das „Russla“, altmodische Lumpen tragen muss. Die Ehe „mit einem deutschen Handwerker“ wird Sehnsuchtsziel. Als Wodin ihr erstes, schlechtes Zeugnis erhält, aber, von den anderen belächelt, dennoch tanzen geht und den Vater belügt, beginnt die Katastrophe: Der Vater sperrt sie ein. Bald fliegt sie von der Schule, übernachtet im Schuppen, am Ende auf der Straße.
„Ich muss noch einmal ganz von vorn anfangen. Das Allererste. Worauf das alles ruht. Ich taste mich entlang auf einem dunklen Grund, blind und fremd einer Spur folgend, die in meine Vergangenheit führt, wo ich nur auf Unwirkliches und Unkenntliches stoße, nicht zu unterscheiden vermag, was gefunden, erfunden ist.“ Dieser Satz, der in seinem Gestus des „noch einmal“ an den Anfang von „Irgendwo In diesem Dunkel“ gepasst hätte, stammt aus Wodins Erstling „Die gläserne Stadt“ aus dem Jahr 1983. Es ging darin um ihre Moskauer Liebe zum jüdischen Schriftsteller Lew Ginsburg.
Je mehr man in ihren Büchern liest, desto klarer wird, dass die Beschwörung der ärmlichen Kindheit, die Vater-Mutter-Erzählung, nie fehlt. Auch in „Nachtgeschwister“, Wodins Buch über ihre Ehe mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig, steht der „Albtraum meiner Vergangenheit (…), die Welt meiner Eltern, die nach dem Ende des Kriegs zu überflüssiger Menschenbeute in Deutschland geworden waren“ am Ursprung aller existenziellen Unsicherheit.
Von Buch zu Buch misst Wodin den tristen Kosmos ihrer Kindheit aus. Am einprägsamsten in „Einmal lebt ich“ von 1989. „In Anlehnung“ daran, so ein Hinweis im neuen Buch, sei „Irgendwo im Dunkel“ entstanden. Der Rahmen wechselt, die erzählten Geschichten gleichen sich. Jetzt ist der Vater tot, aber spektakuläre, neue Erkenntnisse über die Familie, wie in „Mariupol“, gibt es nicht. Auch der Besuch bei einem Onkel in Moskau ist schon in „Die gläserne Stadt“ beschrieben. Aber Wodin beißt sich wieder fest und, statt den Stoff zu verwässern, steigert sie die Eindringlichkeit des Erzählens. Etwa in der Irritation über die Integration des Onkels, über seine Stalin-Devotionalien und den Cousin, einen Aufsteiger.
Die elementaren Grundfragen der Familiengeschichte lassen sich auch in Moskau nicht klären: Warum ist das Paar damals aus der Ukraine geflohen? Weil die Mutter im deutschen „Arbeitsamt“ arbeitete, das für die Zwangsarbeiter zuständig war? Wäre sie als Kollaborateurin verurteilt worden? Und warum hat der Vater seine erste, jüdische Frau verlassen? Warum wurde er nie eingezogen? Wurden der Vater und die Mutter von den deutschen Soldaten, die sie mit aufs Schiff nahmen, verschleppt, gerettet oder beides zugleich?
Ein Reiz der Erzählhaltung Natascha Wodins geht aus der inzwischen wohl unaufhebbaren Unklarheit über die Personen und Ereignisse hervor, die das Leben der Autorin prägten. Äußerlich erstarrt, bleibt der Vater ein Fremdkörper. Er gibt kein Geheimnis preis. Über vierzig Jahre nach der Ankunft kann er kaum Deutsch, liest Emigrantenzeitungen aus New York, lässt sich aus einer Emigrantenbibliothek russische Romane kommen.
Auch in diesem neuen Buch sind die Szenen, denen offenkundig eigene Erlebnisse der Autorin zugrunde liegen, gelungener als die Mutmaßungen über das Zwangsarbeiter-Elend der Eltern. Mitreißend, teils mit überraschendem Humor, erzählt sie von den schwierigen Monaten des Down-and-Out-in-Forchheim nach dem Zerwürfnis mit dem Vater. Wodin flüchtet in die Großstadt Nürnberg, treibt im Bahnhofsviertel in die Arme eines Persers, der ihr, ein würdiger Vertreter des Schahs, Luxus verspricht, sie aufs Zimmer mitnimmt, vergewaltigt, schwängert. Die beklemmende Geschichte, wie sie sich von dem in sie eingepflanzten Kind befreite, hat Natascha Wodin noch nie so intensiv erzählt wie in diesem Buch.
HANS-PETER KUNISCH
Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel. Roman. Rowohlt. Reinbek 2018. 239 Seiten, 20 Euro
Über vierzig Jahre nach der
Ankunft spricht der Vater
immer noch kaum Deutsch
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Fortwährende Suchbewegung: Natascha Wodins neues Buch „Irgendwo in diesem Dunkel“
Ein Foto am Anfang des letzten Kapitels von Natascha Wodins Erfolgsbuch „Sie kam aus Mariupol“ zeigt die zehn Jahre alte Ich-Erzählerin mit hübschem Pagenkopf, aber ernstem, beinahe schon erwachsenem Blick. Ihre kleine Schwester schaut rechts daneben lächelnd in die Kamera. Der Vater der beiden hat eine Hand auf die Schulter der jüngeren gelegt, die andere auf den Grabstein seiner Frau. Sie hat sich zwei Wochen zuvor im Alter von sechsunddreißig Jahren im fränkischen Flüsschen Regnitz bei Forchheim ertränkt.
Mit „Sie kam aus Mariupol“ gewann Wodin 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. Sie berichtet darin, wie sie bei der Suche nach den ukrainischen Wurzeln der Mutter auf eine durch die russische Revolution zersprengte Familie von Kaufleuten und Adeligen aus einer kleinen, weltoffenen Handelsstadt am Schwarzen Meer stieß. Nichts in der ärmlichen Zwangsarbeiter- und Lagerexistenz am Rande der jungen Bundesrepublik, in der Wodin aufwuchs, hatte darauf hingedeutet.
Ihr neuer Roman „Irgendwo in diesem Dunkel“ nimmt das Thema wieder auf. Nun steht das Begräbnis des Vaters am Anfang. Der breitschultrige Mann mit kantigem Kopf im heroischen Profil, der ohne weiteres als Modell für sowjetische Kriegerdenkmäler hätte herhalten können, liegt im offenen Sarg, beinahe neunzig Jahre alt. Am Ende lebte er, elend verwahrlost, in einem Altersheim. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an seine „beinahe unnatürliche“ Gesundheit bis zum Schlaganfall, und an seine ernüchternde Heimkehr nach dem Tod der Mutter.
Damals war der Vater als Sänger eines Kosakenchors durch Europa getingelt. Ein guter Job. Da die Amerikaner die Sache finanzieren, gibt es Schokolade und vieles mehr. Doch bis der Vater die Todesnachricht erhält, vergehen zwei Wochen. Als die Zehnjährige hört, er stehe ohne Schlüssel vor der Tür, stürzt sie nach Hause. „Außer ihm und meiner Schwester, die erst vier Jahre alt war, hatte ich niemanden mehr.“ Der Vater nimmt ihr den Schlüssel aus der Hand. Er beachtet sie nicht.
So die Urszene ihrer Beziehung zum Vater, an die sich die Ich-Erzählerin an seinem Grab erinnert. Damals begann sie ihn, der nur mit Strafe und Kontrolle erzog, zu hassen. Zunächst in einem katholischen Heim stillgestellt, kommt sie später auf eine Mittelschule, in der die Mädchen auf Pfennigabsätzen gehen, ihre Petticoats spazieren führen und brav lernen, sexy und anständig zugleich zu sein. Während sie, das „Russla“, altmodische Lumpen tragen muss. Die Ehe „mit einem deutschen Handwerker“ wird Sehnsuchtsziel. Als Wodin ihr erstes, schlechtes Zeugnis erhält, aber, von den anderen belächelt, dennoch tanzen geht und den Vater belügt, beginnt die Katastrophe: Der Vater sperrt sie ein. Bald fliegt sie von der Schule, übernachtet im Schuppen, am Ende auf der Straße.
„Ich muss noch einmal ganz von vorn anfangen. Das Allererste. Worauf das alles ruht. Ich taste mich entlang auf einem dunklen Grund, blind und fremd einer Spur folgend, die in meine Vergangenheit führt, wo ich nur auf Unwirkliches und Unkenntliches stoße, nicht zu unterscheiden vermag, was gefunden, erfunden ist.“ Dieser Satz, der in seinem Gestus des „noch einmal“ an den Anfang von „Irgendwo In diesem Dunkel“ gepasst hätte, stammt aus Wodins Erstling „Die gläserne Stadt“ aus dem Jahr 1983. Es ging darin um ihre Moskauer Liebe zum jüdischen Schriftsteller Lew Ginsburg.
Je mehr man in ihren Büchern liest, desto klarer wird, dass die Beschwörung der ärmlichen Kindheit, die Vater-Mutter-Erzählung, nie fehlt. Auch in „Nachtgeschwister“, Wodins Buch über ihre Ehe mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig, steht der „Albtraum meiner Vergangenheit (…), die Welt meiner Eltern, die nach dem Ende des Kriegs zu überflüssiger Menschenbeute in Deutschland geworden waren“ am Ursprung aller existenziellen Unsicherheit.
Von Buch zu Buch misst Wodin den tristen Kosmos ihrer Kindheit aus. Am einprägsamsten in „Einmal lebt ich“ von 1989. „In Anlehnung“ daran, so ein Hinweis im neuen Buch, sei „Irgendwo im Dunkel“ entstanden. Der Rahmen wechselt, die erzählten Geschichten gleichen sich. Jetzt ist der Vater tot, aber spektakuläre, neue Erkenntnisse über die Familie, wie in „Mariupol“, gibt es nicht. Auch der Besuch bei einem Onkel in Moskau ist schon in „Die gläserne Stadt“ beschrieben. Aber Wodin beißt sich wieder fest und, statt den Stoff zu verwässern, steigert sie die Eindringlichkeit des Erzählens. Etwa in der Irritation über die Integration des Onkels, über seine Stalin-Devotionalien und den Cousin, einen Aufsteiger.
Die elementaren Grundfragen der Familiengeschichte lassen sich auch in Moskau nicht klären: Warum ist das Paar damals aus der Ukraine geflohen? Weil die Mutter im deutschen „Arbeitsamt“ arbeitete, das für die Zwangsarbeiter zuständig war? Wäre sie als Kollaborateurin verurteilt worden? Und warum hat der Vater seine erste, jüdische Frau verlassen? Warum wurde er nie eingezogen? Wurden der Vater und die Mutter von den deutschen Soldaten, die sie mit aufs Schiff nahmen, verschleppt, gerettet oder beides zugleich?
Ein Reiz der Erzählhaltung Natascha Wodins geht aus der inzwischen wohl unaufhebbaren Unklarheit über die Personen und Ereignisse hervor, die das Leben der Autorin prägten. Äußerlich erstarrt, bleibt der Vater ein Fremdkörper. Er gibt kein Geheimnis preis. Über vierzig Jahre nach der Ankunft kann er kaum Deutsch, liest Emigrantenzeitungen aus New York, lässt sich aus einer Emigrantenbibliothek russische Romane kommen.
Auch in diesem neuen Buch sind die Szenen, denen offenkundig eigene Erlebnisse der Autorin zugrunde liegen, gelungener als die Mutmaßungen über das Zwangsarbeiter-Elend der Eltern. Mitreißend, teils mit überraschendem Humor, erzählt sie von den schwierigen Monaten des Down-and-Out-in-Forchheim nach dem Zerwürfnis mit dem Vater. Wodin flüchtet in die Großstadt Nürnberg, treibt im Bahnhofsviertel in die Arme eines Persers, der ihr, ein würdiger Vertreter des Schahs, Luxus verspricht, sie aufs Zimmer mitnimmt, vergewaltigt, schwängert. Die beklemmende Geschichte, wie sie sich von dem in sie eingepflanzten Kind befreite, hat Natascha Wodin noch nie so intensiv erzählt wie in diesem Buch.
HANS-PETER KUNISCH
Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel. Roman. Rowohlt. Reinbek 2018. 239 Seiten, 20 Euro
Über vierzig Jahre nach der
Ankunft spricht der Vater
immer noch kaum Deutsch
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de