Am letzten Schultag soll jeder aus der Klasse von seinen Plänen für die Sommerferien erzählen. Alle verreisen. Ins Ausland. Inas Mitschüler sind geradezu versessen aufs Ausland - es gibt sogar einen Wettstreit, wer schon in den meisten Ländern war. Als Ina an der Reihe ist, pocht es in ihrem Bauch, fast ganz oben beim Herzen. Und dann hört sie sich vor der Klasse sagen, sie würde in den Süden fahren. Nur, um dazuzugehören, dabei hat ihre Mutter für einen Urlaub gar kein Geld. Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Damit die Lüge nicht auffliegt, bleibt Ina ab dem ersten Ferientag von morgens bis abends in ihrem Zimmer. Bis der Neue aus ihrer Klasse, der in derselben Siedlung wohnt, Ina am Fenster entdeckt und ihr einen verrückten Vorschlag macht ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Für einen Kurs im Muttersein
Erzählen, nicht deuten: Marianne Kaurins Roman "Irgendwo ist immer Süden".
Von Elena Geus
In dem Buch "Geschichte einer Himmelsrichtung" heißt es, in den Süden zeige "die Kompassnadel des Glücks". "In den Süden" ist das, was Ina einfällt, als am letzten Schultag vor den Ferien alle Kinder der 6a von ihren Urlaubszielen erzählen: Mallorca, Florida, Südfrankreich, Dubai. Nur Ina kann nicht prahlen, ihr drohen lange Wochen in Tyllebakken, einer hässlichen Betonwohnanlage irgendwo in Norwegen, "Güllebakken" genannt, weil es, zivilisiert ausgedrückt, Mist ist, dort zu wohnen.
Vilmer, der Junge, der an diesem letzten Tag zu Besuch ist, weil er in der Siebten dazustoßen wird, sagt, wie es ist: Er fährt nicht weg, sein Vater ist pleite. Für Ina ist diese Offenheit undenkbar, zu groß ist die Scham. Schon am Anfang des Romans wird deutlich: Das Mädchen möchte fast schon verzweifelt dazugehören. Wie ein Mantra wiederholt es, dass es Freunde suche, die es hoch- und nicht runterziehen. Als einige Klassenkameraden spotten, Süden sei doch kein Ort, greift die Lehrerin ein: "Der Süden kann theoretisch an jedem beliebigen Ort der Welt liegen."
Inas erster Eindruck von Vilmer ist vernichtend: ein bekloppter Typ in hässlichen Klamotten, ein Loser. Dass dem nervigsten Nachbarn der Welt kein bisschen die entscheidenden Antennen fehlen, wie das Mädchen vermutet, wird schnell klar. Der Junge hat, im Gegenteil, ein sehr feines Gespür. Nachdem er Ina auf die Schliche gekommen ist, dass sie sich in ihrer Wohnung verschanzt, weil ihre zwar vage, aber verheißungsvoll klingende Angabe, in den Süden zu reisen, eine Lüge war, lockt er sie mit Hartnäckigkeit aus ihrem Exil und gibt sich große Mühe, ihr Luftschloss Wirklichkeit werden zu lassen.
Marianne Kaurin versteht es, auch das Nichtgesagte wirken zu lassen. Dass sich Inas alleinerziehende Mutter durch eine Umschulung quält und Vilmers Vater trinkt, das wird erwähnt, aber - auch weil der Roman durchgängig aus Inas Perspektive erzählt - nicht gedeutet. Inas schonungslose Feststellung, ihre Mutter brauche einen Kurs im Muttersein, sagt genug.
Wunderbar beschrieben ist, wie die beiden Kinder eine verlassene, gammelige Hausmeisterwohnung in ihr Südenparadies verwandeln: mit einer Fototapete mit Sonnenuntergang als Selfie-Hintergrund, einem aufblasbaren Planschbecken als Pool und belegten Broten, die zu Club-Sandwiches werden. Mit ausreichend Phantasie wird eben auch der hässlichste Hinterhof zum Wellness-Resort.
Für Ina ist das zunächst ein Spiel auf Zeit und Vilmer ein Südenkumpel, der mit Beginn des Schuljahres ausgedient haben wird. In der Kelleroase wird aber nicht nur die Sehnsucht nach südländischem Flair gestillt, es gehen - ungeplant und deswegen umso schöner - auch Träume nach einem echten Freund und einem ersten Kuss in Erfüllung. Als Inas Lügen auffliegen, verrät sie ihr Zusammensein jedoch als peinlich-kindischen Zeitvertreib, als sei ihr jede Orientierung verlorengegangen, wie man die behandelt, die einem guttun.
Man könnte Kaurin vorhalten, dass sie nach "Emil und die Prinzessin aus dem Nachbarhaus" wieder auf die Rahmenhandlungen "Neues Kind in der Klasse; zwei, die sich in einem Rollenspiel umkreisen" setzt, doch jede ihrer Geschichten von Annäherung, einander verlieren und wiederfinden ist auf eigene Art rührend, und in Sprache, Ton und Gedanken passgenau zum Alter. Und jede ihrer kleinen Liebesgeschichten hat einen besonderen Charme.
In der Hinterlassenschaft des Hausmeisters finden die Kinder ein Heft mit Gedichten - schlechten Gedichten, doch Zeugnis einer großen, nie erfüllten Liebe. Diese hübsche Nebenhandlung kommt fast ein wenig zu kurz, denn die ehemalige Angebetete, inzwischen eine alte Dame, ist es, die Ina den entscheidenden Unterschied erklärt zwischen Entschuldigung sagen und Entschuldigung tun und die damit den Kompass des Mädchens wieder in die richtige Richtung weisen lässt.
Marianne Kaurin: "Irgendwo ist immer Süden".
Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther. Woow Books, Hamburg 2020. 240 S., geb., 15,- [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erzählen, nicht deuten: Marianne Kaurins Roman "Irgendwo ist immer Süden".
Von Elena Geus
In dem Buch "Geschichte einer Himmelsrichtung" heißt es, in den Süden zeige "die Kompassnadel des Glücks". "In den Süden" ist das, was Ina einfällt, als am letzten Schultag vor den Ferien alle Kinder der 6a von ihren Urlaubszielen erzählen: Mallorca, Florida, Südfrankreich, Dubai. Nur Ina kann nicht prahlen, ihr drohen lange Wochen in Tyllebakken, einer hässlichen Betonwohnanlage irgendwo in Norwegen, "Güllebakken" genannt, weil es, zivilisiert ausgedrückt, Mist ist, dort zu wohnen.
Vilmer, der Junge, der an diesem letzten Tag zu Besuch ist, weil er in der Siebten dazustoßen wird, sagt, wie es ist: Er fährt nicht weg, sein Vater ist pleite. Für Ina ist diese Offenheit undenkbar, zu groß ist die Scham. Schon am Anfang des Romans wird deutlich: Das Mädchen möchte fast schon verzweifelt dazugehören. Wie ein Mantra wiederholt es, dass es Freunde suche, die es hoch- und nicht runterziehen. Als einige Klassenkameraden spotten, Süden sei doch kein Ort, greift die Lehrerin ein: "Der Süden kann theoretisch an jedem beliebigen Ort der Welt liegen."
Inas erster Eindruck von Vilmer ist vernichtend: ein bekloppter Typ in hässlichen Klamotten, ein Loser. Dass dem nervigsten Nachbarn der Welt kein bisschen die entscheidenden Antennen fehlen, wie das Mädchen vermutet, wird schnell klar. Der Junge hat, im Gegenteil, ein sehr feines Gespür. Nachdem er Ina auf die Schliche gekommen ist, dass sie sich in ihrer Wohnung verschanzt, weil ihre zwar vage, aber verheißungsvoll klingende Angabe, in den Süden zu reisen, eine Lüge war, lockt er sie mit Hartnäckigkeit aus ihrem Exil und gibt sich große Mühe, ihr Luftschloss Wirklichkeit werden zu lassen.
Marianne Kaurin versteht es, auch das Nichtgesagte wirken zu lassen. Dass sich Inas alleinerziehende Mutter durch eine Umschulung quält und Vilmers Vater trinkt, das wird erwähnt, aber - auch weil der Roman durchgängig aus Inas Perspektive erzählt - nicht gedeutet. Inas schonungslose Feststellung, ihre Mutter brauche einen Kurs im Muttersein, sagt genug.
Wunderbar beschrieben ist, wie die beiden Kinder eine verlassene, gammelige Hausmeisterwohnung in ihr Südenparadies verwandeln: mit einer Fototapete mit Sonnenuntergang als Selfie-Hintergrund, einem aufblasbaren Planschbecken als Pool und belegten Broten, die zu Club-Sandwiches werden. Mit ausreichend Phantasie wird eben auch der hässlichste Hinterhof zum Wellness-Resort.
Für Ina ist das zunächst ein Spiel auf Zeit und Vilmer ein Südenkumpel, der mit Beginn des Schuljahres ausgedient haben wird. In der Kelleroase wird aber nicht nur die Sehnsucht nach südländischem Flair gestillt, es gehen - ungeplant und deswegen umso schöner - auch Träume nach einem echten Freund und einem ersten Kuss in Erfüllung. Als Inas Lügen auffliegen, verrät sie ihr Zusammensein jedoch als peinlich-kindischen Zeitvertreib, als sei ihr jede Orientierung verlorengegangen, wie man die behandelt, die einem guttun.
Man könnte Kaurin vorhalten, dass sie nach "Emil und die Prinzessin aus dem Nachbarhaus" wieder auf die Rahmenhandlungen "Neues Kind in der Klasse; zwei, die sich in einem Rollenspiel umkreisen" setzt, doch jede ihrer Geschichten von Annäherung, einander verlieren und wiederfinden ist auf eigene Art rührend, und in Sprache, Ton und Gedanken passgenau zum Alter. Und jede ihrer kleinen Liebesgeschichten hat einen besonderen Charme.
In der Hinterlassenschaft des Hausmeisters finden die Kinder ein Heft mit Gedichten - schlechten Gedichten, doch Zeugnis einer großen, nie erfüllten Liebe. Diese hübsche Nebenhandlung kommt fast ein wenig zu kurz, denn die ehemalige Angebetete, inzwischen eine alte Dame, ist es, die Ina den entscheidenden Unterschied erklärt zwischen Entschuldigung sagen und Entschuldigung tun und die damit den Kompass des Mädchens wieder in die richtige Richtung weisen lässt.
Marianne Kaurin: "Irgendwo ist immer Süden".
Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther. Woow Books, Hamburg 2020. 240 S., geb., 15,- [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2020Süden im Souterrain
Ina erlebt, wie Armut zur Außenseiterin macht
„Im Sommer fahre ich in den Süden“, meint Ina, als sich vor den Sommerferien ihre Klassenkameraden mit Reisezielen überbieten. Problem nur: Ina fährt nirgendwohin, das Geld ist knapp. Umso größer ist dafür ihre Scham: Weil sie keine Marken-T-Shirts trägt oder ohne Geschenk auf einer Geburtstagsfeier auftaucht – mit der Ausrede, sie habe es zu Hause liegen lassen. Was ihr natürlich keiner glaubt. Auch Vilmer nicht. Er ist neu in der Klasse und Inas Nachbar, doch abgeben will sie sich auf keinen Fall mit ihm, er hat noch uncoolere Klamotten als sie. Aber er lässt sich nicht abwimmeln. Irgendwann gibt sie nach, und als sie eine verlassene Souterrainwohnung finden, die zu ihrem ganz eigenen Südenparadies wird, könnte alles gut sein. Ist es aber nicht. Denn die Mitschüler fordern neue Insta-Fotos aus dem Südenurlaub, und Inas Angst aufzufliegen wird größer und größer. Dabei haben die anderen längst gemerkt, was los ist. Mit geradezu diabolischer Lust weiden sie sich an ihren verzweifelten Versuchen, den Schein zu wahren. Ina verstrickt sich immer weiter, will dazugehören, egal, um welchen Preis. Kann das gutgehen? „Irgendwo ist immer Süden“ der Norwegerin Marianne Kaurin erzählt davon, wie es ist, in einer konsumfreudigen Gesellschaft weniger zu haben als andere. Es ist ein Roman über Reichtum und Armut und ein Miteinander ohne Augenhöhe. Das klingt nach klaren Gegensätzen – und soll auch so sein: „Probleme zur Debatte stellen“ hat in der skandinavischen Literatur Tradition und ist vielen Autoren ein dringliches Anliegen – auch weil die Erzählung, in der alle mehr oder weniger gleich viel haben, keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Eben dies beobachtet Ina erschreckend abgeklärt.
Durch sie wird aus dem Roman mehr als ein gesellschaftskritisches Exempel, denn ihren Blick umflort eine Traurigkeit, die Ausdruck nicht nur ihrer Resignation, sondern auch ihrer Zerrissenheit ist – merkt sie doch, wie sehr sie ihre Integrität verrät und sich korrumpieren lässt.
INES GALLING
Marianne Kaurin: Irgendwo ist immer Süden. Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther. Atrium Verlag (Woow Books), Zürich 2020. 240 Seiten, 15 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ina erlebt, wie Armut zur Außenseiterin macht
„Im Sommer fahre ich in den Süden“, meint Ina, als sich vor den Sommerferien ihre Klassenkameraden mit Reisezielen überbieten. Problem nur: Ina fährt nirgendwohin, das Geld ist knapp. Umso größer ist dafür ihre Scham: Weil sie keine Marken-T-Shirts trägt oder ohne Geschenk auf einer Geburtstagsfeier auftaucht – mit der Ausrede, sie habe es zu Hause liegen lassen. Was ihr natürlich keiner glaubt. Auch Vilmer nicht. Er ist neu in der Klasse und Inas Nachbar, doch abgeben will sie sich auf keinen Fall mit ihm, er hat noch uncoolere Klamotten als sie. Aber er lässt sich nicht abwimmeln. Irgendwann gibt sie nach, und als sie eine verlassene Souterrainwohnung finden, die zu ihrem ganz eigenen Südenparadies wird, könnte alles gut sein. Ist es aber nicht. Denn die Mitschüler fordern neue Insta-Fotos aus dem Südenurlaub, und Inas Angst aufzufliegen wird größer und größer. Dabei haben die anderen längst gemerkt, was los ist. Mit geradezu diabolischer Lust weiden sie sich an ihren verzweifelten Versuchen, den Schein zu wahren. Ina verstrickt sich immer weiter, will dazugehören, egal, um welchen Preis. Kann das gutgehen? „Irgendwo ist immer Süden“ der Norwegerin Marianne Kaurin erzählt davon, wie es ist, in einer konsumfreudigen Gesellschaft weniger zu haben als andere. Es ist ein Roman über Reichtum und Armut und ein Miteinander ohne Augenhöhe. Das klingt nach klaren Gegensätzen – und soll auch so sein: „Probleme zur Debatte stellen“ hat in der skandinavischen Literatur Tradition und ist vielen Autoren ein dringliches Anliegen – auch weil die Erzählung, in der alle mehr oder weniger gleich viel haben, keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Eben dies beobachtet Ina erschreckend abgeklärt.
Durch sie wird aus dem Roman mehr als ein gesellschaftskritisches Exempel, denn ihren Blick umflort eine Traurigkeit, die Ausdruck nicht nur ihrer Resignation, sondern auch ihrer Zerrissenheit ist – merkt sie doch, wie sehr sie ihre Integrität verrät und sich korrumpieren lässt.
INES GALLING
Marianne Kaurin: Irgendwo ist immer Süden. Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther. Atrium Verlag (Woow Books), Zürich 2020. 240 Seiten, 15 Euro.
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