Die ehrgeizige Irmina reist Mitte der 1930er Jahre nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie Howard aus der Karibik kennen, dem sie sich im Streben nach einem selbstbestimmten Leben verbunden fühlt. Durch den klugen und zielstrebigen Oxfordstudenten beginnt Irmina ihren Blick auf die Welt zu öffnen. Doch findet ihre Beziehung ein jähes Ende, als Irmina, bedrängt durch die politische Situation, nach Berlin zurückkehrt. Im nationalsozialistischen Deutschland steht sie vor der Möglichkeit, den erstrebten Wohlstand endlich zu erlangen, wenn sie dafür die verbrecherische Ideologie des Regimes nicht infrage stellt. Und die politischen Ereignisse eskalieren weiter und weiter...Mit "Irmina" legt Barbara Yelin ihr Glanzstück vor: ein packendes Drama um die Entscheidung zwischen persönlicher Freiheit und dem Drang nach gesellschaftlichem Aufstieg. Basierend auf einer wahren Geschichte, erzählt sie in atmosphärisch dichten Bildern einen Werdegang voller Brüche, der aber auch exemplarisch für die Mitschuld durch Wegsehen und Vorteilsnahme vieler im Nationalsozialismus stehen kann.Mit einem Nachwort von Dr. Alexander Korb.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2014Drei Erfahrungen für ein ganzes Leben
Basis ist die Familiengeschichte, doch daraus ist ein Roman über privates und politisches Schicksal geworden: Barbara Yelins Comic "Irmina" ist ein Meisterwerk.
Dass hierzulande nach Mawils phantastischem Comic "Kinderland" (F.A.Z. vom 18. Juni) im selben Jahr etwas Gleichwertiges, ja noch Besseres erscheinen sollte, war nicht zu erwarten. Doch genau das ist geschehen: "Irmina" heißt der neue Band von Barbara Yelin, mit dem die Münchner Zeichnerin alle Erwartungen, die man in sie setzte, übertroffen hat. Diese beiden Bücher werden, gerade weil sie so dicht nacheinander erschienen sind, Epoche machen in der deutschen Comicgeschichte. "Irmina" und "Kinderland" müssen sich vor keiner internationalen Comicproduktion verstecken.
Woran liegt das? Am neuen Rang, der dem Erzählen in Deutschland eingeräumt wird. Jahrelang litten hiesige Comics unter mangelhaften Vorlagen. Das wiederum hatte zwei Gründe: Einerseits verdienten die Comicszenaristen nicht genug Geld, um ausgefeilte Erzählungen schreiben zu können, andererseits verdienten auch die Zeichner nicht genug Geld, so dass sie, wenn sie sich überhaupt den Luxus erlauben konnten, Comics zu machen, die spärliche Zeit, die ihnen dafür blieb, lieber auf die Umsetzung eigener Geschichten verwendeten. Aber ein guter Zeichner ist nicht notwendig ein guter Erzähler - auch wenn Mawil und Barbara Yelin beweisen, dass beides durchaus zusammenkommen kann.
Die Zeichnerin legte vor vier Jahren die erste publizistische Spur zu "Irmina". In der achten Ausgabe der Comiczeichnerinnen-Anthologie "Spring" erschien eine Kurzgeschichte, die auf den Fund alter Fotoalben mit Bildern aus dem London der dreißiger Jahre zurückging. Von Yelins Mutter erfuhr die Zeichnerin, dass ihre bereits verstorbene Großmutter damals eine Ausbildung in England gemacht, sich dort in einen farbigen Austauschstudenten verliebt und diesen erst Jahrzehnte später wiedergetroffen hatte, als er Gouverneur von Barbados geworden war. Die vielfache biographische Brechung durch die Erlebnisse der Großmutter, die Berichte der Mutter darüber und die Umarbeitung dieses Materials zum Comic durch die Tochter machten aus der nur siebenseitigen Geschichte ein erzähltechnisches Renommierstück. Und eine Verheißung auf viel mehr.
Jetzt sind es gar 270 Seiten geworden, und Barbara Yelin hat das unmittelbare familiäre Vorbild verfremdet: durch Umbenennung der Beteiligten und den Verzicht auf die ausgefuchste autobiographische Erzählweise der Kurzgeschichte. Wie aber auch schon die Vorstufe von 2010 ist "Irmina" ein ästhetisches Manifest für die Wirkung von Seitenarchitektur: Wenn Yelin mit ihren aquarellierten Bleistiftzeichnungen bisweilen ganze Doppelseiten nutzt, diese aber sowohl als riesige Einzelbilder gestaltet wie auch als ineinanderfließende Sequenzen (am eindrucksvollsten - wie passend! - in einer Bootsfahrt auf der Themse), dann zeigt das deshalb besondere Virtuosität, weil sie ansonsten ein sehr strenges dreireihiges Bildraster beibehält, das nur in dramaturgisch zentralen Momenten durchbrochen wird. Etwa im Falle des Hochzeitsfotos der Titelheldin mit einem NS-Architekten, das in der Mitte einer sonst freien Seite steht, über die sich nur das akustische Leitmotiv dieses Frauenlebens, das hier expressiv groß geletterte Klack-Klack der Schreibmaschine, legt.
Erzählt wird streng chronologisch: Der erste Teil gilt dem London-Aufenthalt, wo sich Irmina als Schreibkraft ausbilden lassen will. Nicht politische Gründe waren entscheidend, dass sie 1935 Deutschland verließ, sondern der Wille, als Frau beruflich auf eigenen Füßen zu stehen (was im Nationalsozialismus allerdings auch nicht gern gesehen wurde). Das Klack-Klack des Tippens ist also ein Emanzipationsausweis, und es ist einer der schönsten Kunstgriffe von Barbara Yelin, dass sie Irmina im zweiten Teil, der zu Kriegszeiten in Deutschland spielt, nach Heirat und Geburt ihres Sohnes in der häuslichen Küche zeigt, wo auch wieder ein Klack-Klack erklingt, aber nun ist es das Geräusch des abgewaschenen Geschirrs. Mit diesem onomatopoetischen Trick macht Yelin das Scheitern von Irminas Idealen ebenso sicht- wie hörbar.
Erster und zweiter Teil sind gleich lang, der dritte dann mit fünfzig Seiten deutlich kürzer. Doch erst er macht aus der bislang vor allem zeit- und kulturhistorisch brisanten Geschichte ein auch psychologisches Meisterwerk. 1983 erreicht die kurz vor der Rente stehende Schulsekretärin Irmina die Einladung des Gouverneurs von Barbados, nach fast einem halben Jahrhundert die alte Londoner Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Die junge Liebe der Deutschen zu dem farbigen Howard wird von Yelin im ersten Teil sehr subtil behandelt, doch natürlich liest man sie vor allem politisch - parallel zur Rassenpolitik der Nazis in Irminas Heimat. Wenn sie nun in Howards Heimat reist, tut sie es eher lustlos, denn der einstige Lebensentwurf scheiterte ja an den zeithistorischen Umständen. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass Howard sie zur Geburtstagsfeier seiner Tochter eingeladen hat, und als sie dort das erste Mal auf die selbstbewusste junge Frau trifft, erfährt sie, dass diese im Angedenken an die so mutige Deutsche der dreißiger Jahre deren Namen trägt: Irmina.
Es ist ein großartiger Moment, bei dem man der deutschen Irmina dabei zusehen kann, wie Stolz und Scham miteinander streiten: Die Irmina aus Barbados verspricht, all das zu werden, was die ältere sich ehedem selbst erträumte. Doch die Chance auf ein anderes Leben hatte sie nur einmal, und so kehrt sie am Schluss auch aus Barbados zurück nach Deutschland. Unter ihren müden Schritten durch die Ankunftshalle legt Barbara Yelin ein letztes Echo des früher so dynamischen Klack-Klack. Jetzt aber liest man nur noch: Schlapp-Schlapp. Gäbe es die Möglichkeit, diese Rezension mit einer Lautmalerei zu verzieren, sie hieße Klatsch-Klatsch.
ANDREAS PLATTHAUS
Barbara Yelin: "Irmina".
Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 188 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Basis ist die Familiengeschichte, doch daraus ist ein Roman über privates und politisches Schicksal geworden: Barbara Yelins Comic "Irmina" ist ein Meisterwerk.
Dass hierzulande nach Mawils phantastischem Comic "Kinderland" (F.A.Z. vom 18. Juni) im selben Jahr etwas Gleichwertiges, ja noch Besseres erscheinen sollte, war nicht zu erwarten. Doch genau das ist geschehen: "Irmina" heißt der neue Band von Barbara Yelin, mit dem die Münchner Zeichnerin alle Erwartungen, die man in sie setzte, übertroffen hat. Diese beiden Bücher werden, gerade weil sie so dicht nacheinander erschienen sind, Epoche machen in der deutschen Comicgeschichte. "Irmina" und "Kinderland" müssen sich vor keiner internationalen Comicproduktion verstecken.
Woran liegt das? Am neuen Rang, der dem Erzählen in Deutschland eingeräumt wird. Jahrelang litten hiesige Comics unter mangelhaften Vorlagen. Das wiederum hatte zwei Gründe: Einerseits verdienten die Comicszenaristen nicht genug Geld, um ausgefeilte Erzählungen schreiben zu können, andererseits verdienten auch die Zeichner nicht genug Geld, so dass sie, wenn sie sich überhaupt den Luxus erlauben konnten, Comics zu machen, die spärliche Zeit, die ihnen dafür blieb, lieber auf die Umsetzung eigener Geschichten verwendeten. Aber ein guter Zeichner ist nicht notwendig ein guter Erzähler - auch wenn Mawil und Barbara Yelin beweisen, dass beides durchaus zusammenkommen kann.
Die Zeichnerin legte vor vier Jahren die erste publizistische Spur zu "Irmina". In der achten Ausgabe der Comiczeichnerinnen-Anthologie "Spring" erschien eine Kurzgeschichte, die auf den Fund alter Fotoalben mit Bildern aus dem London der dreißiger Jahre zurückging. Von Yelins Mutter erfuhr die Zeichnerin, dass ihre bereits verstorbene Großmutter damals eine Ausbildung in England gemacht, sich dort in einen farbigen Austauschstudenten verliebt und diesen erst Jahrzehnte später wiedergetroffen hatte, als er Gouverneur von Barbados geworden war. Die vielfache biographische Brechung durch die Erlebnisse der Großmutter, die Berichte der Mutter darüber und die Umarbeitung dieses Materials zum Comic durch die Tochter machten aus der nur siebenseitigen Geschichte ein erzähltechnisches Renommierstück. Und eine Verheißung auf viel mehr.
Jetzt sind es gar 270 Seiten geworden, und Barbara Yelin hat das unmittelbare familiäre Vorbild verfremdet: durch Umbenennung der Beteiligten und den Verzicht auf die ausgefuchste autobiographische Erzählweise der Kurzgeschichte. Wie aber auch schon die Vorstufe von 2010 ist "Irmina" ein ästhetisches Manifest für die Wirkung von Seitenarchitektur: Wenn Yelin mit ihren aquarellierten Bleistiftzeichnungen bisweilen ganze Doppelseiten nutzt, diese aber sowohl als riesige Einzelbilder gestaltet wie auch als ineinanderfließende Sequenzen (am eindrucksvollsten - wie passend! - in einer Bootsfahrt auf der Themse), dann zeigt das deshalb besondere Virtuosität, weil sie ansonsten ein sehr strenges dreireihiges Bildraster beibehält, das nur in dramaturgisch zentralen Momenten durchbrochen wird. Etwa im Falle des Hochzeitsfotos der Titelheldin mit einem NS-Architekten, das in der Mitte einer sonst freien Seite steht, über die sich nur das akustische Leitmotiv dieses Frauenlebens, das hier expressiv groß geletterte Klack-Klack der Schreibmaschine, legt.
Erzählt wird streng chronologisch: Der erste Teil gilt dem London-Aufenthalt, wo sich Irmina als Schreibkraft ausbilden lassen will. Nicht politische Gründe waren entscheidend, dass sie 1935 Deutschland verließ, sondern der Wille, als Frau beruflich auf eigenen Füßen zu stehen (was im Nationalsozialismus allerdings auch nicht gern gesehen wurde). Das Klack-Klack des Tippens ist also ein Emanzipationsausweis, und es ist einer der schönsten Kunstgriffe von Barbara Yelin, dass sie Irmina im zweiten Teil, der zu Kriegszeiten in Deutschland spielt, nach Heirat und Geburt ihres Sohnes in der häuslichen Küche zeigt, wo auch wieder ein Klack-Klack erklingt, aber nun ist es das Geräusch des abgewaschenen Geschirrs. Mit diesem onomatopoetischen Trick macht Yelin das Scheitern von Irminas Idealen ebenso sicht- wie hörbar.
Erster und zweiter Teil sind gleich lang, der dritte dann mit fünfzig Seiten deutlich kürzer. Doch erst er macht aus der bislang vor allem zeit- und kulturhistorisch brisanten Geschichte ein auch psychologisches Meisterwerk. 1983 erreicht die kurz vor der Rente stehende Schulsekretärin Irmina die Einladung des Gouverneurs von Barbados, nach fast einem halben Jahrhundert die alte Londoner Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Die junge Liebe der Deutschen zu dem farbigen Howard wird von Yelin im ersten Teil sehr subtil behandelt, doch natürlich liest man sie vor allem politisch - parallel zur Rassenpolitik der Nazis in Irminas Heimat. Wenn sie nun in Howards Heimat reist, tut sie es eher lustlos, denn der einstige Lebensentwurf scheiterte ja an den zeithistorischen Umständen. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass Howard sie zur Geburtstagsfeier seiner Tochter eingeladen hat, und als sie dort das erste Mal auf die selbstbewusste junge Frau trifft, erfährt sie, dass diese im Angedenken an die so mutige Deutsche der dreißiger Jahre deren Namen trägt: Irmina.
Es ist ein großartiger Moment, bei dem man der deutschen Irmina dabei zusehen kann, wie Stolz und Scham miteinander streiten: Die Irmina aus Barbados verspricht, all das zu werden, was die ältere sich ehedem selbst erträumte. Doch die Chance auf ein anderes Leben hatte sie nur einmal, und so kehrt sie am Schluss auch aus Barbados zurück nach Deutschland. Unter ihren müden Schritten durch die Ankunftshalle legt Barbara Yelin ein letztes Echo des früher so dynamischen Klack-Klack. Jetzt aber liest man nur noch: Schlapp-Schlapp. Gäbe es die Möglichkeit, diese Rezension mit einer Lautmalerei zu verzieren, sie hieße Klatsch-Klatsch.
ANDREAS PLATTHAUS
Barbara Yelin: "Irmina".
Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 188 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die wenigsten Menschen im "Dritten Reich" waren eindeutige Schurken oder Helden, die meisten hielten sich in der Grauzone dazwischen auf, doch auch bei denen, die man klar Gut oder Böse zuordnen konnte, waren es oft Zufälle, die sie zu ihrem Handeln verleiteten, resümiert Christian Staas seine Erkenntnisse aus der Lektüre von Barbara Yelins Comicroman "Irmina". Darin erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Großmutter, die im England der Dreißigerjahre ihren schwarzen Freund gegen Rassismus in Schutz nimmt, bevor sie im Deutschland der Vierzigerjahre als Ehefrau eines schneidigen SS-Architekten die klassische Mitläuferin gibt, fasst der Rezensent zusammen, dem die "aus den hinteren Rängen der Zeitzeugenschaft" erzählte Geschichte eindrücklich wie selten verdeutlicht, was die strapazierte Vokal von der "Verstrickung" in den Nationalsozialismus eigentlich bedeutet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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