Produktdetails
- ISBN-13: 9783838905747
- Artikelnr.: 44241614
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2014Drei Erfahrungen für ein ganzes Leben
Basis ist die Familiengeschichte, doch daraus ist ein Roman über privates und politisches Schicksal geworden: Barbara Yelins Comic "Irmina" ist ein Meisterwerk.
Dass hierzulande nach Mawils phantastischem Comic "Kinderland" (F.A.Z. vom 18. Juni) im selben Jahr etwas Gleichwertiges, ja noch Besseres erscheinen sollte, war nicht zu erwarten. Doch genau das ist geschehen: "Irmina" heißt der neue Band von Barbara Yelin, mit dem die Münchner Zeichnerin alle Erwartungen, die man in sie setzte, übertroffen hat. Diese beiden Bücher werden, gerade weil sie so dicht nacheinander erschienen sind, Epoche machen in der deutschen Comicgeschichte. "Irmina" und "Kinderland" müssen sich vor keiner internationalen Comicproduktion verstecken.
Woran liegt das? Am neuen Rang, der dem Erzählen in Deutschland eingeräumt wird. Jahrelang litten hiesige Comics unter mangelhaften Vorlagen. Das wiederum hatte zwei Gründe: Einerseits verdienten die Comicszenaristen nicht genug Geld, um ausgefeilte Erzählungen schreiben zu können, andererseits verdienten auch die Zeichner nicht genug Geld, so dass sie, wenn sie sich überhaupt den Luxus erlauben konnten, Comics zu machen, die spärliche Zeit, die ihnen dafür blieb, lieber auf die Umsetzung eigener Geschichten verwendeten. Aber ein guter Zeichner ist nicht notwendig ein guter Erzähler - auch wenn Mawil und Barbara Yelin beweisen, dass beides durchaus zusammenkommen kann.
Die Zeichnerin legte vor vier Jahren die erste publizistische Spur zu "Irmina". In der achten Ausgabe der Comiczeichnerinnen-Anthologie "Spring" erschien eine Kurzgeschichte, die auf den Fund alter Fotoalben mit Bildern aus dem London der dreißiger Jahre zurückging. Von Yelins Mutter erfuhr die Zeichnerin, dass ihre bereits verstorbene Großmutter damals eine Ausbildung in England gemacht, sich dort in einen farbigen Austauschstudenten verliebt und diesen erst Jahrzehnte später wiedergetroffen hatte, als er Gouverneur von Barbados geworden war. Die vielfache biographische Brechung durch die Erlebnisse der Großmutter, die Berichte der Mutter darüber und die Umarbeitung dieses Materials zum Comic durch die Tochter machten aus der nur siebenseitigen Geschichte ein erzähltechnisches Renommierstück. Und eine Verheißung auf viel mehr.
Jetzt sind es gar 270 Seiten geworden, und Barbara Yelin hat das unmittelbare familiäre Vorbild verfremdet: durch Umbenennung der Beteiligten und den Verzicht auf die ausgefuchste autobiographische Erzählweise der Kurzgeschichte. Wie aber auch schon die Vorstufe von 2010 ist "Irmina" ein ästhetisches Manifest für die Wirkung von Seitenarchitektur: Wenn Yelin mit ihren aquarellierten Bleistiftzeichnungen bisweilen ganze Doppelseiten nutzt, diese aber sowohl als riesige Einzelbilder gestaltet wie auch als ineinanderfließende Sequenzen (am eindrucksvollsten - wie passend! - in einer Bootsfahrt auf der Themse), dann zeigt das deshalb besondere Virtuosität, weil sie ansonsten ein sehr strenges dreireihiges Bildraster beibehält, das nur in dramaturgisch zentralen Momenten durchbrochen wird. Etwa im Falle des Hochzeitsfotos der Titelheldin mit einem NS-Architekten, das in der Mitte einer sonst freien Seite steht, über die sich nur das akustische Leitmotiv dieses Frauenlebens, das hier expressiv groß geletterte Klack-Klack der Schreibmaschine, legt.
Erzählt wird streng chronologisch: Der erste Teil gilt dem London-Aufenthalt, wo sich Irmina als Schreibkraft ausbilden lassen will. Nicht politische Gründe waren entscheidend, dass sie 1935 Deutschland verließ, sondern der Wille, als Frau beruflich auf eigenen Füßen zu stehen (was im Nationalsozialismus allerdings auch nicht gern gesehen wurde). Das Klack-Klack des Tippens ist also ein Emanzipationsausweis, und es ist einer der schönsten Kunstgriffe von Barbara Yelin, dass sie Irmina im zweiten Teil, der zu Kriegszeiten in Deutschland spielt, nach Heirat und Geburt ihres Sohnes in der häuslichen Küche zeigt, wo auch wieder ein Klack-Klack erklingt, aber nun ist es das Geräusch des abgewaschenen Geschirrs. Mit diesem onomatopoetischen Trick macht Yelin das Scheitern von Irminas Idealen ebenso sicht- wie hörbar.
Erster und zweiter Teil sind gleich lang, der dritte dann mit fünfzig Seiten deutlich kürzer. Doch erst er macht aus der bislang vor allem zeit- und kulturhistorisch brisanten Geschichte ein auch psychologisches Meisterwerk. 1983 erreicht die kurz vor der Rente stehende Schulsekretärin Irmina die Einladung des Gouverneurs von Barbados, nach fast einem halben Jahrhundert die alte Londoner Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Die junge Liebe der Deutschen zu dem farbigen Howard wird von Yelin im ersten Teil sehr subtil behandelt, doch natürlich liest man sie vor allem politisch - parallel zur Rassenpolitik der Nazis in Irminas Heimat. Wenn sie nun in Howards Heimat reist, tut sie es eher lustlos, denn der einstige Lebensentwurf scheiterte ja an den zeithistorischen Umständen. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass Howard sie zur Geburtstagsfeier seiner Tochter eingeladen hat, und als sie dort das erste Mal auf die selbstbewusste junge Frau trifft, erfährt sie, dass diese im Angedenken an die so mutige Deutsche der dreißiger Jahre deren Namen trägt: Irmina.
Es ist ein großartiger Moment, bei dem man der deutschen Irmina dabei zusehen kann, wie Stolz und Scham miteinander streiten: Die Irmina aus Barbados verspricht, all das zu werden, was die ältere sich ehedem selbst erträumte. Doch die Chance auf ein anderes Leben hatte sie nur einmal, und so kehrt sie am Schluss auch aus Barbados zurück nach Deutschland. Unter ihren müden Schritten durch die Ankunftshalle legt Barbara Yelin ein letztes Echo des früher so dynamischen Klack-Klack. Jetzt aber liest man nur noch: Schlapp-Schlapp. Gäbe es die Möglichkeit, diese Rezension mit einer Lautmalerei zu verzieren, sie hieße Klatsch-Klatsch.
ANDREAS PLATTHAUS
Barbara Yelin: "Irmina".
Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 188 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Basis ist die Familiengeschichte, doch daraus ist ein Roman über privates und politisches Schicksal geworden: Barbara Yelins Comic "Irmina" ist ein Meisterwerk.
Dass hierzulande nach Mawils phantastischem Comic "Kinderland" (F.A.Z. vom 18. Juni) im selben Jahr etwas Gleichwertiges, ja noch Besseres erscheinen sollte, war nicht zu erwarten. Doch genau das ist geschehen: "Irmina" heißt der neue Band von Barbara Yelin, mit dem die Münchner Zeichnerin alle Erwartungen, die man in sie setzte, übertroffen hat. Diese beiden Bücher werden, gerade weil sie so dicht nacheinander erschienen sind, Epoche machen in der deutschen Comicgeschichte. "Irmina" und "Kinderland" müssen sich vor keiner internationalen Comicproduktion verstecken.
Woran liegt das? Am neuen Rang, der dem Erzählen in Deutschland eingeräumt wird. Jahrelang litten hiesige Comics unter mangelhaften Vorlagen. Das wiederum hatte zwei Gründe: Einerseits verdienten die Comicszenaristen nicht genug Geld, um ausgefeilte Erzählungen schreiben zu können, andererseits verdienten auch die Zeichner nicht genug Geld, so dass sie, wenn sie sich überhaupt den Luxus erlauben konnten, Comics zu machen, die spärliche Zeit, die ihnen dafür blieb, lieber auf die Umsetzung eigener Geschichten verwendeten. Aber ein guter Zeichner ist nicht notwendig ein guter Erzähler - auch wenn Mawil und Barbara Yelin beweisen, dass beides durchaus zusammenkommen kann.
Die Zeichnerin legte vor vier Jahren die erste publizistische Spur zu "Irmina". In der achten Ausgabe der Comiczeichnerinnen-Anthologie "Spring" erschien eine Kurzgeschichte, die auf den Fund alter Fotoalben mit Bildern aus dem London der dreißiger Jahre zurückging. Von Yelins Mutter erfuhr die Zeichnerin, dass ihre bereits verstorbene Großmutter damals eine Ausbildung in England gemacht, sich dort in einen farbigen Austauschstudenten verliebt und diesen erst Jahrzehnte später wiedergetroffen hatte, als er Gouverneur von Barbados geworden war. Die vielfache biographische Brechung durch die Erlebnisse der Großmutter, die Berichte der Mutter darüber und die Umarbeitung dieses Materials zum Comic durch die Tochter machten aus der nur siebenseitigen Geschichte ein erzähltechnisches Renommierstück. Und eine Verheißung auf viel mehr.
Jetzt sind es gar 270 Seiten geworden, und Barbara Yelin hat das unmittelbare familiäre Vorbild verfremdet: durch Umbenennung der Beteiligten und den Verzicht auf die ausgefuchste autobiographische Erzählweise der Kurzgeschichte. Wie aber auch schon die Vorstufe von 2010 ist "Irmina" ein ästhetisches Manifest für die Wirkung von Seitenarchitektur: Wenn Yelin mit ihren aquarellierten Bleistiftzeichnungen bisweilen ganze Doppelseiten nutzt, diese aber sowohl als riesige Einzelbilder gestaltet wie auch als ineinanderfließende Sequenzen (am eindrucksvollsten - wie passend! - in einer Bootsfahrt auf der Themse), dann zeigt das deshalb besondere Virtuosität, weil sie ansonsten ein sehr strenges dreireihiges Bildraster beibehält, das nur in dramaturgisch zentralen Momenten durchbrochen wird. Etwa im Falle des Hochzeitsfotos der Titelheldin mit einem NS-Architekten, das in der Mitte einer sonst freien Seite steht, über die sich nur das akustische Leitmotiv dieses Frauenlebens, das hier expressiv groß geletterte Klack-Klack der Schreibmaschine, legt.
Erzählt wird streng chronologisch: Der erste Teil gilt dem London-Aufenthalt, wo sich Irmina als Schreibkraft ausbilden lassen will. Nicht politische Gründe waren entscheidend, dass sie 1935 Deutschland verließ, sondern der Wille, als Frau beruflich auf eigenen Füßen zu stehen (was im Nationalsozialismus allerdings auch nicht gern gesehen wurde). Das Klack-Klack des Tippens ist also ein Emanzipationsausweis, und es ist einer der schönsten Kunstgriffe von Barbara Yelin, dass sie Irmina im zweiten Teil, der zu Kriegszeiten in Deutschland spielt, nach Heirat und Geburt ihres Sohnes in der häuslichen Küche zeigt, wo auch wieder ein Klack-Klack erklingt, aber nun ist es das Geräusch des abgewaschenen Geschirrs. Mit diesem onomatopoetischen Trick macht Yelin das Scheitern von Irminas Idealen ebenso sicht- wie hörbar.
Erster und zweiter Teil sind gleich lang, der dritte dann mit fünfzig Seiten deutlich kürzer. Doch erst er macht aus der bislang vor allem zeit- und kulturhistorisch brisanten Geschichte ein auch psychologisches Meisterwerk. 1983 erreicht die kurz vor der Rente stehende Schulsekretärin Irmina die Einladung des Gouverneurs von Barbados, nach fast einem halben Jahrhundert die alte Londoner Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Die junge Liebe der Deutschen zu dem farbigen Howard wird von Yelin im ersten Teil sehr subtil behandelt, doch natürlich liest man sie vor allem politisch - parallel zur Rassenpolitik der Nazis in Irminas Heimat. Wenn sie nun in Howards Heimat reist, tut sie es eher lustlos, denn der einstige Lebensentwurf scheiterte ja an den zeithistorischen Umständen. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass Howard sie zur Geburtstagsfeier seiner Tochter eingeladen hat, und als sie dort das erste Mal auf die selbstbewusste junge Frau trifft, erfährt sie, dass diese im Angedenken an die so mutige Deutsche der dreißiger Jahre deren Namen trägt: Irmina.
Es ist ein großartiger Moment, bei dem man der deutschen Irmina dabei zusehen kann, wie Stolz und Scham miteinander streiten: Die Irmina aus Barbados verspricht, all das zu werden, was die ältere sich ehedem selbst erträumte. Doch die Chance auf ein anderes Leben hatte sie nur einmal, und so kehrt sie am Schluss auch aus Barbados zurück nach Deutschland. Unter ihren müden Schritten durch die Ankunftshalle legt Barbara Yelin ein letztes Echo des früher so dynamischen Klack-Klack. Jetzt aber liest man nur noch: Schlapp-Schlapp. Gäbe es die Möglichkeit, diese Rezension mit einer Lautmalerei zu verzieren, sie hieße Klatsch-Klatsch.
ANDREAS PLATTHAUS
Barbara Yelin: "Irmina".
Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 188 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2014Das Nazifräulein
Barbara Yelin riskiert viel mit „Irmina“. Ihre Graphic Novel zeichnet das differenzierte Porträt
einer Mitläuferin im Dritten Reich. Sympathisieren beim Lesen nicht ausgeschlossen!
VON THOMAS VON STEINAECKER
Nachdrücklich hat sich der Comic in den vergangenen Jahren dem Thema des Holocausts gewidmet. Ja, vielleicht gibt es kein Medium, das so etwas Unvorstellbares wie die Judenvernichtung adäquater schildert als die Neunte Kunst. Das verdankt sich einem ebenso erschreckenden wie simplen Umstand: Es existieren fast keine Fotos, geschweige denn Filme aus Konzentrationslagern vor ihrer Befreiung; der Comic hingegen vermag Dinge zu zeigen, zu denen es keine konkreten Vorlagen gibt, und kann dabei trotzdem höchst dokumentarisch sein, indem er sich bei seiner Visualisierung auf Berichte und Fakten stützt. Zugleich trägt er immer sein eigenes Gemachtsein und damit seine Unzulänglichkeit offen zur Schau: Alles, was hier passiert, findet unter dem Vorbehalt statt, dass es „der Wirklichkeit“ nie ganz gerecht werden kann.
Auf der anderen Seite gehört zwar der Nazi zur festen Größe in der deutschen Fernsehunterhaltung und im Hollywood-Film und existieren Tonnen von Filmmaterial der Führungselite des Dritten Reichs, das wieder und wieder neu aufbereitet wird; gezeichnete Werke mit einem Nazi als Hauptfigur sind aber selten. Der die Hacken zusammenschlagende, „Sieg Heil“ brüllende Fanatiker taugt eben in einem Medium, das ohnehin karikaturhaft ist, eher als böser Gegner von Superhelden denn als ausdifferenziertes menschliches Wesen. Und was für eine Herausforderung wäre das auch: einen Nationalsozialisten als mehrdimensionalen Charakter zu zeigen, mit dem man womöglich hier und da sogar sympathisieren kann. Dahinter ständen dann weitaus größere Fragen wie: Woher kommt das Böse? Gibt es Rettung?
Insofern hat sich Barbara Yelin in ihrer zweiten Graphic Novel mit dem Porträt einer Mitläuferin im Dritten Reich eine denkbar schwierige Aufgabe gestellt. Die 19-jährige Irmina wird von ihren Eltern 1934 zur Ausbildung als Fremdsprachensekretärin nach London geschickt. In den gehobenen Kreisen, die mit ihrem spätherbstlichen Snobismus ein Hauch von „Downton Abbey“ durchweht, trifft sie jemanden, der genauso geduldet und zugleich geächtet wird wie sie selbst als junge selbstbewusste Frau aus Deutschland: den hochintelligenten Howard, einen Schwarzen aus der Karibik, der mit einem Stipendium in Oxford studiert. Die beiden verlieben sich ineinander. Doch weil ihre Familie Geldprobleme hat, muss das „Nazifräulein“, wie sie zu ihrem großen Missfallen genannt wird, zurück. Als Sekretärin im Rüstungsministerium schmiedet sie umgehend Pläne, wieder nach London und zu Howard zu ziehen. Aber in den Wirren der Nazizeit verlieren sich die beiden aus den Augen, und die Tür zu dem Leben, das für Momente möglich schien, schließt sich für immer.
Irmina heiratet Gregor, Architekt und glühender Nazi, der von der monumentalen Umgestaltung Berlins träumt, bekommt ein Kind und wandelt sich zu einer hartherzigen verblendeten Frau. Im Kampf ums Überleben ist es ihr egal, dass ihre jüdischen Nachbarn deportiert werden. Dennoch endet das Buch versöhnlich. Der dritte Teil, der 1983 spielt, hält für die alte Irmina eine märchenhafte, gleichwohl glaubwürdige Wendung parat.
Barbara Yelin begibt sich in diese Geschichte mit vollem Risiko. Zwar handelt es sich, wie sie in einer Vorbemerkung schreibt, um eine wahre Begebenheit aus ihrer eigenen Familie, doch das Buch wird nie, wie bei vergleichbaren historischen Werken, von metafiktionalen Sicherheitsnetzen à la „vielleicht war es auch ganz anders“ oder einer reflektierenden Ebene in der Gegenwart durchzogen. „Irmina“ ist ein ganz und gar episches Werk mit einem im Comic selten anzutreffenden langen Atem, zudem klassisch erzählt, mit pointierten Dialogen und damit am ehesten mit einem Gesellschaftsroman des Realismus vergleichbar. Anders als ihre Kollegin Ulli Lust, die sich in ihrer Roman-Adaption „Flughunde“ einen ähnlichen Zeitraum zum Thema nahm, dabei aber das Grauen in grellen Farben ausmalte, setzt Yelin buchstäblich auf dezente Farben. Als Irmina und Howard zum ersten Mal die Nacht miteinander verbringen, entfernen wir uns behutsam vom Ort des Geschehens; subtil werden Metaphern eingeflochten, etwa wenn während Irminas Heimreise von London ein Passagier zu ihr meint, endlich kehre man wieder ins fortschrittliche Deutschland zurück und der Rückwärtszoom das genaue Gegenteil suggeriert.
Nur zu gerne würde man dieser wunderbar romantischen, sehr poetisch erzählten Geschichte einer emanzipierten Frau und ihres schwarzen Lovers weiter folgen, Happy End inklusive. Deshalb trifft es den Leser umso härter, wenn Irmina im zweiten Teil all ihre Ideale über Bord zu werfen beginnt. Genau bei diesem entscheidenden Punkt setzt die Autorin auf Ellipsen und Zeitsprünge. So bleibt zwar vieles der Einbildung des Lesers überlassen; am Ende wird aber dennoch nicht so recht nachvollziehbar, wie sich Irmina, die bis dahin mit ihrem Drang nach Selbstbestimmung und Freiheit sehr heutig wirkte, innerhalb weniger Seiten in die Rolle des Heimchens am Herd fügen kann. Zumal es Yelin wie schon Ulli Lust nicht ganz gelingt, der Figur des parolenklopfenden Nazis neue Facetten abzugewinnen und in Gregor einen Charakter jenseits des Klischees zu zeichnen.
Es ist der einzige Makel dieser Geschichte, die in der bedrückend ausgemalten Flucht Irminas aufs Land endet, um dann im rührenden letzten Kapitel der alt gewordenen Protagonistin poetische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie sich hier das Buch auch farblich aufhellt, beweist, was für eine Ausnahmezeichnerin Yelin ist. Ob die doppelseitigen Ansichten so unterschiedlicher Orte wie London, Stuttgart, Berlin oder Barbados, kleine zwischenmenschliche Episoden, die ohne festen Rahmen wiedergegeben werden und dabei skizzenhaften Charakter bekommen: Yelins Blei- und Buntstiftzeichnungen sind schlichtweg meisterhaft. Und auch wenn „Irmina“ im entscheidenden Punkt seiner Charakterzeichnung schwächelt; zwischen den vielen kurzatmig erzählten Alltagsgeschichten, Promi-Biografien, Weltliteratur-Adaptionen und Reportagen, die den Comic-Markt hierzulande dominieren, ist „Irmina“ nicht nur eine Graphic Novel über ein außergewöhnliches, unbequemes Thema, sondern auch über eine starke Frau von einer der wichtigsten Comic-Künstlerinnen ihrer Generation.
Barbara Yelin: Irmina. Graphic Novel. Reprodukt, Berlin 2014. 288 Seiten, 39 Euro.
Nur die Figur des parolen-
klopfenden Nazis kann
keine neuen Facetten gewinnen
Nebelgrau sind die Bilder aus England grundiert, aber mit leuchtenden
Farbakzenten: Irmina und Howard. Abb. aus dem bespr. Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Barbara Yelin riskiert viel mit „Irmina“. Ihre Graphic Novel zeichnet das differenzierte Porträt
einer Mitläuferin im Dritten Reich. Sympathisieren beim Lesen nicht ausgeschlossen!
VON THOMAS VON STEINAECKER
Nachdrücklich hat sich der Comic in den vergangenen Jahren dem Thema des Holocausts gewidmet. Ja, vielleicht gibt es kein Medium, das so etwas Unvorstellbares wie die Judenvernichtung adäquater schildert als die Neunte Kunst. Das verdankt sich einem ebenso erschreckenden wie simplen Umstand: Es existieren fast keine Fotos, geschweige denn Filme aus Konzentrationslagern vor ihrer Befreiung; der Comic hingegen vermag Dinge zu zeigen, zu denen es keine konkreten Vorlagen gibt, und kann dabei trotzdem höchst dokumentarisch sein, indem er sich bei seiner Visualisierung auf Berichte und Fakten stützt. Zugleich trägt er immer sein eigenes Gemachtsein und damit seine Unzulänglichkeit offen zur Schau: Alles, was hier passiert, findet unter dem Vorbehalt statt, dass es „der Wirklichkeit“ nie ganz gerecht werden kann.
Auf der anderen Seite gehört zwar der Nazi zur festen Größe in der deutschen Fernsehunterhaltung und im Hollywood-Film und existieren Tonnen von Filmmaterial der Führungselite des Dritten Reichs, das wieder und wieder neu aufbereitet wird; gezeichnete Werke mit einem Nazi als Hauptfigur sind aber selten. Der die Hacken zusammenschlagende, „Sieg Heil“ brüllende Fanatiker taugt eben in einem Medium, das ohnehin karikaturhaft ist, eher als böser Gegner von Superhelden denn als ausdifferenziertes menschliches Wesen. Und was für eine Herausforderung wäre das auch: einen Nationalsozialisten als mehrdimensionalen Charakter zu zeigen, mit dem man womöglich hier und da sogar sympathisieren kann. Dahinter ständen dann weitaus größere Fragen wie: Woher kommt das Böse? Gibt es Rettung?
Insofern hat sich Barbara Yelin in ihrer zweiten Graphic Novel mit dem Porträt einer Mitläuferin im Dritten Reich eine denkbar schwierige Aufgabe gestellt. Die 19-jährige Irmina wird von ihren Eltern 1934 zur Ausbildung als Fremdsprachensekretärin nach London geschickt. In den gehobenen Kreisen, die mit ihrem spätherbstlichen Snobismus ein Hauch von „Downton Abbey“ durchweht, trifft sie jemanden, der genauso geduldet und zugleich geächtet wird wie sie selbst als junge selbstbewusste Frau aus Deutschland: den hochintelligenten Howard, einen Schwarzen aus der Karibik, der mit einem Stipendium in Oxford studiert. Die beiden verlieben sich ineinander. Doch weil ihre Familie Geldprobleme hat, muss das „Nazifräulein“, wie sie zu ihrem großen Missfallen genannt wird, zurück. Als Sekretärin im Rüstungsministerium schmiedet sie umgehend Pläne, wieder nach London und zu Howard zu ziehen. Aber in den Wirren der Nazizeit verlieren sich die beiden aus den Augen, und die Tür zu dem Leben, das für Momente möglich schien, schließt sich für immer.
Irmina heiratet Gregor, Architekt und glühender Nazi, der von der monumentalen Umgestaltung Berlins träumt, bekommt ein Kind und wandelt sich zu einer hartherzigen verblendeten Frau. Im Kampf ums Überleben ist es ihr egal, dass ihre jüdischen Nachbarn deportiert werden. Dennoch endet das Buch versöhnlich. Der dritte Teil, der 1983 spielt, hält für die alte Irmina eine märchenhafte, gleichwohl glaubwürdige Wendung parat.
Barbara Yelin begibt sich in diese Geschichte mit vollem Risiko. Zwar handelt es sich, wie sie in einer Vorbemerkung schreibt, um eine wahre Begebenheit aus ihrer eigenen Familie, doch das Buch wird nie, wie bei vergleichbaren historischen Werken, von metafiktionalen Sicherheitsnetzen à la „vielleicht war es auch ganz anders“ oder einer reflektierenden Ebene in der Gegenwart durchzogen. „Irmina“ ist ein ganz und gar episches Werk mit einem im Comic selten anzutreffenden langen Atem, zudem klassisch erzählt, mit pointierten Dialogen und damit am ehesten mit einem Gesellschaftsroman des Realismus vergleichbar. Anders als ihre Kollegin Ulli Lust, die sich in ihrer Roman-Adaption „Flughunde“ einen ähnlichen Zeitraum zum Thema nahm, dabei aber das Grauen in grellen Farben ausmalte, setzt Yelin buchstäblich auf dezente Farben. Als Irmina und Howard zum ersten Mal die Nacht miteinander verbringen, entfernen wir uns behutsam vom Ort des Geschehens; subtil werden Metaphern eingeflochten, etwa wenn während Irminas Heimreise von London ein Passagier zu ihr meint, endlich kehre man wieder ins fortschrittliche Deutschland zurück und der Rückwärtszoom das genaue Gegenteil suggeriert.
Nur zu gerne würde man dieser wunderbar romantischen, sehr poetisch erzählten Geschichte einer emanzipierten Frau und ihres schwarzen Lovers weiter folgen, Happy End inklusive. Deshalb trifft es den Leser umso härter, wenn Irmina im zweiten Teil all ihre Ideale über Bord zu werfen beginnt. Genau bei diesem entscheidenden Punkt setzt die Autorin auf Ellipsen und Zeitsprünge. So bleibt zwar vieles der Einbildung des Lesers überlassen; am Ende wird aber dennoch nicht so recht nachvollziehbar, wie sich Irmina, die bis dahin mit ihrem Drang nach Selbstbestimmung und Freiheit sehr heutig wirkte, innerhalb weniger Seiten in die Rolle des Heimchens am Herd fügen kann. Zumal es Yelin wie schon Ulli Lust nicht ganz gelingt, der Figur des parolenklopfenden Nazis neue Facetten abzugewinnen und in Gregor einen Charakter jenseits des Klischees zu zeichnen.
Es ist der einzige Makel dieser Geschichte, die in der bedrückend ausgemalten Flucht Irminas aufs Land endet, um dann im rührenden letzten Kapitel der alt gewordenen Protagonistin poetische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie sich hier das Buch auch farblich aufhellt, beweist, was für eine Ausnahmezeichnerin Yelin ist. Ob die doppelseitigen Ansichten so unterschiedlicher Orte wie London, Stuttgart, Berlin oder Barbados, kleine zwischenmenschliche Episoden, die ohne festen Rahmen wiedergegeben werden und dabei skizzenhaften Charakter bekommen: Yelins Blei- und Buntstiftzeichnungen sind schlichtweg meisterhaft. Und auch wenn „Irmina“ im entscheidenden Punkt seiner Charakterzeichnung schwächelt; zwischen den vielen kurzatmig erzählten Alltagsgeschichten, Promi-Biografien, Weltliteratur-Adaptionen und Reportagen, die den Comic-Markt hierzulande dominieren, ist „Irmina“ nicht nur eine Graphic Novel über ein außergewöhnliches, unbequemes Thema, sondern auch über eine starke Frau von einer der wichtigsten Comic-Künstlerinnen ihrer Generation.
Barbara Yelin: Irmina. Graphic Novel. Reprodukt, Berlin 2014. 288 Seiten, 39 Euro.
Nur die Figur des parolen-
klopfenden Nazis kann
keine neuen Facetten gewinnen
Nebelgrau sind die Bilder aus England grundiert, aber mit leuchtenden
Farbakzenten: Irmina und Howard. Abb. aus dem bespr. Band
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die wenigsten Menschen im "Dritten Reich" waren eindeutige Schurken oder Helden, die meisten hielten sich in der Grauzone dazwischen auf, doch auch bei denen, die man klar Gut oder Böse zuordnen konnte, waren es oft Zufälle, die sie zu ihrem Handeln verleiteten, resümiert Christian Staas seine Erkenntnisse aus der Lektüre von Barbara Yelins Comicroman "Irmina". Darin erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Großmutter, die im England der Dreißigerjahre ihren schwarzen Freund gegen Rassismus in Schutz nimmt, bevor sie im Deutschland der Vierzigerjahre als Ehefrau eines schneidigen SS-Architekten die klassische Mitläuferin gibt, fasst der Rezensent zusammen, dem die "aus den hinteren Rängen der Zeitzeugenschaft" erzählte Geschichte eindrücklich wie selten verdeutlicht, was die strapazierte Vokal von der "Verstrickung" in den Nationalsozialismus eigentlich bedeutet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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