Ein schüchterner Neunzehnjähriger, Dienst in der Psychiatrie; überraschend langweilige Psychosen, echte Risiken und Elektroschocks. Und dann kommt Anne Schmidt auf die Station. Die Patientin ist gefährlich wie ein Sturm, aber sie zieht den jungen Pfleger in ihren Bann. Es sind die Tage der Tschernobyl-Katastrophe im April 1986, da läuft Anne bei einem Spaziergang davon. Als der Junge sie einfängt, fleht sie ihn an, sie laufen zu lassen, beschwört in seinen Armen ihre Genesung. Gegen alle Regeln lässt er sie gehen, um sie gleich am Abend wiederzusehen. Der kurze Frühling ihrer verbotenen Liebe beginnt.
Markus Berges erzählt von der Freiheit und ihren Exzessen, vom Jungsein als dem Ort des ersten, größten Glücks - und dessen Preis.
Markus Berges erzählt von der Freiheit und ihren Exzessen, vom Jungsein als dem Ort des ersten, größten Glücks - und dessen Preis.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Peter Unfried ist froh, dass ihm mit Markus Berges' Roman über seine Jugend kein typischer 80er-Jahre-Verschnitt begegnet. Zwar spielt das Buch im Tschernobyl-Jahr 1986 und kommen gewisse popkulturelle Marker des Jahrzehnts (bzw. "Grusel-Elemente" wie der Mike Krüger-Song "Der Nippel") vor, aber eben sparsam, und überhaupt scheint der Autor und Erdmöbel-Leadsänger ein gutes Gespür für die Balance zwischen Zeitgeschichte und einer "normalen" Teenager-Geschichte zu haben, vermittelt Unfried. So gehe es um Tschernobyl etwa nur insofern, als der 19-jährige Protagonist sich in seinem sozialen Jahr in einer Psychiatrie in eine Paientin verliebt, die der Wahnvorstellung eines "totalitären Atomstaates" unterliegt. Spannend findet der Kritiker auch, dass Berges beim Recherchieren feststellte, dass sein Freundeskreis sich wohl deutlich weniger an prägende Details, etwa sein jugendliches Dicksein erinnerte, wie Unfried beim Interview mit dem Autor erfährt. Ob es sich am Ende vielleicht doch um "Boomer-Literatur" handelt, lässt er am Schluss als Frage im Raum stehen - er selbst scheint dem Buch nichtsdestotrotz einiges abgewinnen zu können: eine gute Geschichte, ein "tiefergelegtes gutes Ende" und auch "große Gefühle" ohne Kitsch.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.02.2024Flucht aus dem Partykeller
Ein Psychiatrieroman von Markus Berges: "Irre Wolken"
"Er liebte Bassläufe, die zu spielen er technisch nicht in der Lage war. Er spielte sie trotzdem." In diesem Ton ist das Setting eines Adoleszenzromans aus den Achtzigerjahren schnell umrissen, es geht - natürlich, möchte man fast sagen - um "Landjugend", wie eine Kapitelüberschrift verrät, und damit wird der Untertitel von Heinz Strunks Erfolgsroman "Fleisch ist mein Gemüse" anzitiert, der bekanntlich lautete: "Eine Landjugend mit Musik".
Hier findet sie nur in einer etwas anderen Gegend statt, im Münsterland nahe der Grenze zu Holland, und die Band, um die es geht, ist keine Showband für Schlager, sondern möchte progressiven Rock im Stil von King Crimson spielen. Ganz so weit ist die Combo mit dem anspruchsvollen Namen "Het Amalfi Tigers" und dem besagten Bassisten namens Katze, der ein Hundehalsband trägt, noch nicht; ihre erste Tournee nach Holland in einem alten Kastenwagen ohne Heizung scheitert spektakulär, und am Ende des Romans ist auch die Band am Ende.
Aber die Musik ist nicht die Hauptsache in diesem dritten Roman von Markus Berges, der 1966 in Telgte geboren wurde und vielen vor allem als Sänger der tatsächlich existierenden Band namens Erdmöbel bekannt sein könnte. Nach den spielerischen Romanen "Ein langer Brief an September Nowak" und "Die Köchin von Bob Dylan" scheint "Irre Wolken" näher an der Realität und auch an Selbsterlebtem: Denn wie der Protagonist und Erzähler hat auch Berges sein freiwilliges soziales Jahr auf einer westfälischen Psychiatriestation gemacht. Erdmöbel-Kennern wird der Stoff vielleicht sogar schon bekannt sein: nämlich aus dem erzählerischen Lied "Busfahrt", in dem die "Station Johannes" schon vor Jahren vorkam. War das Lied aber noch vor allem die Erinnerung an eine Pflegerin, geht es im Roman nun viel mehr um eine Patientin, und zwar eine solche mit "Krankheitseinsicht".
Diese Anne hat psychotische Schübe und ist sich darüber selbst im Klaren. Ihr analytischer Blick auf sich selbst und ihre "Wahninhalte", darunter die Herrschaft einer globalen "Atom-Mafia", bewahrt sie dennoch nicht vor Ausbrüchen wie jenem, bei dem sie ein Zimmer zerlegt und einem Arzt beinahe mit einem Wasserhahn "den Schädel eingeschlagen" hätte.
Der Erzähler, ein übergewichtiger Neunzehnjähriger, verliebt sich in seine Patientin, obwohl die am liebsten Supertramp hört. Mit leichtem Humor macht Berges aus dieser unmöglichen Beziehung erzählerisch zumindest ein kurzes Glück, eingebettet in eine dramatische Weltlage: Der abermalige Ausbruch Annes - diesmal im Sinne von Flucht - wird im Roman enggeführt mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die die westfälische Provinz zunächst allerdings nur mäßig erschüttert: Aufs Jägerschnitzel kommen hier ohnehin nur Dosenpilze, keine frischen.
Erschütternd ist für den Erzähler allerdings der heimliche Kontakt mit der jungen Frau, in der er viel mehr seine Retterin sieht als die Gefährdete, die sie ist: Bei nächtlichen Treffen im Wald kommen sie sich näher, während er der Klinikleitung, die Anne bereits suchen lässt, verschweigt, wo sie sich aufhält.
Das Genre des Psychiatrieromans erfindet Markus Berges mit seinem Buch zwar auch nicht neu; dessen Qualitäten liegen dafür vielmehr im abenteuerlich geschilderten Durchbrennen des selbst noch wackelig im Leben stehenden Erzählers mit der Patientin, die für ihn vor allem eines ist: seine erste große Liebe. Und bevor die Wirklichkeit am Ende auch den Erzähler wieder einholt, flüchtet man gern mit ihm für eine kurze Zeit aus der Landjugend mit ihren Bierfesten, aus dem Partykellergefühl im Haus seiner Eltern, aus der Realität der geschlossenen Psychiatrie, in der man auf den Triumph der Psychopharmakologie hofft.
Aber in den Feldern hinter der Schranke des Klinikgeländes, wo keiner das ungewöhnliche Paar ausbüchsen sieht, unter einem etwas zu schönen Himmel und zu Sam Cookes "Wonderful World" schwebt man gern mit dem Erzähler des Romans in seiner "Annewolke" und träumt, während die beiden an der Ems zelten und morgens im Fluss baden, vom Mississippi und der großen weiten Welt, ehe sie wieder so klein werden muss, wie sie ist. JAN WIELE
Markus Berges: "Irre Wolken". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2024.
288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Psychiatrieroman von Markus Berges: "Irre Wolken"
"Er liebte Bassläufe, die zu spielen er technisch nicht in der Lage war. Er spielte sie trotzdem." In diesem Ton ist das Setting eines Adoleszenzromans aus den Achtzigerjahren schnell umrissen, es geht - natürlich, möchte man fast sagen - um "Landjugend", wie eine Kapitelüberschrift verrät, und damit wird der Untertitel von Heinz Strunks Erfolgsroman "Fleisch ist mein Gemüse" anzitiert, der bekanntlich lautete: "Eine Landjugend mit Musik".
Hier findet sie nur in einer etwas anderen Gegend statt, im Münsterland nahe der Grenze zu Holland, und die Band, um die es geht, ist keine Showband für Schlager, sondern möchte progressiven Rock im Stil von King Crimson spielen. Ganz so weit ist die Combo mit dem anspruchsvollen Namen "Het Amalfi Tigers" und dem besagten Bassisten namens Katze, der ein Hundehalsband trägt, noch nicht; ihre erste Tournee nach Holland in einem alten Kastenwagen ohne Heizung scheitert spektakulär, und am Ende des Romans ist auch die Band am Ende.
Aber die Musik ist nicht die Hauptsache in diesem dritten Roman von Markus Berges, der 1966 in Telgte geboren wurde und vielen vor allem als Sänger der tatsächlich existierenden Band namens Erdmöbel bekannt sein könnte. Nach den spielerischen Romanen "Ein langer Brief an September Nowak" und "Die Köchin von Bob Dylan" scheint "Irre Wolken" näher an der Realität und auch an Selbsterlebtem: Denn wie der Protagonist und Erzähler hat auch Berges sein freiwilliges soziales Jahr auf einer westfälischen Psychiatriestation gemacht. Erdmöbel-Kennern wird der Stoff vielleicht sogar schon bekannt sein: nämlich aus dem erzählerischen Lied "Busfahrt", in dem die "Station Johannes" schon vor Jahren vorkam. War das Lied aber noch vor allem die Erinnerung an eine Pflegerin, geht es im Roman nun viel mehr um eine Patientin, und zwar eine solche mit "Krankheitseinsicht".
Diese Anne hat psychotische Schübe und ist sich darüber selbst im Klaren. Ihr analytischer Blick auf sich selbst und ihre "Wahninhalte", darunter die Herrschaft einer globalen "Atom-Mafia", bewahrt sie dennoch nicht vor Ausbrüchen wie jenem, bei dem sie ein Zimmer zerlegt und einem Arzt beinahe mit einem Wasserhahn "den Schädel eingeschlagen" hätte.
Der Erzähler, ein übergewichtiger Neunzehnjähriger, verliebt sich in seine Patientin, obwohl die am liebsten Supertramp hört. Mit leichtem Humor macht Berges aus dieser unmöglichen Beziehung erzählerisch zumindest ein kurzes Glück, eingebettet in eine dramatische Weltlage: Der abermalige Ausbruch Annes - diesmal im Sinne von Flucht - wird im Roman enggeführt mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die die westfälische Provinz zunächst allerdings nur mäßig erschüttert: Aufs Jägerschnitzel kommen hier ohnehin nur Dosenpilze, keine frischen.
Erschütternd ist für den Erzähler allerdings der heimliche Kontakt mit der jungen Frau, in der er viel mehr seine Retterin sieht als die Gefährdete, die sie ist: Bei nächtlichen Treffen im Wald kommen sie sich näher, während er der Klinikleitung, die Anne bereits suchen lässt, verschweigt, wo sie sich aufhält.
Das Genre des Psychiatrieromans erfindet Markus Berges mit seinem Buch zwar auch nicht neu; dessen Qualitäten liegen dafür vielmehr im abenteuerlich geschilderten Durchbrennen des selbst noch wackelig im Leben stehenden Erzählers mit der Patientin, die für ihn vor allem eines ist: seine erste große Liebe. Und bevor die Wirklichkeit am Ende auch den Erzähler wieder einholt, flüchtet man gern mit ihm für eine kurze Zeit aus der Landjugend mit ihren Bierfesten, aus dem Partykellergefühl im Haus seiner Eltern, aus der Realität der geschlossenen Psychiatrie, in der man auf den Triumph der Psychopharmakologie hofft.
Aber in den Feldern hinter der Schranke des Klinikgeländes, wo keiner das ungewöhnliche Paar ausbüchsen sieht, unter einem etwas zu schönen Himmel und zu Sam Cookes "Wonderful World" schwebt man gern mit dem Erzähler des Romans in seiner "Annewolke" und träumt, während die beiden an der Ems zelten und morgens im Fluss baden, vom Mississippi und der großen weiten Welt, ehe sie wieder so klein werden muss, wie sie ist. JAN WIELE
Markus Berges: "Irre Wolken". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2024.
288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Markus Berges' Roman ist ein turbulenter Trip durch die alte Bundesrepublik ... sein Thema der unwiderstehliche Einschlag der ersten Liebe. Die Zeit