Rainald Goetz schreibt in seinem legendären ersten, quicklebendig gebliebenen Roman (erschienen 1983) über die "Psychiatrie" und einen "Helden" unserer Tage. Wie weh tut der Irrsinn den Irren? Wie schlimm ist das Arbeiten als Arzt in einer psychiatrischen Klinik? Wie geht das Leben? Muß das wirklich so zerrissen und zerfetzt sein? "Ich erkannte nichts wieder. Aus der Anstalt entlassen, allabendlich, ging ich auf den U-Bahn-Schacht zu, ohne Blick. Hatte ich je den Frühling gerochen? Gerüttelt von der Fahrt, erreichte ich mein Zimmer, und nichts war wie früher. Ohne Aufbegehren bewegte ich mich zwischen den Bierdosen, den Flaschen, Zeitungen und Kleidungsstücken am Boden, ziellose Suche. Die riesigen weißen Laken an den Wänden, hinter den Laken die Regale, in den Regalen die Bücher, verhängt. Ich hatte gelesen? Hatte ich je ein Buch geöffnet und etwas anderes gehört als dieses Dröhnen, unerträgliches Dröhnen in den Ohren, lauter mit jedem Satz."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2002Rainald Goetz: Irre
1983 - Das Buch denkt und bleibt im Hirn wie ein Popsong
Von diesem Buch zu erzählen: Das heißt, von seinem Leser viel mehr als von seinem Autor zu erzählen - was, paradoxerweise, auch daran liegt, daß der Autor ja da war, gut sichtbar, nicht in irgendeinem Dichterversteck verborgen, sondern am Rand der Tanzfläche beispielsweise, im damals sogenannten Tanzlokal Größenwahn in der Münchner Klenzestraße (und wer, bitteschön, konnte es sich damals, 1983, leisten, nicht in München zu wohnen); oder, noch viel besser ausgeleuchtet, im Fernsehen, Kulturberichterstattung aus Klagenfurt, vom Ingeborg-Bachmann-Preis, der damals noch was zu bedeuten hatte, und dort war es eben nicht nur das Blut, das floß, nachdem der Autor sich mit einer Rasierklinge in die Stirn geritzt hatte; es war schon auch der Text, in welchem er genau die Peinsäcke als Peinsäcke beschimpfte, welche man selber auch gern Peinsäcke genannt hätte, wäre einem das Wort Peinsack nicht zum erstenmal in Goetz' Prosa begegnet.
Was nicht heißt, daß der Autor aufs Einverständnis des Lesers gehofft hätte - und das Einverständnis der Rezensenten produzierte ja das groteske Mißverständnis, daß die deutlich erkennbare kunstvolle Konstruktion von "Irre", dieses dreigeteilten Romans, der mit einem Gewirr von unidentifizierten Stimmen beginnt, und dann, im zweiten Teil, klärt sich scheinbar alles, weil da der Irrenarzt erkennbar wird, und die Irren werden es auch, und im dritten Teil klärt sich alles noch mehr, weil der Arzt sich von der Psychiatrie ab- und dem Kulturbetrieb zuwendet - das also, so konnte man dann in den wohlwollenden Besprechungen lesen, sei schon ein Plot, eine Handlung, und das Thema des Buchs sei ja wohl auch ganz klar; es gehe um einen Irrenarzt, um die Irren und um die Frage, wo die Grenze verlaufe.
Es war aber so, daß, wenn man sich später zu erinnern versuchte, vielleicht an den Abend eines seltsam überhitzten Frühlingstags, man gar nicht mehr wußte, ob man sich wirklich an einen Abend erinnerte oder an einen Satz im zweiten Kapitel von "Irre": "Eines Abends, oder war es später Nachmittag, die Wärme des vergangenen, seltsam überhitzten Frühlingstages lag noch auf den Sträuchern, Wiesen und Kieswegen . . ."
Das ist es, wovon die Erinnerung an "Irre" handelt: daß es da Sätze und Begriffe gab, einen Rhythmus des Schreibens und des Denkens, und das alles hatte eine solche Evidenz, daß der Leser sich fragte, ob das noch Lesen sei oder schon etwas ganz anderes.
"Es denkt", denkt sich einmal eine der Stimmen, und als Leser dachte man sich dabei: Genau. Es denkt. Das Buch denkt. Es denkt mich.
Und natürlich dachte und erfand sich das Buch auch einen Autor, welchen sich der Leser dann schon als eine Art Psychiater vorstellen konnte, wie er der Wirklichkeit erstmal zuhörte, sich Notizen machte, seine Aufgabe vor allem darin sah, die Leute und die Verhältnisse nur zum Sprechen zu bringen. Wobei dann plötzlich ganz egal war, ob es ein sogenannter Irrer war, den das Buch da zum Sprechen brachte. Die Sprache selber war verrückt - das schien die Bedingung für ihre Poesie zu sein.
Steckt also ganz besonders viel Welt in "Irre" - gemäß der damals populären Forderung, daß die Bücher endlich den germanistischen Seminaren entkommen und sich hineinwagen sollten in die Bars und die Schallplattenläden, ins sogenannte wahre Leben? Eher war fortan "Irre" in der Welt: Wer das Buch gelesen hatte und dabei vielleicht leise mitgesprochen und mitgedacht in diesen Sätzen, die nur scheinbar vertrackt und in Wirklichkeit auf sehr intellektuelle und zugleich wunderbar einfache Art rhythmisiert waren, dem blieb das, wie ein Popsong im Ohr, sehr lange mittendrin im Hirn.
cls
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1983 - Das Buch denkt und bleibt im Hirn wie ein Popsong
Von diesem Buch zu erzählen: Das heißt, von seinem Leser viel mehr als von seinem Autor zu erzählen - was, paradoxerweise, auch daran liegt, daß der Autor ja da war, gut sichtbar, nicht in irgendeinem Dichterversteck verborgen, sondern am Rand der Tanzfläche beispielsweise, im damals sogenannten Tanzlokal Größenwahn in der Münchner Klenzestraße (und wer, bitteschön, konnte es sich damals, 1983, leisten, nicht in München zu wohnen); oder, noch viel besser ausgeleuchtet, im Fernsehen, Kulturberichterstattung aus Klagenfurt, vom Ingeborg-Bachmann-Preis, der damals noch was zu bedeuten hatte, und dort war es eben nicht nur das Blut, das floß, nachdem der Autor sich mit einer Rasierklinge in die Stirn geritzt hatte; es war schon auch der Text, in welchem er genau die Peinsäcke als Peinsäcke beschimpfte, welche man selber auch gern Peinsäcke genannt hätte, wäre einem das Wort Peinsack nicht zum erstenmal in Goetz' Prosa begegnet.
Was nicht heißt, daß der Autor aufs Einverständnis des Lesers gehofft hätte - und das Einverständnis der Rezensenten produzierte ja das groteske Mißverständnis, daß die deutlich erkennbare kunstvolle Konstruktion von "Irre", dieses dreigeteilten Romans, der mit einem Gewirr von unidentifizierten Stimmen beginnt, und dann, im zweiten Teil, klärt sich scheinbar alles, weil da der Irrenarzt erkennbar wird, und die Irren werden es auch, und im dritten Teil klärt sich alles noch mehr, weil der Arzt sich von der Psychiatrie ab- und dem Kulturbetrieb zuwendet - das also, so konnte man dann in den wohlwollenden Besprechungen lesen, sei schon ein Plot, eine Handlung, und das Thema des Buchs sei ja wohl auch ganz klar; es gehe um einen Irrenarzt, um die Irren und um die Frage, wo die Grenze verlaufe.
Es war aber so, daß, wenn man sich später zu erinnern versuchte, vielleicht an den Abend eines seltsam überhitzten Frühlingstags, man gar nicht mehr wußte, ob man sich wirklich an einen Abend erinnerte oder an einen Satz im zweiten Kapitel von "Irre": "Eines Abends, oder war es später Nachmittag, die Wärme des vergangenen, seltsam überhitzten Frühlingstages lag noch auf den Sträuchern, Wiesen und Kieswegen . . ."
Das ist es, wovon die Erinnerung an "Irre" handelt: daß es da Sätze und Begriffe gab, einen Rhythmus des Schreibens und des Denkens, und das alles hatte eine solche Evidenz, daß der Leser sich fragte, ob das noch Lesen sei oder schon etwas ganz anderes.
"Es denkt", denkt sich einmal eine der Stimmen, und als Leser dachte man sich dabei: Genau. Es denkt. Das Buch denkt. Es denkt mich.
Und natürlich dachte und erfand sich das Buch auch einen Autor, welchen sich der Leser dann schon als eine Art Psychiater vorstellen konnte, wie er der Wirklichkeit erstmal zuhörte, sich Notizen machte, seine Aufgabe vor allem darin sah, die Leute und die Verhältnisse nur zum Sprechen zu bringen. Wobei dann plötzlich ganz egal war, ob es ein sogenannter Irrer war, den das Buch da zum Sprechen brachte. Die Sprache selber war verrückt - das schien die Bedingung für ihre Poesie zu sein.
Steckt also ganz besonders viel Welt in "Irre" - gemäß der damals populären Forderung, daß die Bücher endlich den germanistischen Seminaren entkommen und sich hineinwagen sollten in die Bars und die Schallplattenläden, ins sogenannte wahre Leben? Eher war fortan "Irre" in der Welt: Wer das Buch gelesen hatte und dabei vielleicht leise mitgesprochen und mitgedacht in diesen Sätzen, die nur scheinbar vertrackt und in Wirklichkeit auf sehr intellektuelle und zugleich wunderbar einfache Art rhythmisiert waren, dem blieb das, wie ein Popsong im Ohr, sehr lange mittendrin im Hirn.
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