Die Systemtheorie ist eine Irritation für die Erziehungswissenschaft. Die von Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr vertretene These, die Generierung eines eigenen Standpunktes in der Erziehungswissenschaft sei nur durch Selbstreflexion des Systems möglich, galt in der Erziehungswissenschaft lange als Provokation. Das aus dem Nachlaß Luhmanns 2002 herausgegebene Buch Das Erziehungssystem der Gesellschaft fordert die Erziehungswissenschaft erneut auf: Wenn eine soziologische Fremdbeschreibung des Erziehungssystems zur Verfügung stehe, dann sei sie auch durch dieses System zu beachten. Die Autoren dieses Buches setzen sich mit dieser Aufforderung auseinander. Sie fragen nach dem Unterschied, den diese Beschreibung für die Erziehungswissenschaft macht und wie seine Bearbeitung durch das System im System zum Vademecum auf der Suche nach einer zeitgemäßen Erziehungswissenschaft werden kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2004Lauter zerkratzte Gesichter
Dieter Lenzen präsentiert einen Niklas Luhmann für Lehrer
Titel und Untertitel des Bandes täuschen ein wenig. Das Erziehungssystem ist keineswegs durch Niklas Luhmann irritiert, das wäre von beiden auch zuviel verlangt. Und es handelt sich auch nicht um die pädagogischen Wirkungen des Werks dieses Soziologen, die hier beschrieben werden. Vielmehr geht es um den Eindruck, den er auf Erziehungswissenschaftler macht. Die sind genaugenommen nur im Nebenberuf Pädagogen, befassen sie sich doch zumeist mit Zöglingen, die sie selber gar nicht unterrichten. Wer also wissen wollte, ob und wie Lehrer etwas mit Niklas Luhmanns Ansichten zur Erziehung anfangen können oder könnten, wäre mit den abgedruckten Beiträgen einer Berliner Tagung zu Luhmanns Nachlaßband "Das Erziehungssystem der Gesellschaft" (F.A.Z. vom 21. Mai 2002) schlecht bedient.
Gut bedient werden hingegen alle, die es interessiert, wie Klassiker als eigene Forschungsgebiete in Disziplinen eingerichtet werden, in denen der Klassiker selber gar nicht tätig war. Luhmanns Soziologie ist ja einerseits etwas ziemlich Abschreckendes: sehr abstrakt, mit eigener Terminologie und einem Riesentheorieapparat, einem Interesse an Vergleichen zwischen sehr heterogenen Gegenständen und einem Desinteresse an vielen gängigen Sichtweisen des Soziallebens. Andererseits enthält sie, weil sie außer Kochen und Sport keine Art sozialen Handelns ausgelassen hat, für manche andere Disziplin die Verführung, "Systemtheorie" anstelle eigener theoretischer Anstrengungen zu ihrem Gegenstand zu importieren. Die Handelsbilanz von Fächern wie Theologie, Germanistik und eben auch Erziehungswissenschaft sieht dabei meistens mies aus. Denn den Krediten aus dem disziplinären Ausland stehen zumeist keine Warenexporte aufgrund einer damit finanzierten Produktion gegenüber. Welche Disziplin auch sollte etwas mit den langatmigen Nacherzählungen von Luhmanns Grundbegriffen anfangen können, die man hier findet und an die im engeren Sinne pädagogische Probleme mehr illustrativ angeheftet sind? Warum es fürs Begreifen der Schule ohne "doppelte Kontingenz" und "Code" und "Re-entry" nicht geht, obwohl die Verwendung von derlei Besteck doch nur zerkratzte Gesichter hervorbringt, bleibt völlig offen.
Luhmann selber hat einmal bemerkt, die Erziehungswissenschaftler neigten in der Auseinandersetzung mit seiner Theorie dazu, die Sozialisationsphase zu überspringen. Seine Gedankenwelt setzt Gewöhnung und längeren Aufenthalt im begrifflichen Milieu voraus, und sie belohnt, wenn überhaupt, Übung. Nur durch das entsprechende Gefühl für die Pointe systemtheoretischer Übertreibungen etwa lassen sich Sätze vermeiden wie: "Das Bewußtsein der Individuen kann durch Kommunikation nicht erreicht werden." Wenn sich das mal nicht bei den Schülern herumspricht. Es wäre völliger Unsinn, aus der Tatsache, daß Gedanken - im Bewußtsein - etwas ganz anderes sind als Mitteilungen - in der Kommunikation -, auf die Unbeeindruckbarkeit von Gedanken durch Mitteilungen zu schließen. Im vorliegenden Band machen sich gleich zwei Autoren Sorgen, ob aus Luhmanns Grundbegriffen nicht folgt, daß Unterricht gar nicht möglich ist. Wenn das mal nicht, aus anderen Gründen, leider auch schon manche Lehrer glauben.
So entsteht der Eindruck, daß viele Autoren die Theorie nur gelesen haben, aber eigentlich gar nichts Sinnvolles mit ihr anfangen können und daß es nur das Bedürfnis ist, überhaupt eine Theorie und am besten eine mit Chic zu haben, das sie so hartnäckig an etwas herumbasteln läßt, für das es in ihrem Gegenstandsbereich so gar keine Verwendung gibt. Zu Luhmanns Buch verhalten sie sich wie ein Automechaniker, der den Wagen auseinanderschraubt, um die Einzelteile zu wiegen. Sind Zündkerzen eigentlich leichter oder schwerer als Verteilerköpfe? Eine ebenso exakt zu beantwortende und insofern wissenschaftlich stellbare wie außerhalb von Frachtgesichtspunkten völlig sinnlose Frage. Zur Fahrtüchtigkeit des Gefährts trägt ihre Beantwortung nichts bei.
Dabei ist es nicht so, als kennten die Erziehungswissenschaftler keine interessanteren Probleme als das, ob "pragmatische Präsuppositionen Indikatoren pädagogischer Reflexionstheorie" abgeben oder das, ob "Organisationen Systemgrenzen bearbeiten" und die einzigen sozialen Systeme sind, die mit ihrer Umwelt kommunizieren können. Aber diese interessanteren Fragen - nach dem Unterschied des Unterrichtens von anwesenden und von fernunterrichteten Schülern, nach den Professionseigenheiten von Lehrern, nach dem Verhältnis von heimlichem und offensichtlichem Lehrplan - verschwinden hier in Nebenbemerkungen. Sie dienen nur dazu, die Aufsätze überhaupt als erziehungswissenschaftliche und nicht als Beiträge zur selbstgenügsamen Klassikerexegese auszuweisen.
Damit ist das Dilemma der Erziehungswissenschaft dieses Typs berührt. Sie möchte Wissenschaft sein und schaut, mangels eigener Kriterien dafür, wie anderen Disziplinen das gelingt. Weil man aber nicht in alle Richtungen gleichzeitig schauen kann, zahlt sie den Preis für das Schielen auf das Heft des Nachbarn, hier der Soziologie, mit dem Verlust von Wirklichkeitskontakten auf dem eigenen Gebiet. So kommt es, daß vielerorts Leute Lehrer ausbilden, die sich über Schüler und Schulen aus dritter Hand informieren. So auch entstehen die vielen erziehungsfremden, weil anschauungsarmen und erfahrungslosen Texte, die dieses Fach hervorbringt, und die darum auch nie jemand außerhalb der ihrer Produktion gewidmeten Zirkel zitiert.
JÜRGEN KAUBE.
Dieter Lenzen (Hrsg.): "Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 235 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Lenzen präsentiert einen Niklas Luhmann für Lehrer
Titel und Untertitel des Bandes täuschen ein wenig. Das Erziehungssystem ist keineswegs durch Niklas Luhmann irritiert, das wäre von beiden auch zuviel verlangt. Und es handelt sich auch nicht um die pädagogischen Wirkungen des Werks dieses Soziologen, die hier beschrieben werden. Vielmehr geht es um den Eindruck, den er auf Erziehungswissenschaftler macht. Die sind genaugenommen nur im Nebenberuf Pädagogen, befassen sie sich doch zumeist mit Zöglingen, die sie selber gar nicht unterrichten. Wer also wissen wollte, ob und wie Lehrer etwas mit Niklas Luhmanns Ansichten zur Erziehung anfangen können oder könnten, wäre mit den abgedruckten Beiträgen einer Berliner Tagung zu Luhmanns Nachlaßband "Das Erziehungssystem der Gesellschaft" (F.A.Z. vom 21. Mai 2002) schlecht bedient.
Gut bedient werden hingegen alle, die es interessiert, wie Klassiker als eigene Forschungsgebiete in Disziplinen eingerichtet werden, in denen der Klassiker selber gar nicht tätig war. Luhmanns Soziologie ist ja einerseits etwas ziemlich Abschreckendes: sehr abstrakt, mit eigener Terminologie und einem Riesentheorieapparat, einem Interesse an Vergleichen zwischen sehr heterogenen Gegenständen und einem Desinteresse an vielen gängigen Sichtweisen des Soziallebens. Andererseits enthält sie, weil sie außer Kochen und Sport keine Art sozialen Handelns ausgelassen hat, für manche andere Disziplin die Verführung, "Systemtheorie" anstelle eigener theoretischer Anstrengungen zu ihrem Gegenstand zu importieren. Die Handelsbilanz von Fächern wie Theologie, Germanistik und eben auch Erziehungswissenschaft sieht dabei meistens mies aus. Denn den Krediten aus dem disziplinären Ausland stehen zumeist keine Warenexporte aufgrund einer damit finanzierten Produktion gegenüber. Welche Disziplin auch sollte etwas mit den langatmigen Nacherzählungen von Luhmanns Grundbegriffen anfangen können, die man hier findet und an die im engeren Sinne pädagogische Probleme mehr illustrativ angeheftet sind? Warum es fürs Begreifen der Schule ohne "doppelte Kontingenz" und "Code" und "Re-entry" nicht geht, obwohl die Verwendung von derlei Besteck doch nur zerkratzte Gesichter hervorbringt, bleibt völlig offen.
Luhmann selber hat einmal bemerkt, die Erziehungswissenschaftler neigten in der Auseinandersetzung mit seiner Theorie dazu, die Sozialisationsphase zu überspringen. Seine Gedankenwelt setzt Gewöhnung und längeren Aufenthalt im begrifflichen Milieu voraus, und sie belohnt, wenn überhaupt, Übung. Nur durch das entsprechende Gefühl für die Pointe systemtheoretischer Übertreibungen etwa lassen sich Sätze vermeiden wie: "Das Bewußtsein der Individuen kann durch Kommunikation nicht erreicht werden." Wenn sich das mal nicht bei den Schülern herumspricht. Es wäre völliger Unsinn, aus der Tatsache, daß Gedanken - im Bewußtsein - etwas ganz anderes sind als Mitteilungen - in der Kommunikation -, auf die Unbeeindruckbarkeit von Gedanken durch Mitteilungen zu schließen. Im vorliegenden Band machen sich gleich zwei Autoren Sorgen, ob aus Luhmanns Grundbegriffen nicht folgt, daß Unterricht gar nicht möglich ist. Wenn das mal nicht, aus anderen Gründen, leider auch schon manche Lehrer glauben.
So entsteht der Eindruck, daß viele Autoren die Theorie nur gelesen haben, aber eigentlich gar nichts Sinnvolles mit ihr anfangen können und daß es nur das Bedürfnis ist, überhaupt eine Theorie und am besten eine mit Chic zu haben, das sie so hartnäckig an etwas herumbasteln läßt, für das es in ihrem Gegenstandsbereich so gar keine Verwendung gibt. Zu Luhmanns Buch verhalten sie sich wie ein Automechaniker, der den Wagen auseinanderschraubt, um die Einzelteile zu wiegen. Sind Zündkerzen eigentlich leichter oder schwerer als Verteilerköpfe? Eine ebenso exakt zu beantwortende und insofern wissenschaftlich stellbare wie außerhalb von Frachtgesichtspunkten völlig sinnlose Frage. Zur Fahrtüchtigkeit des Gefährts trägt ihre Beantwortung nichts bei.
Dabei ist es nicht so, als kennten die Erziehungswissenschaftler keine interessanteren Probleme als das, ob "pragmatische Präsuppositionen Indikatoren pädagogischer Reflexionstheorie" abgeben oder das, ob "Organisationen Systemgrenzen bearbeiten" und die einzigen sozialen Systeme sind, die mit ihrer Umwelt kommunizieren können. Aber diese interessanteren Fragen - nach dem Unterschied des Unterrichtens von anwesenden und von fernunterrichteten Schülern, nach den Professionseigenheiten von Lehrern, nach dem Verhältnis von heimlichem und offensichtlichem Lehrplan - verschwinden hier in Nebenbemerkungen. Sie dienen nur dazu, die Aufsätze überhaupt als erziehungswissenschaftliche und nicht als Beiträge zur selbstgenügsamen Klassikerexegese auszuweisen.
Damit ist das Dilemma der Erziehungswissenschaft dieses Typs berührt. Sie möchte Wissenschaft sein und schaut, mangels eigener Kriterien dafür, wie anderen Disziplinen das gelingt. Weil man aber nicht in alle Richtungen gleichzeitig schauen kann, zahlt sie den Preis für das Schielen auf das Heft des Nachbarn, hier der Soziologie, mit dem Verlust von Wirklichkeitskontakten auf dem eigenen Gebiet. So kommt es, daß vielerorts Leute Lehrer ausbilden, die sich über Schüler und Schulen aus dritter Hand informieren. So auch entstehen die vielen erziehungsfremden, weil anschauungsarmen und erfahrungslosen Texte, die dieses Fach hervorbringt, und die darum auch nie jemand außerhalb der ihrer Produktion gewidmeten Zirkel zitiert.
JÜRGEN KAUBE.
Dieter Lenzen (Hrsg.): "Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 235 S., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jürgen Kaube lässt kaum ein gutes Haar an diesem von Dieter Lenzen herausgegebenen Band. "Gut bedient" seien mit ihm einzig jene, schreibt er, die sich dafür interessierten, "wie Klassiker als eigene Forschungsgebiete in Disziplinen eingerichtet werden, in denen der Klassiker selber gar nicht tätig war." Warum es "fürs Begreifen der Schule" ohne "doppelte Kontingenz" und "Re-entry" nicht gehe, bleibe dagegen "völlig offen". Der Rezensent hat, anders gesagt, den Eindruck, dass viele Autoren dieses Bandes die Theorie des Klassikers, um den es geht, die Theorie Niklas Luhmanns also, "nur gelesen haben, aber eigentlich gar nichts Sinnvolles mit ihr anfangen können", und es vielmehr nur das Bedürfnis sei, "überhaupt eine Theorie, und am besten eine mit Chic" zu haben, das die Autoren "so hartnäckig an etwas herumbasteln lässt, für das es in ihrem Gegenstandsbereich so gar keine Verwendung gibt". Außerdem hat der Rezensent selbst durchaus einige Ideen dazu, für die Bearbeitung welcher Fragen Luhmanns Theorie im Bereich der Pädagogik dann doch noch etwas bieten könnte, für die nach den "Professionseigenheiten von Lehrern" etwa oder dem "Verhältnis von heimlichem und offensichtlichem Lehrplan", alle "interessanteren Fragen" aber würden in diesem Band in Nebenbemerkungen "verschwinden".
© Perlentaucher Medien GmbH
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