Ein leicht kurzsichtiger Herr wohnt im gleichen Haus, in dem auch eine schüchterne und von Grund auf junge Dame wohnt. Der Herr und die Dame leben in achtbarer Einsamkeit. Sie sehen sich praktisch jeden Tag - bei einer raschen und zufälligen Begegnung, mit leichtem Lächeln und hingehauchtem Gruß. Das gänzlich unerhebliche Problem, das jeder für den anderen darstellt, hört nicht auf, das Leben beider auf geringfügige, aber hartnäckige Weise zu beunruhigen ...Giorgio Manganelli braut hundertmal einen Cocktail aus Vermutungen, Spekulationen, Lügen und Phantasien. Die vielbeschworene Krise des Romans, die fanatischen Feuilletondebatten um Bibliotheken der hundert wichtigsten Romane - Giorgio Manganelli setzt sich munter darüber hinweg, vielmehr, er macht sich gar darüber lustig. Und präsentiert eine schmale, dafür umso gehaltvollere Sammlung: hundert Romane in Pillenform, die das ganze Manganellische Textuniversum zu Drogen verdichten.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Rossmann rät zu Giorgio Manganellis Prosa als zu einer vergnüglichen, wenngleich unheimlichen Lektüreerfahrung. Dass der Wagenbach Verlag das Buch des abgründigen Autors in dritter Auflage in der "frischen" Übertragung von Iris Schnebel-Kaschnitz herausbringt, ist für Rossmann auch Anlass, an Klaus Wagenbach und seinen Verlegermut zu erinnern. Manganelli bestürzt den Rezensenten auf unterhaltsame Weise mit seinen kurzen Stücken über Drachen und Gespenster, mit Liebes- und Lügenstorys, die Rossmann an Kafka, Poe, Calvino erinnern. Eines sind sie sämtlich, versichert er: unkonventionell.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2023Schwarzer Schwan und schneeweißes Einhorn
Sturzgeschichten, endlich wieder aufgelegt: Giorgio Manganellis Buch "Irrläufe" bietet hundert Romane in Pillenform
Vor Kurzem jährte sich sein Geburtstag zum hundertsten Mal. In Italien wurde das aber gar nicht zum Anlass genommen, an Giorgio Manganelli, geboren 1922 in Mailand, gestorben 1990 in Rom, zu erinnern. Auch posthum ist er also die "Randerscheinung" geblieben, als die er sich selbst gesehen hat, ein Außenseiter, der sich in seinem Essay "Die Literatur als Lüge" (1967) zur Abtrünnigkeit "von jedem solidarischen Gehorsam, jeder Einwilligung ins eigene oder fremde gute Gewissen, jedem mitmenschlichen Gebot" bekannt hat. Seine manieristisch-experimentelle Prosa hat eine kleine Fangemeinde; nur "Centuria - Cento piccoli romanzi fiume" (1979), sein zugänglichstes Buch, zog weitere Kreise: "Irrläufe - Hundert Romane in Pillenform", so der deutsche Titel, ist auch ein ironischer Reflex auf die "unsinnige Idee", einen Kanon von hundert Büchern festzulegen.
Die Lektüre solle sich, so der Autor in der Vorbemerkung, am besten als Sturz aus einem Wolkenkratzer vollziehen. Bereits die Vorstellung erregt Schwindel, doch auch ohne freien Fall gewinnt der Leser keinen festen Boden unter den Füßen. "Nehmen wir einmal an": Gleich der erste Satz setzt das Gedankenspiel in Gang und die Regeln von Mimesis und Psychologie außer Kraft. Die einzige Realität der Literatur ist für Manganelli die Sprache. Indem er ihren Sinn ignoriert, kann er ihn als "eine Anhäufung von Unmöglichkeiten, Falschheiten, Lügen, Träumen, Spielen und Zeremonien" ausleben. Gelehrt und belesen, schmäht er die "ziemlich widerwärtige Figur des Intellektuellen" und möchte lieber "Hanswurst" gescholten werden.
In "Irrläufe" sondiert Manganelli die Möglichkeiten einer Literatur, die, befreit von den Fesseln der Wirklichkeit, über das Leben siegt: Sie läuft in die Irre, in erfundene Welten, jenseits der Tatsachen und Plausibilitäten, des Wiedererkennbaren und Vorhersehbaren. Ein Brief vom "Existenzamt" trägt, das nur als Beispiel, ein Datum, das neun Jahrhunderte nach dem Tag seiner Zustellung liegt. Oder ein junger Mann ist in drei Frauen zugleich verliebt, von denen eine drei Jahrhunderte und eine ein Jahrhundert früher gelebt hat, während die dritte erst zwei Jahrhunderte nach seinem Tod zur Welt kommen wird. Konstellationen, um phantastische Romantürme aufzubauen. Hier kommen sie auf anderthalb Seiten.
Keiner der "hundert Romane in Pillenform" ist länger. "Der Schreibende" steht am Eingang, "der Schriftsteller" am Ausgang des Leselabyrinths. Positionen der Poetik: Der eine ist "leicht betrunken", der "andere schreibt ein Buch über einen Schriftsteller, der zwei Bücher über zwei Schriftsteller schreibt . . .". Verzerrung und Vervielfältigung. In den meisten Romanen ist ein namenloser "Herr" der Protagonist, ein, zwei Attribute genügen, ihn zu charakterisieren: "von gediegener Bildung und gemäßigt melancholischer Gemütsart" oder "etwas altertümlich, aber nicht unelegant gekleidet". Manchmal ist auch "ein (junger) Mann" oder ein "er" das Subjekt, selten eine Frau, gelegentlich Schatten, Gespenster, Drachen, Halluzinationen, ein Dinosaurier, Märchenfiguren, Fabeltiere. Schwarzer Schwan und schneeweißes Einhorn.
Viele Anfänge überraschen mit unerhörten Begebenheiten: "Die Herren, die an diese Haltestelle kommen, um auf den Zug zu warten, sterben im Allgemeinen während des Wartens." Oder: "Eine Frau hat eine Kugel geboren." Manganelli abstrahiert und allegorisiert: "In seiner letzten Inkarnation war der Mann ein Pferd." Oder: "Er ist von Beruf Geträumter." Jeder "Roman" ist eigenständig, es gibt weder Personen- noch Ortsnamen. Kuriose Liebes- und Lügengeschichten, Angst- und Wahnvorstellungen werden erzählt. Ohne dass sie gleich Vorbilder abgäben, lässt sich an E. T. A. Hoffmann, Poe, Kafka, Borges, Beckett oder Calvino denken, auch an Hitchcock und Buñuel.
Man kann die Herren und Figuren auch als Masken und Rollen des Autors lesen. Doch charakterisiert ihn nicht so sehr, wen er spielt, als wie er spielt. "Irrläufe" ist ein Kompendium antirealistischer, kombinatorischer Literatur. Manche Geschichten sind einfach, andere kompliziert, skurril, sophistisch, rätselhaft, unheimlich, abgründig, absurd. Jede ist ein Nadelstich gegen die Konvention. Verwirrend und vergnüglich.
Carlo Feltrinelli erinnerte auf der Gedenkfeier für Klaus Wagenbach am 19. Juni 2022 im Berliner Ensemble daran, dass dessen Verlag für deutsche Leser eine große Tür nach Italien geöffnet hat: "Angefangen hat es mit Giorgio Manganelli, den Klaus beim 'Gruppo 63' kennengelernt hat." Sein Vater Giangiacomo Feltrinelli habe dem deutschen Verlegerkollegen abgeraten, den Autor zu veröffentlichen: "Sehr interessant, aber unverkäuflich, das gerade hat Klaus gereizt." 1967 brachte Wagenbach "Niederauffahrt" heraus, vierzehn weitere Bücher von Manganelli folgten. Indem der Verlag "Irrläufe" in der frisch gebliebenen Übersetzung von Iris Schnebel-Kaschnitz von 1980 und mit Tullio Pericolis glossierenden Porträts des Schriftstellers zum - nach 1989 und 2002 - dritten Mal wieder auflegt, würdigt er auch seinen Gründer - und Manganelli als (unklassischen) Klassiker. ANDREAS ROSSMANN
Giorgio Manganelli: "Irrläufe. Hundert Romane in Pillenform".
Aus dem Italienischen von Iris Schnebel-Kaschnitz, Nachwort von Klaus Wagenbach Zeichnungen von Tullio Pericoli. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022. 160 S., Abb., br., 22,- Euro.
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Sturzgeschichten, endlich wieder aufgelegt: Giorgio Manganellis Buch "Irrläufe" bietet hundert Romane in Pillenform
Vor Kurzem jährte sich sein Geburtstag zum hundertsten Mal. In Italien wurde das aber gar nicht zum Anlass genommen, an Giorgio Manganelli, geboren 1922 in Mailand, gestorben 1990 in Rom, zu erinnern. Auch posthum ist er also die "Randerscheinung" geblieben, als die er sich selbst gesehen hat, ein Außenseiter, der sich in seinem Essay "Die Literatur als Lüge" (1967) zur Abtrünnigkeit "von jedem solidarischen Gehorsam, jeder Einwilligung ins eigene oder fremde gute Gewissen, jedem mitmenschlichen Gebot" bekannt hat. Seine manieristisch-experimentelle Prosa hat eine kleine Fangemeinde; nur "Centuria - Cento piccoli romanzi fiume" (1979), sein zugänglichstes Buch, zog weitere Kreise: "Irrläufe - Hundert Romane in Pillenform", so der deutsche Titel, ist auch ein ironischer Reflex auf die "unsinnige Idee", einen Kanon von hundert Büchern festzulegen.
Die Lektüre solle sich, so der Autor in der Vorbemerkung, am besten als Sturz aus einem Wolkenkratzer vollziehen. Bereits die Vorstellung erregt Schwindel, doch auch ohne freien Fall gewinnt der Leser keinen festen Boden unter den Füßen. "Nehmen wir einmal an": Gleich der erste Satz setzt das Gedankenspiel in Gang und die Regeln von Mimesis und Psychologie außer Kraft. Die einzige Realität der Literatur ist für Manganelli die Sprache. Indem er ihren Sinn ignoriert, kann er ihn als "eine Anhäufung von Unmöglichkeiten, Falschheiten, Lügen, Träumen, Spielen und Zeremonien" ausleben. Gelehrt und belesen, schmäht er die "ziemlich widerwärtige Figur des Intellektuellen" und möchte lieber "Hanswurst" gescholten werden.
In "Irrläufe" sondiert Manganelli die Möglichkeiten einer Literatur, die, befreit von den Fesseln der Wirklichkeit, über das Leben siegt: Sie läuft in die Irre, in erfundene Welten, jenseits der Tatsachen und Plausibilitäten, des Wiedererkennbaren und Vorhersehbaren. Ein Brief vom "Existenzamt" trägt, das nur als Beispiel, ein Datum, das neun Jahrhunderte nach dem Tag seiner Zustellung liegt. Oder ein junger Mann ist in drei Frauen zugleich verliebt, von denen eine drei Jahrhunderte und eine ein Jahrhundert früher gelebt hat, während die dritte erst zwei Jahrhunderte nach seinem Tod zur Welt kommen wird. Konstellationen, um phantastische Romantürme aufzubauen. Hier kommen sie auf anderthalb Seiten.
Keiner der "hundert Romane in Pillenform" ist länger. "Der Schreibende" steht am Eingang, "der Schriftsteller" am Ausgang des Leselabyrinths. Positionen der Poetik: Der eine ist "leicht betrunken", der "andere schreibt ein Buch über einen Schriftsteller, der zwei Bücher über zwei Schriftsteller schreibt . . .". Verzerrung und Vervielfältigung. In den meisten Romanen ist ein namenloser "Herr" der Protagonist, ein, zwei Attribute genügen, ihn zu charakterisieren: "von gediegener Bildung und gemäßigt melancholischer Gemütsart" oder "etwas altertümlich, aber nicht unelegant gekleidet". Manchmal ist auch "ein (junger) Mann" oder ein "er" das Subjekt, selten eine Frau, gelegentlich Schatten, Gespenster, Drachen, Halluzinationen, ein Dinosaurier, Märchenfiguren, Fabeltiere. Schwarzer Schwan und schneeweißes Einhorn.
Viele Anfänge überraschen mit unerhörten Begebenheiten: "Die Herren, die an diese Haltestelle kommen, um auf den Zug zu warten, sterben im Allgemeinen während des Wartens." Oder: "Eine Frau hat eine Kugel geboren." Manganelli abstrahiert und allegorisiert: "In seiner letzten Inkarnation war der Mann ein Pferd." Oder: "Er ist von Beruf Geträumter." Jeder "Roman" ist eigenständig, es gibt weder Personen- noch Ortsnamen. Kuriose Liebes- und Lügengeschichten, Angst- und Wahnvorstellungen werden erzählt. Ohne dass sie gleich Vorbilder abgäben, lässt sich an E. T. A. Hoffmann, Poe, Kafka, Borges, Beckett oder Calvino denken, auch an Hitchcock und Buñuel.
Man kann die Herren und Figuren auch als Masken und Rollen des Autors lesen. Doch charakterisiert ihn nicht so sehr, wen er spielt, als wie er spielt. "Irrläufe" ist ein Kompendium antirealistischer, kombinatorischer Literatur. Manche Geschichten sind einfach, andere kompliziert, skurril, sophistisch, rätselhaft, unheimlich, abgründig, absurd. Jede ist ein Nadelstich gegen die Konvention. Verwirrend und vergnüglich.
Carlo Feltrinelli erinnerte auf der Gedenkfeier für Klaus Wagenbach am 19. Juni 2022 im Berliner Ensemble daran, dass dessen Verlag für deutsche Leser eine große Tür nach Italien geöffnet hat: "Angefangen hat es mit Giorgio Manganelli, den Klaus beim 'Gruppo 63' kennengelernt hat." Sein Vater Giangiacomo Feltrinelli habe dem deutschen Verlegerkollegen abgeraten, den Autor zu veröffentlichen: "Sehr interessant, aber unverkäuflich, das gerade hat Klaus gereizt." 1967 brachte Wagenbach "Niederauffahrt" heraus, vierzehn weitere Bücher von Manganelli folgten. Indem der Verlag "Irrläufe" in der frisch gebliebenen Übersetzung von Iris Schnebel-Kaschnitz von 1980 und mit Tullio Pericolis glossierenden Porträts des Schriftstellers zum - nach 1989 und 2002 - dritten Mal wieder auflegt, würdigt er auch seinen Gründer - und Manganelli als (unklassischen) Klassiker. ANDREAS ROSSMANN
Giorgio Manganelli: "Irrläufe. Hundert Romane in Pillenform".
Aus dem Italienischen von Iris Schnebel-Kaschnitz, Nachwort von Klaus Wagenbach Zeichnungen von Tullio Pericoli. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022. 160 S., Abb., br., 22,- Euro.
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