Irrtum als Erkenntnis eine intellektuelle Autobiographie, die sich mit den prägenden Ideologien und Glaubensfragen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt.
Teil i beschreibt den Bildungsweg eines Außenseiters in der ddr. Teil ii versammelt Essays und Aphorismen von kristalliner Schönheit und Gedankenschärfe. Teil iii umfaßt drei Vorträge, die im wesentlichen um Sinn und Aufgabe von Kunst und Wissenschaft heute kreisen."
Teil i beschreibt den Bildungsweg eines Außenseiters in der ddr. Teil ii versammelt Essays und Aphorismen von kristalliner Schönheit und Gedankenschärfe. Teil iii umfaßt drei Vorträge, die im wesentlichen um Sinn und Aufgabe von Kunst und Wissenschaft heute kreisen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2003Kein Mythos, nirgends
Wiedereroberung des Schreibens: Hartmut Langes Novellen
In dem bemerkenswerten Aufsatz über seine "Realitätserfahrung als Schriftsteller" schreibt Hartmut Lange, daß Hegel seine preußische Welt deshalb als kunstunfähig definiert habe, weil sie zu vernünftig gewesen sei; und Marx habe, Hegel fortschreibend und bekanntlich vom Kopf auf die Füße stellend, "alles Geschichtliche einer Tendenz zum sozialen Gewissen untergeordnet". Dieser Marxschen Determination stimmte Lange einmal "begeistert" zu, weil er sich von solcher Weltdeutung ein "neues, ein gerechteres Zeitalter" erhoffte, und schrieb Theaterstücke, die die Wirklichkeit ideologisch formatierten.
Doch Langes individuelle Befindlichkeit und subjektive Leidenschaft suchten nach einer Transzendenz von zwingenderer als bloß ideologischer Setzung - und fanden bei Nietzsche die Formulierung einer "Willkür des Subjektiven", einer "Existenz aus dem Regellosen". Langes Blick auf die Wirklichkeit verschob sich aus einer pseudoobjektiven in eine subjektive Perspektive - der idealistische Marxist hatte die DDR inzwischen verlassen und war im Westen, der ihn mit seinen gleichsam individualisierten sozialistischen Prinzipien nicht annahm, in eine Sinnkrise verfallen. Er war einige Jahre krank, schreibt nun von einer damaligen "Lebensdepression, die nicht durch irgendwelche Verdrängungen entstanden war und die also auch nicht wegtherapiert werden konnte".
Mit Ausnahme einer einzigen Therapie: der Wiedereroberung des Schreibens. Doch nun entstanden keine Theaterstücke mehr, die durch ihre objektive Form nach abbildbarer Eindeutigkeit geradezu verlangen; Lange begann statt dessen Novellen zu verfassen, in denen das Grundlose, Unerklärliche, der subjektiv empfundene, aber begrifflich nicht faßbare Nihilismus seiner Existenzempfindung zwar auch nicht erklärt, aber als Bodenlosigkeit poetisch umspielt werden konnte. So entstanden in siebzehn Jahren vierundzwanzig Novellen, die nun der Diogenes Verlag in einer schönen zweibändigen Ausgabe versammelt hat.
Ich habe manche von Langes Novellen im Abstand der Jahre, so wie sie erschienen, immer wieder mit Interesse gelesen, aber auch mit einer gewissen Ratlosigkeit aus der Hand gelegt. Nun aber, nachdem ich mich mit Langes gesamter Novellistik in wenigen Tagen noch einmal, und nun kompakt, beschäftigt habe, stellte sich das Gefühl einer merkwürdigen Gleichförmigkeit ein, die sich auch als erzählerische Mode, um nicht zu sagen: Masche, entpuppt. Fast alle Figuren in diesen Novellen nämlich sind eigentlich an nichts interessiert, sondern sie folgen bloß Langes Erzählstrategie, sind gleichsam ihre Funktionäre. Sie sind zwar meist sehr genau, detailliert, durchaus gekonnt beschrieben, sind aber nicht in sozialen Ambientes verankert, agieren in einem leeren Raum - weder wird ihr Lebenswurzelgrund noch ihre geistige Welt erkennbar, sie sind unauslotbar und wirken zuweilen geradezu autistisch; ihnen fehlt jede literarische Transzendenz.
Die Erzählstrategie, der sie folgen, ist immer darauf aus, Geheimnisvolles zu evozieren: das Unerklärliche, den metaphysischen Raum - aber sie vermag es nie, dieses Geheimnis auch zu errichten. So leben diese Novellen eine Zeitlang von einem Geheimnis, das sie entwerfen, aber dann doch nicht gestalten. Das Versprechen, das sie geben, lösen sie nicht ein.
Dazu paßt, daß Lange seine Protagonisten zwar mit obsessiven Verhaltensweisen ausstattet, aber ihre Obsessionen weder ergründet noch ihre Gründe auch nur ahnen läßt. Und so leer wie diese Obsessionen wirken am Ende auch seine Geschichten, denn die geheimnisproduzierenden Löcher, die da entstehen, werden erzählerisch nicht gefüllt, Erzählfäden werden ausgelegt, aber am Ende nicht verknüpft. Das scheinbare Geheimnis löst sich in Nichts auf, ohne wirklich aufgedeckt zu werden - kein Mythos entsteht. Die Erwartungen, die da im Leser geweckt werden, bleiben unerfüllt.
Vielleicht ist gerade dies Langes Absicht: die Hoffnung auf Rettung zu zerstören, den Mythos abzuwehren, die Metaphysik als leeren Raum zu denunzieren. Aber diese Absicht bleibt, so sie überhaupt besteht, Theorie; literarisch umgesetzt wird sie nicht.
Dabei schreibt Lange überaus bewußt: Seine Sätze haben musikalische und rhythmische Qualität, doch sein Stil ist zu sichtbar elaboriert - das nimmt ihm die Emotion, die freie Bewegung, das Spielerische. Und so muten seine Novellen, so kompakt gelesen, streng an, wie schöne, aber leblose Kunstfiguren in einem verlorenen Park oder auch wie Modelle, die etwas beweisen sollen - aber Modelle für was, und für welchen Beweis?
HEINZ LUDWIG ARNOLD.
Hartmut Lange: "Irrtum als Erkenntnis". Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 200 S., br., 17,90 [Euro].
Hartmut Lange: "Gesammelte Novellen in zwei Bänden". Diogenes Verlag, Zürich 2002. 547, 587 S., Kass., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiedereroberung des Schreibens: Hartmut Langes Novellen
In dem bemerkenswerten Aufsatz über seine "Realitätserfahrung als Schriftsteller" schreibt Hartmut Lange, daß Hegel seine preußische Welt deshalb als kunstunfähig definiert habe, weil sie zu vernünftig gewesen sei; und Marx habe, Hegel fortschreibend und bekanntlich vom Kopf auf die Füße stellend, "alles Geschichtliche einer Tendenz zum sozialen Gewissen untergeordnet". Dieser Marxschen Determination stimmte Lange einmal "begeistert" zu, weil er sich von solcher Weltdeutung ein "neues, ein gerechteres Zeitalter" erhoffte, und schrieb Theaterstücke, die die Wirklichkeit ideologisch formatierten.
Doch Langes individuelle Befindlichkeit und subjektive Leidenschaft suchten nach einer Transzendenz von zwingenderer als bloß ideologischer Setzung - und fanden bei Nietzsche die Formulierung einer "Willkür des Subjektiven", einer "Existenz aus dem Regellosen". Langes Blick auf die Wirklichkeit verschob sich aus einer pseudoobjektiven in eine subjektive Perspektive - der idealistische Marxist hatte die DDR inzwischen verlassen und war im Westen, der ihn mit seinen gleichsam individualisierten sozialistischen Prinzipien nicht annahm, in eine Sinnkrise verfallen. Er war einige Jahre krank, schreibt nun von einer damaligen "Lebensdepression, die nicht durch irgendwelche Verdrängungen entstanden war und die also auch nicht wegtherapiert werden konnte".
Mit Ausnahme einer einzigen Therapie: der Wiedereroberung des Schreibens. Doch nun entstanden keine Theaterstücke mehr, die durch ihre objektive Form nach abbildbarer Eindeutigkeit geradezu verlangen; Lange begann statt dessen Novellen zu verfassen, in denen das Grundlose, Unerklärliche, der subjektiv empfundene, aber begrifflich nicht faßbare Nihilismus seiner Existenzempfindung zwar auch nicht erklärt, aber als Bodenlosigkeit poetisch umspielt werden konnte. So entstanden in siebzehn Jahren vierundzwanzig Novellen, die nun der Diogenes Verlag in einer schönen zweibändigen Ausgabe versammelt hat.
Ich habe manche von Langes Novellen im Abstand der Jahre, so wie sie erschienen, immer wieder mit Interesse gelesen, aber auch mit einer gewissen Ratlosigkeit aus der Hand gelegt. Nun aber, nachdem ich mich mit Langes gesamter Novellistik in wenigen Tagen noch einmal, und nun kompakt, beschäftigt habe, stellte sich das Gefühl einer merkwürdigen Gleichförmigkeit ein, die sich auch als erzählerische Mode, um nicht zu sagen: Masche, entpuppt. Fast alle Figuren in diesen Novellen nämlich sind eigentlich an nichts interessiert, sondern sie folgen bloß Langes Erzählstrategie, sind gleichsam ihre Funktionäre. Sie sind zwar meist sehr genau, detailliert, durchaus gekonnt beschrieben, sind aber nicht in sozialen Ambientes verankert, agieren in einem leeren Raum - weder wird ihr Lebenswurzelgrund noch ihre geistige Welt erkennbar, sie sind unauslotbar und wirken zuweilen geradezu autistisch; ihnen fehlt jede literarische Transzendenz.
Die Erzählstrategie, der sie folgen, ist immer darauf aus, Geheimnisvolles zu evozieren: das Unerklärliche, den metaphysischen Raum - aber sie vermag es nie, dieses Geheimnis auch zu errichten. So leben diese Novellen eine Zeitlang von einem Geheimnis, das sie entwerfen, aber dann doch nicht gestalten. Das Versprechen, das sie geben, lösen sie nicht ein.
Dazu paßt, daß Lange seine Protagonisten zwar mit obsessiven Verhaltensweisen ausstattet, aber ihre Obsessionen weder ergründet noch ihre Gründe auch nur ahnen läßt. Und so leer wie diese Obsessionen wirken am Ende auch seine Geschichten, denn die geheimnisproduzierenden Löcher, die da entstehen, werden erzählerisch nicht gefüllt, Erzählfäden werden ausgelegt, aber am Ende nicht verknüpft. Das scheinbare Geheimnis löst sich in Nichts auf, ohne wirklich aufgedeckt zu werden - kein Mythos entsteht. Die Erwartungen, die da im Leser geweckt werden, bleiben unerfüllt.
Vielleicht ist gerade dies Langes Absicht: die Hoffnung auf Rettung zu zerstören, den Mythos abzuwehren, die Metaphysik als leeren Raum zu denunzieren. Aber diese Absicht bleibt, so sie überhaupt besteht, Theorie; literarisch umgesetzt wird sie nicht.
Dabei schreibt Lange überaus bewußt: Seine Sätze haben musikalische und rhythmische Qualität, doch sein Stil ist zu sichtbar elaboriert - das nimmt ihm die Emotion, die freie Bewegung, das Spielerische. Und so muten seine Novellen, so kompakt gelesen, streng an, wie schöne, aber leblose Kunstfiguren in einem verlorenen Park oder auch wie Modelle, die etwas beweisen sollen - aber Modelle für was, und für welchen Beweis?
HEINZ LUDWIG ARNOLD.
Hartmut Lange: "Irrtum als Erkenntnis". Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 200 S., br., 17,90 [Euro].
Hartmut Lange: "Gesammelte Novellen in zwei Bänden". Diogenes Verlag, Zürich 2002. 547, 587 S., Kass., geb., 34,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Bemerkenswert findet Rezensent Heinz Ludwig Arnold die Gedanken Hartmut Langes über seine "Realitätserfahrung als Schriftsteller". Der Rezensent zeichnet kurz ein paar Grundgedanken des Buches nach, bei dem es sich wohl auch um so etwas wie eine politische Biografie des Schriftstellers handelt. Arnold verfolgt den von Lange beschriebenen ideologischen Weg von Hegel über Marx bis hin zu "gleichsam individualisierten sozialistischen Prinzipien", mit denen der aus der DDR in die BRD gewechselte Autor sich aber später im Westen nicht angenommen fühlte. Einen gewissen Lesegenuss scheint dem Rezensenten auch das im Buch enthaltene "Grundlose, Unerklärliche", der "sichtlich nicht fassbare Nihilismus der Existenzempfindung" verschafft zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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»Der Meister unter den phantastischen Rationalisten.« Edelgard Abenstein / Deutschlandradio Kultur Deutschlandradio Kultur