Dr. Isidor Geller hat es geschafft: Er ist Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, Multimillionär, Opernfreund und Kunstsammler und nach zwei gescheiterten Ehen Liebhaber einer wunderschönen Sängerin. Weit ist der Weg, den er aus dem hintersten, ärmlichsten Winkel Galiziens zurückgelegt hat, vom Schtetl in die obersten Kreise Wiens. Ihm kann keiner etwas anhaben, davon ist Isidor überzeugt. Und schon gar nicht diese vulgären Nationalsozialisten.
»Behutsam tasted sich Shelly Kupferberg an Isidors Schicksal heran, erzählt nicht nur von ihm, sondern auch von den Menschen um ihn herum.« Bettina Baltschev / MDR Kultur MDR Kultur
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Rose-Maria Gropp applaudiert Shelly Kupferberg für ein berührendes Buch über ihre eigene Familiengeschichte: Kupferbergs Urgroßonkel kam aus der tiefsten jüdischen Provinz, änderte seinen Namen von Israel zu Isidor und legte dann einen erstaunlichen und nahezu kometenhaften Aufstieg in der Wiener Haute Volée hin. Beeindruckt erzählt Gropp von der aufopferungsvollen Art, mit der sich der Kommerzienrat um seine Familie kümmerte: So zahlte er zum Beispiel dem Großvater der Autorin, Walter, sein Studium. Dieser hat ihr Isidors Lebensgeschichte erzählt und sie letztendlich motiviert, dieses Buch auch mithilfe von Archivmaterialien zu schreiben. Der Lebemann, einst geschätzt, beliebt und wohlhabend, wird Opfer der Nazis, er muss seinen ganzen Besitz aufgeben, wird gefoltert und stirbt schließlich entkräftet, bevor er die Flucht hätte antreten können, lernt die Kritikerin beinahe atemlos. Besonders erschüttert ist sie über eine Episode, die sich für Walter nach Kriegsende abspielt: Er kommt zum ersten Mal wieder nach Wien, die Nachbarn, die einige Möbelstücke der Familie haben, schlagen ihm, dem "Jud'", die Tür vor der Nase zu. Eine große Geschichte, die den ihr gebührenden Platz in der Holocaust-Literatur finden wird, schließt Gropp.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2023Geraubte Leben
Was ist mit all den Vasen, Tischen, Tassen passiert, die die Nazis
ihrem Urgroßonkel genommen haben? Shelly Kupferberg
hat recherchiert– und einen Roman darüber geschrieben
VON VERENA MAYER
Als der Mann 1956 wieder in seiner Heimatstadt Wien war, das erste Mal nach den Jahren der Verfolgung und Vertreibung, fuhr er zu der Wohnung, in der er bis 1938 mit seiner Familie gelebt hatte. Er klingelte, eine fremde Frau öffnete. Sie wurde blass und rief: „Der Jud’ is wieder do!“ Kurz bevor sie dem Mann die Tür vor der Nase zuknallte, konnte der noch einen Blick auf die Möbel in der Wohnung werfen. Sie stammten von seinen Eltern und ihren früheren jüdischen Nachbarn.
Es ist eine wahre Geschichte, die Shelly Kupferberg in ihrem ersten Roman „Isidor – Ein jüdisches Leben“ verarbeitet hat. Kupferberg trägt sie gerne vor, wenn sie auf Lesereise ist, und sie hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Sobald sie vor einem nicht-jüdischen Publikum steht, sind die Leute geschockt von der Niedertracht der Nachkriegsjahre. Bei einem jüdischen Publikum ist die Reaktion immer: Ach ja, das war in unserer Familie genauso. Und dann bekommt sie die Geschichten dazu erzählt. Von der Frau etwa, die ihr Haus nach der Rückkehr aus dem Exil leergeräumt vorfand. Sie rief einen Polizisten und ging mit ihm von Nachbar zu Nachbar, um ihren Besitz zusammenzusuchen. Der eine hatte ihr Bett, der andere ihren Tisch, der dritte ihre Stühle.
Kupferbergs Großvater reiste damals ernüchtert zurück nach Israel. Vom früheren Besitz der Familie war nur ein mit rotem Samt ausgeschlagener Kasten Silberbesteck für 24 Personen geblieben. Der stand bei Kupferbergs Familie in Israel und wurde zum Pessachessen hervorgezogen. Shelly Kupferberg erinnert sich noch gut an das große rote Teil. Wie unförmig es war und wie wenig es zum pragmatischen Lebensstil ihrer Großeltern passte.
Dieser Besteckkasten war aber auch das letzte Verbindungsstück, das die Familie mit ihrem früheren Leben in Westeuropa verband. Und Kupferberg stellte sich die Frage: Was passierte mit den vielen alltäglichen Dingen, die jüdischen Familien geraubt wurden, mit Möbeln, Bildern, Geschirr, Kleidung, Büchern? Wo sind sie heute, und welche Geschichten sind mit ihnen verbunden?
Kupferberg, 48, kommt zum Gespräch in ein Café in der Nähe des Kurfürstendamms. Die Kulturjournalistin wuchs in Berlin als Kind eines israelischen Paares auf, das sich am Goethe-Institut in Tel Aviv kennengelernt hatte, weil die Eltern der beiden fanden: Jetzt lernt mal richtig Deutsch. Zusammen gingen sie in den Siebzigerjahren nach West-Berlin. Sie wollten ein Jahr im Ausland verbringen, blieben dann aber ein Leben.
Kupferberg lernte die Brüche kennen, die eine deutsch-österreichisch-jüdisch-israelische Familiengeschichte mit sich bringen kann. Wenn sie in Israel bei ihrem Großvater war, schwelgte der in der Welt von gestern, er hatte eine riesige deutschsprachige Bibliothek und erzählte vom Wiener Burgtheater. In Berlin erlebte sie, wie die Mauer fiel und ihr Vater sagte: Kinder, es ist so weit, jetzt wird Deutschland wieder groß und gefährlich, für Menschen wie uns ist kein Platz mehr. Am nächsten Tag fuhr Kupferberg mit ihrer Schulklasse zur Mauer, wo sich alle in den Armen lagen und das Begrüßungsgeld verfeierten, „aber ich war wie bedröppelt, weil ich die Worte meines Vaters im Kopf hatte“.
Kupferberg erzählt das, weil sie die Ambivalenzen schildern will, „die zwar für jeden Menschen existieren, für jüdische Menschen aber offensichtlicher“ seien. Ambivalenzen, zu denen man sich verhalten müsse, vor allem in einer Stadt wie Berlin, in der man bei jedem Schritt auf die Spuren der Geschichte stoße.
In der Pubertät habe sie sich wie viele jüdische Jugendliche auf Wurzelsuche begeben, das aber irgendwann „eingekapselt“, weil es sich nicht gut anfühlte und sie gerne in Berlin lebte. Je älter sie wurde, desto drängender seien die Fragen geworden. Was für eine Geschichte wohl die Gebäude haben, in denen sie sich täglich aufhält? Aus welchen Familien stammen die Leute, mit denen sie zu tun hat, wie wurde da früher über Juden gesprochen?
Dazu kamen Ereignisse wie der 11. September oder der Gaza-Krieg, nach denen selbst unter linken Intellektuellen wieder Dinge über Juden und Israel sagbar wurden, die sie nicht für möglich hielt, sagt Kupferberg. Sie habe sich gefragt: „Wo stehen wir eigentlich in der Erinnerungskultur, und wie stehe ich dazu?“
Als Kupferberg vor einigen Jahren eine Tagung über NS-Raubkunst moderierte, fiel ihr der Wiener Urgroßonkel ein, von dem es in der Familie hieß, ihm habe der große rote Besteckkasten gehört. Dieser Isidor hatte in einem Palais gelebt, war schwerreich und in der High Society unterwegs gewesen. Kupferberg dachte, dass so jemand auch Kunst besessen haben muss, und begann ihre eigene Art der Provenienzforschung. Sie wühlte in Archiven und auf dem Dachboden ihrer Familie, sichtete Briefe und Behördenunterlagen.
Herausgekommen ist ein Roman im Stil der Autofiktion, in dem Kupferberg das Leben von Isidor Geller anhand von Originaldokumenten nachzeichnet, literarisch anreichert und mit ihrer eigenen Familiengeschichte verwebt. Kupferberg gelingt dabei eine interessante Deutung des Fin de Siècle. Das Wien Isidor Gellers ist nicht nur die klassische kaffeehaus- und weinselige Stadt von Jugendstil, Salondamen und absehbaren politischen Umbrüchen, sondern vor allem ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten.
Isidor stammte aus einem Shtetl in Galizien, wo er wie die anderen Jungen in der Familie die Thora studieren sollte. Doch er brach aus und ging in die Metropole, wo er seinen Namen Israel gegen Isidor austauschte und sein Leben in die Hand nahm. Vom Tellerwäscher zum Millionär, beziehungsweise vom Jurastudenten zum kriegswichtigen Lederfabrikanten und schließlich Kommerzialrat, der in den höchsten Kreisen verkehrte. „Es gab in Wien einen gesellschaftlichen Humus, der für Juden einiges bot“, sagt Kupferberg, „so eine Selfmade-Stimmung: Man kann es schaffen“. Kupferberg rekonstruiert nicht nur Isidors Karriere und seine Beziehungen, darunter eine Affäre mit einer Operettensängerin, die später nach Hollywood ging. Sondern sie stattet Isidors Leben auch richtiggehend aus. Ihr Roman ist voll von Schilderungen der Räume, durch die er sich bewegt, und der Dinge, mit denen er sich umgab. Möglich ist das, weil sie die Vermögenserklärung hatte, die Isidor 1938 für die Nazis abgeben musste.
„Ich finde sie im Archiv des Bundesdenkmalamtes Wien und lasse vor meinem geistigen Auge Isidors übrig gebliebenen Hausstand vorbeiziehen“, heißt es im Roman. „Angefangen bei den großen Möbeln wie Sofas, Schreib- und Esstischen, Schränken, Vitrinen und Fauteuils, einem Messing- und Doppelbett, einem Toilettentisch. Aber auch Diwanpolster sind aufgelistet, Glasbonbonnieren, eine japanische Vase, Spiegel, ein Harmonium, Plumeaus (...). Und 400 Bücher, 26 Ölbilder, 16 Nippes, ein Klavier, Elfenbeinfiguren, Lüster, Terracottavasen, Radierungen.“
Anhand dieser Listen habe sie sein gesamtes Interieur schwarz auf weiß gehabt, sagt Kupferberg, „ich konnte nachvollziehen, was in den zehn Zimmern seines Palais war“. Sie habe unzählige solcher Listen von Jüdinnen und Juden in den Archiven gefunden, und nicht nur das: Viele der geraubten Gegenstände lagern bis heute noch irgendwo. Allein auf der Website des Wien-Museums kann man sich mehrere PDFs herunterladen, in denen die Bestände aufgezählt sind, die nicht mehr zugeordnet werden können, Hunderte Ölgemälde, Radierungen und Kupferstiche.
Kupferberg sagt, diese Listen hätten sie angefasst: „Unsere Depots und Archive sind voll mit herrenlosen Dingen, man weiß nur, sie wurden geraubt. Das steht alles da und wartet darauf, dass es jemand wiederfindet.“ Geschätzt 600 000 Kunstwerke haben die Nazis geraubt, ein Bruchteil davon wurde zurückgegeben. Zwar habe sich bei den berühmten Kunstwerken einiges getan, Gemälde wie Klimts „Goldene Adele“ wurden nach Jahrzehnten zurückgegeben. Anders verhalte es sich mit den alltäglichen Dingen: „Da wurde ein Krümel von einem Mount Everest aufgearbeitet, da stehen wir ganz am Anfang.“
Kupferberg geht es um eine grundsätzliche Frage: Mit welchen Dingen umgibt man sich, was findet man auf Flohmärkten, was hat es mit Erbstücken auf sich? „Man muss die Unschuld der Dinge infrage stellen.“ Die wenigsten Dinge aus dieser Zeit seien schließlich unschuldig. Ihr Urgroßonkel Isidor musste nach dem Einmarsch Hitlers 1938 in Österreich sein Eigentum den Nazis überschreiben und zusehen, wie seine Bilder, Möbel und Teppiche aus dem Palais abtransportiert wurden. Er wurde verhaftet und gefoltert, ein halbes Jahr später starb er an den Folgen der dreimonatigen Haft, Kupferberg nennt es einen „Mord auf Raten“.
Kupferberg wünscht sich, dass die Bestände aus den Depots stärker aufgearbeitet werden, dass es so etwas wie eine „Restitution der alltäglichen Dinge“ gibt. Nicht nur, damit Unrecht gesühnt wird. Sondern auch, weil an den kleinen Dingen oft große Erinnerungen hängen. Sie erzählt, dass in einer Berliner Bibliothek, die nach Raubgut durchforstet wurde, einmal ein Kinderbuch entdeckt wurde, in dem eine Widmung mit einem Namen stand. Die Bibliothek machte einen Mann ausfindig, der in den USA lebte und inzwischen über 90 war. Es stellte sich heraus, dass er in Berlin geboren war, mehrere Konzentrationslager überlebt hatte und nur ein einziges Foto und seine KZ-Kleidung besaß, als er in die USA auswanderte. Das Buch brachte ihm, erzählt Kupferberg, nicht nur ein Stück seiner Vergangenheit zurück, es sei auch der Auslöser gewesen, sich mit seinem Schicksal zu beschäftigen und als Zeitzeuge Schülern davon zu erzählen. Es gebe so viele Lücken in Biografien, die man durch die Rückgabe von Alltagsgegenstände füllen könne, sagt Kupferberg. „Restitution kann auch die Möglichkeit der Erinnerung sein.“
„Da wurde ein Krümel
von einem Mount
Everest aufgearbeitet.“
Sie sichtete Briefe,
wühlte in Archiven
und auf Dachböden
Kulturjournalistin Shelly Kupferberg wuchs in Berlin als Kind eines israelischen Paars auf,
das sich am Goethe- Institut in Tel Aviv kennengelernt hatte.
In der Pubertät hat sie sich auf Wurzelsuche begeben. Foto: Imago/ Chromorange
Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben. Roman. Diogenes,
Zürich 2022.
253 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Was ist mit all den Vasen, Tischen, Tassen passiert, die die Nazis
ihrem Urgroßonkel genommen haben? Shelly Kupferberg
hat recherchiert– und einen Roman darüber geschrieben
VON VERENA MAYER
Als der Mann 1956 wieder in seiner Heimatstadt Wien war, das erste Mal nach den Jahren der Verfolgung und Vertreibung, fuhr er zu der Wohnung, in der er bis 1938 mit seiner Familie gelebt hatte. Er klingelte, eine fremde Frau öffnete. Sie wurde blass und rief: „Der Jud’ is wieder do!“ Kurz bevor sie dem Mann die Tür vor der Nase zuknallte, konnte der noch einen Blick auf die Möbel in der Wohnung werfen. Sie stammten von seinen Eltern und ihren früheren jüdischen Nachbarn.
Es ist eine wahre Geschichte, die Shelly Kupferberg in ihrem ersten Roman „Isidor – Ein jüdisches Leben“ verarbeitet hat. Kupferberg trägt sie gerne vor, wenn sie auf Lesereise ist, und sie hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Sobald sie vor einem nicht-jüdischen Publikum steht, sind die Leute geschockt von der Niedertracht der Nachkriegsjahre. Bei einem jüdischen Publikum ist die Reaktion immer: Ach ja, das war in unserer Familie genauso. Und dann bekommt sie die Geschichten dazu erzählt. Von der Frau etwa, die ihr Haus nach der Rückkehr aus dem Exil leergeräumt vorfand. Sie rief einen Polizisten und ging mit ihm von Nachbar zu Nachbar, um ihren Besitz zusammenzusuchen. Der eine hatte ihr Bett, der andere ihren Tisch, der dritte ihre Stühle.
Kupferbergs Großvater reiste damals ernüchtert zurück nach Israel. Vom früheren Besitz der Familie war nur ein mit rotem Samt ausgeschlagener Kasten Silberbesteck für 24 Personen geblieben. Der stand bei Kupferbergs Familie in Israel und wurde zum Pessachessen hervorgezogen. Shelly Kupferberg erinnert sich noch gut an das große rote Teil. Wie unförmig es war und wie wenig es zum pragmatischen Lebensstil ihrer Großeltern passte.
Dieser Besteckkasten war aber auch das letzte Verbindungsstück, das die Familie mit ihrem früheren Leben in Westeuropa verband. Und Kupferberg stellte sich die Frage: Was passierte mit den vielen alltäglichen Dingen, die jüdischen Familien geraubt wurden, mit Möbeln, Bildern, Geschirr, Kleidung, Büchern? Wo sind sie heute, und welche Geschichten sind mit ihnen verbunden?
Kupferberg, 48, kommt zum Gespräch in ein Café in der Nähe des Kurfürstendamms. Die Kulturjournalistin wuchs in Berlin als Kind eines israelischen Paares auf, das sich am Goethe-Institut in Tel Aviv kennengelernt hatte, weil die Eltern der beiden fanden: Jetzt lernt mal richtig Deutsch. Zusammen gingen sie in den Siebzigerjahren nach West-Berlin. Sie wollten ein Jahr im Ausland verbringen, blieben dann aber ein Leben.
Kupferberg lernte die Brüche kennen, die eine deutsch-österreichisch-jüdisch-israelische Familiengeschichte mit sich bringen kann. Wenn sie in Israel bei ihrem Großvater war, schwelgte der in der Welt von gestern, er hatte eine riesige deutschsprachige Bibliothek und erzählte vom Wiener Burgtheater. In Berlin erlebte sie, wie die Mauer fiel und ihr Vater sagte: Kinder, es ist so weit, jetzt wird Deutschland wieder groß und gefährlich, für Menschen wie uns ist kein Platz mehr. Am nächsten Tag fuhr Kupferberg mit ihrer Schulklasse zur Mauer, wo sich alle in den Armen lagen und das Begrüßungsgeld verfeierten, „aber ich war wie bedröppelt, weil ich die Worte meines Vaters im Kopf hatte“.
Kupferberg erzählt das, weil sie die Ambivalenzen schildern will, „die zwar für jeden Menschen existieren, für jüdische Menschen aber offensichtlicher“ seien. Ambivalenzen, zu denen man sich verhalten müsse, vor allem in einer Stadt wie Berlin, in der man bei jedem Schritt auf die Spuren der Geschichte stoße.
In der Pubertät habe sie sich wie viele jüdische Jugendliche auf Wurzelsuche begeben, das aber irgendwann „eingekapselt“, weil es sich nicht gut anfühlte und sie gerne in Berlin lebte. Je älter sie wurde, desto drängender seien die Fragen geworden. Was für eine Geschichte wohl die Gebäude haben, in denen sie sich täglich aufhält? Aus welchen Familien stammen die Leute, mit denen sie zu tun hat, wie wurde da früher über Juden gesprochen?
Dazu kamen Ereignisse wie der 11. September oder der Gaza-Krieg, nach denen selbst unter linken Intellektuellen wieder Dinge über Juden und Israel sagbar wurden, die sie nicht für möglich hielt, sagt Kupferberg. Sie habe sich gefragt: „Wo stehen wir eigentlich in der Erinnerungskultur, und wie stehe ich dazu?“
Als Kupferberg vor einigen Jahren eine Tagung über NS-Raubkunst moderierte, fiel ihr der Wiener Urgroßonkel ein, von dem es in der Familie hieß, ihm habe der große rote Besteckkasten gehört. Dieser Isidor hatte in einem Palais gelebt, war schwerreich und in der High Society unterwegs gewesen. Kupferberg dachte, dass so jemand auch Kunst besessen haben muss, und begann ihre eigene Art der Provenienzforschung. Sie wühlte in Archiven und auf dem Dachboden ihrer Familie, sichtete Briefe und Behördenunterlagen.
Herausgekommen ist ein Roman im Stil der Autofiktion, in dem Kupferberg das Leben von Isidor Geller anhand von Originaldokumenten nachzeichnet, literarisch anreichert und mit ihrer eigenen Familiengeschichte verwebt. Kupferberg gelingt dabei eine interessante Deutung des Fin de Siècle. Das Wien Isidor Gellers ist nicht nur die klassische kaffeehaus- und weinselige Stadt von Jugendstil, Salondamen und absehbaren politischen Umbrüchen, sondern vor allem ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten.
Isidor stammte aus einem Shtetl in Galizien, wo er wie die anderen Jungen in der Familie die Thora studieren sollte. Doch er brach aus und ging in die Metropole, wo er seinen Namen Israel gegen Isidor austauschte und sein Leben in die Hand nahm. Vom Tellerwäscher zum Millionär, beziehungsweise vom Jurastudenten zum kriegswichtigen Lederfabrikanten und schließlich Kommerzialrat, der in den höchsten Kreisen verkehrte. „Es gab in Wien einen gesellschaftlichen Humus, der für Juden einiges bot“, sagt Kupferberg, „so eine Selfmade-Stimmung: Man kann es schaffen“. Kupferberg rekonstruiert nicht nur Isidors Karriere und seine Beziehungen, darunter eine Affäre mit einer Operettensängerin, die später nach Hollywood ging. Sondern sie stattet Isidors Leben auch richtiggehend aus. Ihr Roman ist voll von Schilderungen der Räume, durch die er sich bewegt, und der Dinge, mit denen er sich umgab. Möglich ist das, weil sie die Vermögenserklärung hatte, die Isidor 1938 für die Nazis abgeben musste.
„Ich finde sie im Archiv des Bundesdenkmalamtes Wien und lasse vor meinem geistigen Auge Isidors übrig gebliebenen Hausstand vorbeiziehen“, heißt es im Roman. „Angefangen bei den großen Möbeln wie Sofas, Schreib- und Esstischen, Schränken, Vitrinen und Fauteuils, einem Messing- und Doppelbett, einem Toilettentisch. Aber auch Diwanpolster sind aufgelistet, Glasbonbonnieren, eine japanische Vase, Spiegel, ein Harmonium, Plumeaus (...). Und 400 Bücher, 26 Ölbilder, 16 Nippes, ein Klavier, Elfenbeinfiguren, Lüster, Terracottavasen, Radierungen.“
Anhand dieser Listen habe sie sein gesamtes Interieur schwarz auf weiß gehabt, sagt Kupferberg, „ich konnte nachvollziehen, was in den zehn Zimmern seines Palais war“. Sie habe unzählige solcher Listen von Jüdinnen und Juden in den Archiven gefunden, und nicht nur das: Viele der geraubten Gegenstände lagern bis heute noch irgendwo. Allein auf der Website des Wien-Museums kann man sich mehrere PDFs herunterladen, in denen die Bestände aufgezählt sind, die nicht mehr zugeordnet werden können, Hunderte Ölgemälde, Radierungen und Kupferstiche.
Kupferberg sagt, diese Listen hätten sie angefasst: „Unsere Depots und Archive sind voll mit herrenlosen Dingen, man weiß nur, sie wurden geraubt. Das steht alles da und wartet darauf, dass es jemand wiederfindet.“ Geschätzt 600 000 Kunstwerke haben die Nazis geraubt, ein Bruchteil davon wurde zurückgegeben. Zwar habe sich bei den berühmten Kunstwerken einiges getan, Gemälde wie Klimts „Goldene Adele“ wurden nach Jahrzehnten zurückgegeben. Anders verhalte es sich mit den alltäglichen Dingen: „Da wurde ein Krümel von einem Mount Everest aufgearbeitet, da stehen wir ganz am Anfang.“
Kupferberg geht es um eine grundsätzliche Frage: Mit welchen Dingen umgibt man sich, was findet man auf Flohmärkten, was hat es mit Erbstücken auf sich? „Man muss die Unschuld der Dinge infrage stellen.“ Die wenigsten Dinge aus dieser Zeit seien schließlich unschuldig. Ihr Urgroßonkel Isidor musste nach dem Einmarsch Hitlers 1938 in Österreich sein Eigentum den Nazis überschreiben und zusehen, wie seine Bilder, Möbel und Teppiche aus dem Palais abtransportiert wurden. Er wurde verhaftet und gefoltert, ein halbes Jahr später starb er an den Folgen der dreimonatigen Haft, Kupferberg nennt es einen „Mord auf Raten“.
Kupferberg wünscht sich, dass die Bestände aus den Depots stärker aufgearbeitet werden, dass es so etwas wie eine „Restitution der alltäglichen Dinge“ gibt. Nicht nur, damit Unrecht gesühnt wird. Sondern auch, weil an den kleinen Dingen oft große Erinnerungen hängen. Sie erzählt, dass in einer Berliner Bibliothek, die nach Raubgut durchforstet wurde, einmal ein Kinderbuch entdeckt wurde, in dem eine Widmung mit einem Namen stand. Die Bibliothek machte einen Mann ausfindig, der in den USA lebte und inzwischen über 90 war. Es stellte sich heraus, dass er in Berlin geboren war, mehrere Konzentrationslager überlebt hatte und nur ein einziges Foto und seine KZ-Kleidung besaß, als er in die USA auswanderte. Das Buch brachte ihm, erzählt Kupferberg, nicht nur ein Stück seiner Vergangenheit zurück, es sei auch der Auslöser gewesen, sich mit seinem Schicksal zu beschäftigen und als Zeitzeuge Schülern davon zu erzählen. Es gebe so viele Lücken in Biografien, die man durch die Rückgabe von Alltagsgegenstände füllen könne, sagt Kupferberg. „Restitution kann auch die Möglichkeit der Erinnerung sein.“
„Da wurde ein Krümel
von einem Mount
Everest aufgearbeitet.“
Sie sichtete Briefe,
wühlte in Archiven
und auf Dachböden
Kulturjournalistin Shelly Kupferberg wuchs in Berlin als Kind eines israelischen Paars auf,
das sich am Goethe- Institut in Tel Aviv kennengelernt hatte.
In der Pubertät hat sie sich auf Wurzelsuche begeben. Foto: Imago/ Chromorange
Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben. Roman. Diogenes,
Zürich 2022.
253 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2023Einer mehr, der es nicht wahrhaben wollte
Kein Roman, sondern ein literarisch gefasster Bericht: Shelly Kupferberg berichtet in "Isidor" über ein jüdisches Leben in Wien, das die Nationalsozialisten vernichteten
"Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel. Doch dieser Name war zu verräterisch. Also Isidor oder Innozenz oder Ignaz. Er war ein Emporkömmling, exzentrisch, ein Parvenü, ein Multimillionär, hier und da ein Hochstapler, ein Mann der Tat und von Welt, er war eigensinnig und voller Stolz. Wie sonst lässt sich sein Aufstieg aus dem hinterletzten ärmlichen Winkel Ostgaliziens bis in die K.-u.-k.-Metropole Wien zum Kommerzienrat und wirtschaftlichen Berater des österreichischen Staates erklären?" So beginnt Shelly Kupferberg ihr Buch "Isidor - Ein jüdisches Leben".
Der "hinterletzte Winkel", in dem Isidor Ende des neunzehnten Jahrhunderts geboren wurde, heißt Lokutni in der Nähe von Lemberg, das heute Lwiw heißt und in der Westukraine liegt. Der Vater war ein Talmudgelehrter, die Mutter brachte mit ihrer Arbeit die Familie mit fünf Kindern durch, die auch ihren Nachnamen Geller trugen, weil kein Standesamt bei einer orthodoxen Ehe infrage kam. Drei von ihnen werden es später aus der Enge des Schtetl nach Wien schaffen: Israel, eben Isidor, sein Bruder Rubin, fortan Rudolf, und die Schwester Fejge, die sich Franziska nennt. Ihr Sohn Walter, den dessen Onkel Isidor unter seine Fittiche nahm, war Shelly Kupferbergs Großvater, seinen Berichten verdankt sie viel für ihre aufwühlende Geschichte.
Shelly Kupferberg ist Journalistin, sie wollte wissen, wer dieser Urgroßonkel war, der keine eigenen Nachkommen hatte, und sie hat recherchiert, auch in Österreichs Archiven, die sich ihr hilfreich öffneten. Sie wollte sein Schicksal erkunden und auch herausfinden, wo die Kunstschätze und Antiquitäten, der wertvolle Besitz Isidors hingekommen sein könnten, der ein großes Haus in der Canovagasse, im 1. Bezirk von Wien, führte, in einem Rothschild-Palais. Dafür arbeitete sie mit Rekonstruktion und Imagination - ein "Puzzle" nennt sie das selbst, dessen Teile sie klug verschränkt zu einem Gesamtbild, das so auch über Isidor Gellers individuelle Vita hinausreicht. Die ihr anvertrauten Erinnerungen aus der Familie, die Belege aus den Dokumenten wechseln ab mit erzählerischen Passagen ohne jede Larmoyanz, zugleich mit der Schärfe, die der Katastrophe der Schoa angemessen ist. Deshalb ist "Isidor" kein Roman, sondern eine bewegende Studie von literarischem Rang.
Die Kupferberg leitende Frage heißt: Warum wollte ihr Urgroßonkel übersehen, was sich längst angekündigt hatte in Wien, eigentlich schon, als er dort Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ankam, noch vor dem "Anschluss" Österreichs 1938 durch die Nationalsozialisten? Sie erkundet die Wege seines Aufstiegs seit dem Ersten Weltkrieg, wo er aufgrund seiner Begabungen und seines kaufmännischen Geschicks zum Direktor in der Lederwarenbranche avancierte, als "Leiter eines Unternehmens, das die Rohstoffe für die Ausrüstung des Militärs herstellte", was ihn von der Front befreite. Sie sieht, dass er sein Vermögen nicht ohne gelegentliche Nebengeschäfte ansammeln konnte. Eine Ehe Isidors zerbricht da: "Doch nun war er frei, steinreich, und es begann der fröhliche Teil seines Lebens. Isidor war ein gemachter Mann, und das wollte er jedem zeigen, der es wissen wollte - oder auch nicht!" Vor allem aber sieht Kupferberg, dass Isidor die gefährliche Lage verkannte. Denn er hätte ahnen müssen, was ihm dann spätestens nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten drohte, zumal der Antisemitismus auch in Österreich längst nicht mehr zu übersehen war, und er hätte wohl die Mittel und Möglichkeiten gehabt, rechtzeitig zu fliehen.
Seine hohen Ambitionen und seine Begeisterung für die schönen Künste, allen voran die Oper, reißen ihn aber weiter mit im gesellschaftlichen Leben Wiens, weg von der Realität. Er gibt in seiner geräumigen Wohnung begehrte Dinner für die Hautevolee der Stadt, ist als Lebemann bekannt und fördert seine attraktive Geliebte Ilona Hajmássy, die aus einer verarmten ungarischen Familie kommt und als Sängerin dilettiert. Sie verlässt allerdings schon 1937 Wien Richtung Hollywood. Dort hat sie, nun als Ilona Massey, sogar einigen Erfolg, so wird sie 1949, mehr als zehn Jahre nach Isidors Tod, in dem Film "Love Happy" (deutsch: "Die Marx Brothers im Theater") mitspielen, in dem auch Marilyn Monroe einen kleinen Auftritt hatte.
Ihrem Großvater Walter, zu dem Isidor eine enge Beziehung aufbaute und dessen Studium er finanzierte, gibt Kupferberg die Rolle des jugendlichen Beobachters, der ihn auch zu warnen versuchte, als die Nationalsozialisten ihren Terror gegen die jüdische Bevölkerung von Wien begannen. Doch der Onkel blieb zu lange in seiner Verkennung oder Verdrängung der Lage verfangen, bis er 1938 von der Gestapo verhaftet wurde. In einem Schulgebäude, das als provisorisches Gefängnis diente, wurde er über Monate mit anderen Glaubensgenossen gequält und geprügelt, bis er schließlich die Übergabe seiner Wertpapiere unterschrieb. Seine eigenen jahrelangen Bediensteten hatten Isidor Geller zuvor denunziert. Shelly Kupferberg schildert das Geschehen in ruhigen Sätzen, die doch vor Abscheu vibrieren.
Er konnte in die Canovagasse zurückkehren, zu Tode entkräftet. Die Schwester Franziska blieb bei ihm, um ihn zu pflegen, auch sein Neffe Walter war bis zu dessen eigener Emigration nach Palästina an seiner Seite, während die Schergen des neuen Regimes die Bestände in der Wohnung, vom wertvollen Mobiliar bis hin zu "2 Sportpelzen (einer kurz, einer lang)" auf Listen katalogisierten. Alles wurde konfisziert, Isidor hätte es zurücklassen müssen, wenn er seinen nun doch gefassten Plan, Wien zu verlassen, noch hätte verwirklichen können. Was ihm verblieben war, wollte er an seine einstige Geliebte nach Hollywood verschicken, dazu kam es nicht mehr. Isidor Geller starb am 17. November 1938.
Shelly Kupferbergs Großvater war der Historiker Walter Grab, der 1971 das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv gründete und bis zu seiner Emeritierung 1986 leitete. Als er 1956 erstmals wieder nach Wien reiste, so berichtet sie gleich am Anfang, ging er zur elterlichen Wohnung am Bauernfeldplatz. Er fand den Namen des einstigen Hausbesorgerpaars, nun in einer höheren Etage, und klingelte. Als ihm die Frau an der Wohnungstür öffnete und ihn erkannte, rief sie: "Der Jud' is wieda doa!" und schlug die Tür zu. Im Hintergrund konnte Walter Möbel seiner Eltern ausmachen. Er blieb daraufhin im 1948 gegründeten Staat Israel, wo auch Kupferberg 1974 geboren wurde, die in Westberlin aufwuchs und heute noch lebt.
Im Buch erwähnt die Autorin die Fotoalben ihrer Großeltern, auf denen ihre Verwandten zu sehen sind, die sie - wie auch andere Gefährten des Urgroßonkels - in Nebensträngen einprägsam porträtiert. Man kann bedauern, dass keine Fotografien im Buch abgebildet sind, man hätte gern in diese Gesichter geschaut. Aber vielleicht wollte Shelly Kupferberg genau diese Einfühlung in ein Einzelschicksal vermeiden, um die Gültigkeit ihrer Geschichte darüber hinaus einzuschreiben ins Gedächtnis des Holocausts. Das ist ihr gelungen, auf ergreifende Weise. ROSE-MARIA GROPP
Shelly Kupferberg: "Isidor". Ein jüdisches Leben.
Diogenes Verlag, Zürich 2022. 247 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Roman, sondern ein literarisch gefasster Bericht: Shelly Kupferberg berichtet in "Isidor" über ein jüdisches Leben in Wien, das die Nationalsozialisten vernichteten
"Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel. Doch dieser Name war zu verräterisch. Also Isidor oder Innozenz oder Ignaz. Er war ein Emporkömmling, exzentrisch, ein Parvenü, ein Multimillionär, hier und da ein Hochstapler, ein Mann der Tat und von Welt, er war eigensinnig und voller Stolz. Wie sonst lässt sich sein Aufstieg aus dem hinterletzten ärmlichen Winkel Ostgaliziens bis in die K.-u.-k.-Metropole Wien zum Kommerzienrat und wirtschaftlichen Berater des österreichischen Staates erklären?" So beginnt Shelly Kupferberg ihr Buch "Isidor - Ein jüdisches Leben".
Der "hinterletzte Winkel", in dem Isidor Ende des neunzehnten Jahrhunderts geboren wurde, heißt Lokutni in der Nähe von Lemberg, das heute Lwiw heißt und in der Westukraine liegt. Der Vater war ein Talmudgelehrter, die Mutter brachte mit ihrer Arbeit die Familie mit fünf Kindern durch, die auch ihren Nachnamen Geller trugen, weil kein Standesamt bei einer orthodoxen Ehe infrage kam. Drei von ihnen werden es später aus der Enge des Schtetl nach Wien schaffen: Israel, eben Isidor, sein Bruder Rubin, fortan Rudolf, und die Schwester Fejge, die sich Franziska nennt. Ihr Sohn Walter, den dessen Onkel Isidor unter seine Fittiche nahm, war Shelly Kupferbergs Großvater, seinen Berichten verdankt sie viel für ihre aufwühlende Geschichte.
Shelly Kupferberg ist Journalistin, sie wollte wissen, wer dieser Urgroßonkel war, der keine eigenen Nachkommen hatte, und sie hat recherchiert, auch in Österreichs Archiven, die sich ihr hilfreich öffneten. Sie wollte sein Schicksal erkunden und auch herausfinden, wo die Kunstschätze und Antiquitäten, der wertvolle Besitz Isidors hingekommen sein könnten, der ein großes Haus in der Canovagasse, im 1. Bezirk von Wien, führte, in einem Rothschild-Palais. Dafür arbeitete sie mit Rekonstruktion und Imagination - ein "Puzzle" nennt sie das selbst, dessen Teile sie klug verschränkt zu einem Gesamtbild, das so auch über Isidor Gellers individuelle Vita hinausreicht. Die ihr anvertrauten Erinnerungen aus der Familie, die Belege aus den Dokumenten wechseln ab mit erzählerischen Passagen ohne jede Larmoyanz, zugleich mit der Schärfe, die der Katastrophe der Schoa angemessen ist. Deshalb ist "Isidor" kein Roman, sondern eine bewegende Studie von literarischem Rang.
Die Kupferberg leitende Frage heißt: Warum wollte ihr Urgroßonkel übersehen, was sich längst angekündigt hatte in Wien, eigentlich schon, als er dort Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ankam, noch vor dem "Anschluss" Österreichs 1938 durch die Nationalsozialisten? Sie erkundet die Wege seines Aufstiegs seit dem Ersten Weltkrieg, wo er aufgrund seiner Begabungen und seines kaufmännischen Geschicks zum Direktor in der Lederwarenbranche avancierte, als "Leiter eines Unternehmens, das die Rohstoffe für die Ausrüstung des Militärs herstellte", was ihn von der Front befreite. Sie sieht, dass er sein Vermögen nicht ohne gelegentliche Nebengeschäfte ansammeln konnte. Eine Ehe Isidors zerbricht da: "Doch nun war er frei, steinreich, und es begann der fröhliche Teil seines Lebens. Isidor war ein gemachter Mann, und das wollte er jedem zeigen, der es wissen wollte - oder auch nicht!" Vor allem aber sieht Kupferberg, dass Isidor die gefährliche Lage verkannte. Denn er hätte ahnen müssen, was ihm dann spätestens nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten drohte, zumal der Antisemitismus auch in Österreich längst nicht mehr zu übersehen war, und er hätte wohl die Mittel und Möglichkeiten gehabt, rechtzeitig zu fliehen.
Seine hohen Ambitionen und seine Begeisterung für die schönen Künste, allen voran die Oper, reißen ihn aber weiter mit im gesellschaftlichen Leben Wiens, weg von der Realität. Er gibt in seiner geräumigen Wohnung begehrte Dinner für die Hautevolee der Stadt, ist als Lebemann bekannt und fördert seine attraktive Geliebte Ilona Hajmássy, die aus einer verarmten ungarischen Familie kommt und als Sängerin dilettiert. Sie verlässt allerdings schon 1937 Wien Richtung Hollywood. Dort hat sie, nun als Ilona Massey, sogar einigen Erfolg, so wird sie 1949, mehr als zehn Jahre nach Isidors Tod, in dem Film "Love Happy" (deutsch: "Die Marx Brothers im Theater") mitspielen, in dem auch Marilyn Monroe einen kleinen Auftritt hatte.
Ihrem Großvater Walter, zu dem Isidor eine enge Beziehung aufbaute und dessen Studium er finanzierte, gibt Kupferberg die Rolle des jugendlichen Beobachters, der ihn auch zu warnen versuchte, als die Nationalsozialisten ihren Terror gegen die jüdische Bevölkerung von Wien begannen. Doch der Onkel blieb zu lange in seiner Verkennung oder Verdrängung der Lage verfangen, bis er 1938 von der Gestapo verhaftet wurde. In einem Schulgebäude, das als provisorisches Gefängnis diente, wurde er über Monate mit anderen Glaubensgenossen gequält und geprügelt, bis er schließlich die Übergabe seiner Wertpapiere unterschrieb. Seine eigenen jahrelangen Bediensteten hatten Isidor Geller zuvor denunziert. Shelly Kupferberg schildert das Geschehen in ruhigen Sätzen, die doch vor Abscheu vibrieren.
Er konnte in die Canovagasse zurückkehren, zu Tode entkräftet. Die Schwester Franziska blieb bei ihm, um ihn zu pflegen, auch sein Neffe Walter war bis zu dessen eigener Emigration nach Palästina an seiner Seite, während die Schergen des neuen Regimes die Bestände in der Wohnung, vom wertvollen Mobiliar bis hin zu "2 Sportpelzen (einer kurz, einer lang)" auf Listen katalogisierten. Alles wurde konfisziert, Isidor hätte es zurücklassen müssen, wenn er seinen nun doch gefassten Plan, Wien zu verlassen, noch hätte verwirklichen können. Was ihm verblieben war, wollte er an seine einstige Geliebte nach Hollywood verschicken, dazu kam es nicht mehr. Isidor Geller starb am 17. November 1938.
Shelly Kupferbergs Großvater war der Historiker Walter Grab, der 1971 das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv gründete und bis zu seiner Emeritierung 1986 leitete. Als er 1956 erstmals wieder nach Wien reiste, so berichtet sie gleich am Anfang, ging er zur elterlichen Wohnung am Bauernfeldplatz. Er fand den Namen des einstigen Hausbesorgerpaars, nun in einer höheren Etage, und klingelte. Als ihm die Frau an der Wohnungstür öffnete und ihn erkannte, rief sie: "Der Jud' is wieda doa!" und schlug die Tür zu. Im Hintergrund konnte Walter Möbel seiner Eltern ausmachen. Er blieb daraufhin im 1948 gegründeten Staat Israel, wo auch Kupferberg 1974 geboren wurde, die in Westberlin aufwuchs und heute noch lebt.
Im Buch erwähnt die Autorin die Fotoalben ihrer Großeltern, auf denen ihre Verwandten zu sehen sind, die sie - wie auch andere Gefährten des Urgroßonkels - in Nebensträngen einprägsam porträtiert. Man kann bedauern, dass keine Fotografien im Buch abgebildet sind, man hätte gern in diese Gesichter geschaut. Aber vielleicht wollte Shelly Kupferberg genau diese Einfühlung in ein Einzelschicksal vermeiden, um die Gültigkeit ihrer Geschichte darüber hinaus einzuschreiben ins Gedächtnis des Holocausts. Das ist ihr gelungen, auf ergreifende Weise. ROSE-MARIA GROPP
Shelly Kupferberg: "Isidor". Ein jüdisches Leben.
Diogenes Verlag, Zürich 2022. 247 S., geb., 24,- Euro.
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