Spätestens seit der Iranischen Revolution von 1979 und erst recht seit dem 11. September 2001 hält der Islamismus die Welt in Atem. Tilman Seidensticker erklärt, was Muslimbrüder, Salafisten, Wahhabiten und andere Strömungen voneinander unterscheidet, auf welche Vordenker sie sich berufen und mit welchen Mitteln sie operieren, um das Ziel einer islamischen Politik und Gesellschaft zu erreichen. Ein Muss für alle, die den islamischen Fundamentalismus und die Gefahr, die von ihm ausgeht, besser verstehen wollen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Von der Behauptung, der Islam habe nichts mit dem Islamismus zu tun, hält Rezensentin Doris Akrap ebenso wenig wie von der Behauptung, es gebe den einen Islamismus. Sehr dankbar nimmt sie daher diese mit 120 Seiten zwar überschaubar bleibende, aber "sehr informative und gute Übersicht" zur Hand. Seidensticker rechnet sie dabei an, dass auch Begriffsbesetzungen wie "islamisch" vor allem eine Sache der Deutung sind, auch wenn er krasse Phänomene des religiösen Terrors von der Religion nicht per se abspaltet. Und auch wenn manche herausgearbeitete Facette des Islamismus in diesem Büchlein nur schlaglichtartig behandelt wird, lobt die Kritikerin es insgesamt doch ganz ausdrücklich dafür, das Interesse an Hintergründen und Geschichte dieser verhältnismäßig jungen politischen Bewegung zu wecken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2014Gute und böse Vorurteile
Der politisierte Islam
Schlagwörter produzieren Klischees - und die verfestigen gängige Vorurteile. So war lange der "islamische Fundamentalismus" die Wortkeule, gegen die subtilere Erklärungsversuche vergeblich waren. Dann werden seit zwei Jahrzehnten die Begriffe Muslim und Islamist - nach dem Motto "je geringer das Wissen, umso sicherer das Urteil" - bedenkenlos synonym verwendet. Neuerdings ist indes der Begriff Salafist in Mode, und die Islamisten scheinen unverhofft zu den Guten geworden zu sein, die Salafisten auf unseren Straßen und den Henkerstätten im Nahen Osten aber die Bösen. Ordnung in dieses begriffliche Durcheinander bringt Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft in Jena. Nach der Lektüre seiner gut strukturierten und lesbaren Monographie sollte es auch dem Fachfremden keine Mühe mehr kosten, die Bandbreite zu erkennen, die einen "Islamisten Erdogan" von den "Islamisten des Islamischen Staats" trennt.
Seidensticker definiert Islamismus als "Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden". Damit deutet er den weiten Bogen islamistischer Bewegungen und islamisch orientierter Aktivisten an, die von einer islamisch geprägten demokratischen Partei wie der türkischen AKP über missionarische Tätigkeiten bis hin zu revolutionären Aktionen und exzessiver Gewalt reichen. Er erläutert den historischen Hintergrund des modernen Phänomens Islamismus, stellt wichtige Vertreter, Organisationen und Parteien vor. Den Schluss bildet ein Kapitel zur Rechtfertigung und dem Gebrauch von Gewalt, also auch über den Dschihad. Bei den führenden Köpfen fällt auf, dass die ersten "Islamisten" wie Jamal ad-Din al-Afghani (1838 bis 1897) einen politisierten Islam nach außen als ein Mittel gegen den britischen Kolonialismus eingesetzt haben. Erst von Hassan al Banna (1906 bis 1949) an, dem Begründer der Muslimbruderschaft, stand der Kampf gegen kulturelle Veränderungen und die Re-Islamisierung im Innern im Vordergrund. Gut gelungen ist das Kapitel über die Entstehung des Wahhabismus und des Salafismus. Der Salafist will einen authentischen Islam leben und imitiert dabei das vermutete Äußere früherer Muslime. Der Wahhabit folgt einem rigiden Verständnis von Monotheismus und erklärt jegliche Abweichung davon - auch Heiligenverehrung und Friedhöfe - als "Götzendienst", den es zu zerstören gelte.
RAINER HERMANN
Tilman Seidensticker: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen. Verlag C. H. Beck, München 2014. 127 S., 8,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der politisierte Islam
Schlagwörter produzieren Klischees - und die verfestigen gängige Vorurteile. So war lange der "islamische Fundamentalismus" die Wortkeule, gegen die subtilere Erklärungsversuche vergeblich waren. Dann werden seit zwei Jahrzehnten die Begriffe Muslim und Islamist - nach dem Motto "je geringer das Wissen, umso sicherer das Urteil" - bedenkenlos synonym verwendet. Neuerdings ist indes der Begriff Salafist in Mode, und die Islamisten scheinen unverhofft zu den Guten geworden zu sein, die Salafisten auf unseren Straßen und den Henkerstätten im Nahen Osten aber die Bösen. Ordnung in dieses begriffliche Durcheinander bringt Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft in Jena. Nach der Lektüre seiner gut strukturierten und lesbaren Monographie sollte es auch dem Fachfremden keine Mühe mehr kosten, die Bandbreite zu erkennen, die einen "Islamisten Erdogan" von den "Islamisten des Islamischen Staats" trennt.
Seidensticker definiert Islamismus als "Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden". Damit deutet er den weiten Bogen islamistischer Bewegungen und islamisch orientierter Aktivisten an, die von einer islamisch geprägten demokratischen Partei wie der türkischen AKP über missionarische Tätigkeiten bis hin zu revolutionären Aktionen und exzessiver Gewalt reichen. Er erläutert den historischen Hintergrund des modernen Phänomens Islamismus, stellt wichtige Vertreter, Organisationen und Parteien vor. Den Schluss bildet ein Kapitel zur Rechtfertigung und dem Gebrauch von Gewalt, also auch über den Dschihad. Bei den führenden Köpfen fällt auf, dass die ersten "Islamisten" wie Jamal ad-Din al-Afghani (1838 bis 1897) einen politisierten Islam nach außen als ein Mittel gegen den britischen Kolonialismus eingesetzt haben. Erst von Hassan al Banna (1906 bis 1949) an, dem Begründer der Muslimbruderschaft, stand der Kampf gegen kulturelle Veränderungen und die Re-Islamisierung im Innern im Vordergrund. Gut gelungen ist das Kapitel über die Entstehung des Wahhabismus und des Salafismus. Der Salafist will einen authentischen Islam leben und imitiert dabei das vermutete Äußere früherer Muslime. Der Wahhabit folgt einem rigiden Verständnis von Monotheismus und erklärt jegliche Abweichung davon - auch Heiligenverehrung und Friedhöfe - als "Götzendienst", den es zu zerstören gelte.
RAINER HERMANN
Tilman Seidensticker: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen. Verlag C. H. Beck, München 2014. 127 S., 8,95 [Euro].
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