1912 Nordisland: Thórbergur ist eigentlich Dichter. Aber von Gedichten kann man nicht leben. Also schuftet er in einer stinkenden Heringsfabrik. Ist der Gestank von Tran alles, was das Leben zu bieten hat? Die wahre Erfüllung findet Thórbergur in seinen philosophischen Grübeleien über die Unendlichkeit des Universums, die Liebe und das Leben in absoluter Freiheit. Erfüllung sucht er auch bei der himmlischen Hulda. Einen ganzen Sommer reist er ihr hinterher, um sie dann im entscheidenden Moment zu verpassen. Dabei will der ewig scheiternde Thórbergur nur eins: dem Leben ein wenig Glanz verleihen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Träume aus Tran, Trübsal und Trockenfisch
Ein Sommer in der Fischfabrik: In "Islands Adel" blickt Thórbergur Thórdarson zurück auf seine Hungerjahre als junger romantischer Taugenichts.
Von Martin Halter
Das Nebelreich der Götter, Trolle und rotbärtigen Wikinger war einmal. Island hat mit Björk und Bankenkrisen längst Anschluss an die europäische Moderne gefunden, und das gilt, wie die Krimis, Fantasy- und Frauenromane aus dem Gastland der diesjährigen Buchmessen hinlänglich bezeugen, auch für die Literatur. Ein Meilenstein auf dem weiten Wege von Edda und Snorri Sturlusons Skaldendichtung zu Haldór Laxness war Thórbergur Thórdarson, der von 1888 bis 1974 lebte. Ohne ihn, schreibt sein Übersetzer Kristof Magnusson, "wäre Islands Literatur nicht das, was sie heute ist".
Thórbergur Thórdarson, der rothaarige Bauernsohn aus Hali, war Schiffskoch, Philosoph, Sozialist und leidenschaftlicher Esperantist, ein eigenwilliger Autodidakt, der mit seinem grimmigen Humor und seinem Stilempfinden ein moderner Klassiker wurde, unvergessen in seiner ungeliebten Heimat. "Hier ruht Thorbergur", steht auf seinem Grabstein. "Er lebte im Land der Armut. Er starb im Land der Verdummung."
"Islands Adel", Thórdarsons Roman aus dem Jahr 1938, ist ein Selbstporträt des Dichters als junger "glückloser Herumtreiber" und Fischfabrikarbeiter. Islands Adel: Das sind nicht mehr die Recken der alten Sagen oder die Bauerngeschlechter auf ihren Einödhöfen, sondern die selbsternannten "Aristokraten des Geistes" aus der Reykjavíker Boheme. Weiter südlich, in Kopenhagen, Berlin oder Paris, hätten die Hungerkünstler Absinth getrunken, sich mit Kokotten vergnügt oder jene mangelbedingten Halluzinationen ausgebildet, wie Knut Hamsun sie einst in "Hunger" beschrieben hatte.
Der Sommer 1912 im Norden Islands ist kälter, härter, freudloser als ein Winter in den Metropolen der Dekadenz, und das ist ganz nach dem Geschmack der Generation Weltschmerz, die sich auf der Suche nach Arbeit, Geld und Inspiration in den Heringsfabriken von Akureyri versammelt hat. Leiden ist edler als spießige Zufriedenheit, schmachtende Liebe schöner als erfüllte: Schwermut, Schmerz und Todessehnsucht adeln den Dichter. "Frohsinn war ein Zeichen von Dickfelligkeit und eine Beleidigung für alle feinstofflicheren Aspekte des Daseins."
Akureyri bietet nur Tran, Trübsal und Trockenfisch, dreimal Pumpernickel am Tag und die verschimmelten Strohsäcke und klammen Filzdecken des Gasthofs Oddyri. Die Räusche und Ekstasen kommen aus der Brennivin-Flasche, aus den Büchern von Nietzsche und indischen Weisen und selbstdestillierter Poesie. Die jungen Dichter schrubben Heringsfässer und rühren stinkende Lake, aber nach Feierabend feiern sie ihre Jugend und das Leben mit Saufen und Raufen, lyrischen Seelenaufschwüngen und hitzigen politisch-religiösen Debatten. Ein empfindsames Gelegenheitsgedicht gilt schon als Weltoffenbarung, ein Ausritt im Graupelschauer als sommerliches Freizeitvergnügen.
Thórdarsons autobiographischer Roman ist ein nostalgisch verklärter Rückblick auf seine glorreichen Hungerjahre, stolpernd atemlos und dann wieder episch ausgreifend erzählt, surreal in seinen Träumen, Visionen und Metaphern, aber mit genauen Orts- und Zeitangaben, exakten biographischen Daten und sogar Adressen. Interessanter als das poetische Schwärmen und Schwadronieren im ersten Teil und das Tagebuch seiner Heimreise im letzten Teil sind die Porträts seiner Freunde und Weggefährten. Es sind Männer wie er, romantische Taugenichtse, Schnorrer, Käuze, Projektemacher, sagenhafte Lügner und Betrüger wie Peer Gynt. "Angestachelt von den Skorpionen der Weltillusion", frierend und hungernd, träumen sie zwischen Stockfisch, Blechbuden und Matsch von einer glänzenden Zukunft und predigen vom Heringsfass herunter den Tod Gottes und die Wiedergeburt des freien Islands.
Thórdarson ist unter den verkrachten Existenzen nicht nur Aristokrat, sondern König. Sein Lehrer war nicht umsonst Solon von Slunkariki, ein Bauernphilosoph, der als Baumeister so erfolglos wie mit seinen reimlosen Vierzeilern war. Seit Thórdarsons Gedicht "Nacht" in einer Literaturzeitschrift gedruckt wurde, hält der weltfremde Gymnasiast sich für ein "Weltgenie". In der Liebe ist er jedenfalls noch ein Anfänger, der für seine angebetete Hulda nur platonisch zu schwärmen wagt.
Der Weltschmerz-Träumer kehrt ernüchtert aus Akureyri zurück: Sehnsucht ist ohnmächtiges Selbstmitleid, das Gerede von reiner Liebe weinerliches Dichtergewäsch. Die Weiber, so lernt er, wollen, wenn sie im Dunkeln zittern, keine Gedichte hören, sondern im Nacken gestreichelt oder noch ganz anders angefasst werden. Die Menschen, so eine andere "Erkenntnis universellen Ausmaßes", sind wie Schafe, die nach Stand, Hautfarbe, Glauben und Moral in Pferchen sortiert und unbarmherzig geschoren werden. Thórdarson verliert in der Fischfabrik seine Unschuld, seine romantischen Flausen und seinen geistesaristokratischen Hochmut, aber nicht den Glauben an seine Berufung. Sein Philosophiestudium wird er mangels Abitur und Geld nicht abschließen können; aber 1915 erscheint sein erstes Gedicht.
In den siebziger Jahren drohten deutsche K-Gruppen unzuverlässigen Intellektuellen wie Daniel Cohn-Bendit, sie nach der Revolution in einer Fischfabrik einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit zuzuführen. Thórdarson haben die Lehrjahre in der Heringsfabrik jedenfalls nicht geschadet. Sein Andenken in Hali wird heute in einem schönen Museum gepflegt. Es hat die Form eines Bücherregals und steht so erratisch in der Geröllwüste am Fuße des Vatnajökull wie dieser Brocken erkalteter Lava in der europäischen Literatur.
Thórbergur Thórdarson: "Islands Adel". Roman.
Deutsch von Kristof Magnusson. S.Fischer Verlag, Frankfurt 2011. 320 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Sommer in der Fischfabrik: In "Islands Adel" blickt Thórbergur Thórdarson zurück auf seine Hungerjahre als junger romantischer Taugenichts.
Von Martin Halter
Das Nebelreich der Götter, Trolle und rotbärtigen Wikinger war einmal. Island hat mit Björk und Bankenkrisen längst Anschluss an die europäische Moderne gefunden, und das gilt, wie die Krimis, Fantasy- und Frauenromane aus dem Gastland der diesjährigen Buchmessen hinlänglich bezeugen, auch für die Literatur. Ein Meilenstein auf dem weiten Wege von Edda und Snorri Sturlusons Skaldendichtung zu Haldór Laxness war Thórbergur Thórdarson, der von 1888 bis 1974 lebte. Ohne ihn, schreibt sein Übersetzer Kristof Magnusson, "wäre Islands Literatur nicht das, was sie heute ist".
Thórbergur Thórdarson, der rothaarige Bauernsohn aus Hali, war Schiffskoch, Philosoph, Sozialist und leidenschaftlicher Esperantist, ein eigenwilliger Autodidakt, der mit seinem grimmigen Humor und seinem Stilempfinden ein moderner Klassiker wurde, unvergessen in seiner ungeliebten Heimat. "Hier ruht Thorbergur", steht auf seinem Grabstein. "Er lebte im Land der Armut. Er starb im Land der Verdummung."
"Islands Adel", Thórdarsons Roman aus dem Jahr 1938, ist ein Selbstporträt des Dichters als junger "glückloser Herumtreiber" und Fischfabrikarbeiter. Islands Adel: Das sind nicht mehr die Recken der alten Sagen oder die Bauerngeschlechter auf ihren Einödhöfen, sondern die selbsternannten "Aristokraten des Geistes" aus der Reykjavíker Boheme. Weiter südlich, in Kopenhagen, Berlin oder Paris, hätten die Hungerkünstler Absinth getrunken, sich mit Kokotten vergnügt oder jene mangelbedingten Halluzinationen ausgebildet, wie Knut Hamsun sie einst in "Hunger" beschrieben hatte.
Der Sommer 1912 im Norden Islands ist kälter, härter, freudloser als ein Winter in den Metropolen der Dekadenz, und das ist ganz nach dem Geschmack der Generation Weltschmerz, die sich auf der Suche nach Arbeit, Geld und Inspiration in den Heringsfabriken von Akureyri versammelt hat. Leiden ist edler als spießige Zufriedenheit, schmachtende Liebe schöner als erfüllte: Schwermut, Schmerz und Todessehnsucht adeln den Dichter. "Frohsinn war ein Zeichen von Dickfelligkeit und eine Beleidigung für alle feinstofflicheren Aspekte des Daseins."
Akureyri bietet nur Tran, Trübsal und Trockenfisch, dreimal Pumpernickel am Tag und die verschimmelten Strohsäcke und klammen Filzdecken des Gasthofs Oddyri. Die Räusche und Ekstasen kommen aus der Brennivin-Flasche, aus den Büchern von Nietzsche und indischen Weisen und selbstdestillierter Poesie. Die jungen Dichter schrubben Heringsfässer und rühren stinkende Lake, aber nach Feierabend feiern sie ihre Jugend und das Leben mit Saufen und Raufen, lyrischen Seelenaufschwüngen und hitzigen politisch-religiösen Debatten. Ein empfindsames Gelegenheitsgedicht gilt schon als Weltoffenbarung, ein Ausritt im Graupelschauer als sommerliches Freizeitvergnügen.
Thórdarsons autobiographischer Roman ist ein nostalgisch verklärter Rückblick auf seine glorreichen Hungerjahre, stolpernd atemlos und dann wieder episch ausgreifend erzählt, surreal in seinen Träumen, Visionen und Metaphern, aber mit genauen Orts- und Zeitangaben, exakten biographischen Daten und sogar Adressen. Interessanter als das poetische Schwärmen und Schwadronieren im ersten Teil und das Tagebuch seiner Heimreise im letzten Teil sind die Porträts seiner Freunde und Weggefährten. Es sind Männer wie er, romantische Taugenichtse, Schnorrer, Käuze, Projektemacher, sagenhafte Lügner und Betrüger wie Peer Gynt. "Angestachelt von den Skorpionen der Weltillusion", frierend und hungernd, träumen sie zwischen Stockfisch, Blechbuden und Matsch von einer glänzenden Zukunft und predigen vom Heringsfass herunter den Tod Gottes und die Wiedergeburt des freien Islands.
Thórdarson ist unter den verkrachten Existenzen nicht nur Aristokrat, sondern König. Sein Lehrer war nicht umsonst Solon von Slunkariki, ein Bauernphilosoph, der als Baumeister so erfolglos wie mit seinen reimlosen Vierzeilern war. Seit Thórdarsons Gedicht "Nacht" in einer Literaturzeitschrift gedruckt wurde, hält der weltfremde Gymnasiast sich für ein "Weltgenie". In der Liebe ist er jedenfalls noch ein Anfänger, der für seine angebetete Hulda nur platonisch zu schwärmen wagt.
Der Weltschmerz-Träumer kehrt ernüchtert aus Akureyri zurück: Sehnsucht ist ohnmächtiges Selbstmitleid, das Gerede von reiner Liebe weinerliches Dichtergewäsch. Die Weiber, so lernt er, wollen, wenn sie im Dunkeln zittern, keine Gedichte hören, sondern im Nacken gestreichelt oder noch ganz anders angefasst werden. Die Menschen, so eine andere "Erkenntnis universellen Ausmaßes", sind wie Schafe, die nach Stand, Hautfarbe, Glauben und Moral in Pferchen sortiert und unbarmherzig geschoren werden. Thórdarson verliert in der Fischfabrik seine Unschuld, seine romantischen Flausen und seinen geistesaristokratischen Hochmut, aber nicht den Glauben an seine Berufung. Sein Philosophiestudium wird er mangels Abitur und Geld nicht abschließen können; aber 1915 erscheint sein erstes Gedicht.
In den siebziger Jahren drohten deutsche K-Gruppen unzuverlässigen Intellektuellen wie Daniel Cohn-Bendit, sie nach der Revolution in einer Fischfabrik einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit zuzuführen. Thórdarson haben die Lehrjahre in der Heringsfabrik jedenfalls nicht geschadet. Sein Andenken in Hali wird heute in einem schönen Museum gepflegt. Es hat die Form eines Bücherregals und steht so erratisch in der Geröllwüste am Fuße des Vatnajökull wie dieser Brocken erkalteter Lava in der europäischen Literatur.
Thórbergur Thórdarson: "Islands Adel". Roman.
Deutsch von Kristof Magnusson. S.Fischer Verlag, Frankfurt 2011. 320 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Martin Halter ist Thorbergur Thordarson einer der "Meilensteine" in der Geschichte der isländischen Literatur, das weiß er spätestens seit der Lektüre des 1936 erschienenen autobiografischen Romans "Islands Adel". Dem autodidaktischen Schriftsteller und Philosophen, der zwar damals noch in einer Fischfabrik arbeitete, sich aber als selbsternannter "Aristokrat des Geistes" bereits zu Höherem berufen fühlte, ist der Kritiker ins Reykjavik des Jahres 1912 gefolgt und hat in Thordarsons "nostalgisch verklärten" Rückblenden erfahren, dass das Leben als Bohemian in Island scheinbar wesentlich härter war als in den europäischen Metropolen der Dekadenz. Durchaus amüsiert hat er seine poetischen, mit vielen biografischen Details angereicherten Schwärmereien über "Tran, Trübsal, Trockenfisch" und durch viel Nietzsche-Lektüre und noch mehr Alkohol herbeigeführte Ekstasen gelesen. Insbesondere haben den Rezensenten jedoch die Porträts interessiert, die Thordarson von seinen ähnlich kauzigen und nutzlosen Freunde zeichne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ganz blendend unterhalten fühlt sich Rezensent Jörg Plath bei der Lektüre dieses bereits 1938 erschienenen, nun in hervorragender Neuübersetzung vorliegenden Klassikers der isländischen Literatur, in dem Thorbergur Thordarson mit "Ironie und Sarkasmus" auf die eigene, heißblütige Adoleszenz zwischen improvisierter Literatur-Boheme, entbehrungsreicher Lohnarbeit, stetem Hunger und der großen Liebe blickt und dabei erzählt, wie das "auf das Engste zusammengehört". Nicht zuletzt wegen des Gegensatzes zwischen existenzieller Not, die die Menschen zusammenhalten lasse, und schöngeistiger Anflüge gerate das Buch zu einer witzigen Angelegenheit und ist somit unbedingt vom thematisch nahen "Hunger" von Kurt Hamsun abzuheben. Eher fühlt sich der Rezesent an die isländischen Sagas erinnert, etwa wenn um es den langen Atem bei der Schilderung mancher Biografie oder um die präzisen Angaben von Gehöftlagen samt deren Bewohner geht.
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