Der Konflikt im Nahen Osten zwischen Israelis und Palästinensern, Israel und Nachbarn, aber auch in Israel selbst scheint kein Ende nehmen zu wollen. Weniger denn je ist auch auszumachen, auf welcher Seite hauptsächlich Verantwortung liegt, und vor allem, wie der Gewalt ein Ende zu bereiten ist.
Das selbstkritische Buch eines sensiblen, nachdenklichen israelischen Autors, einer Innenansicht des Nahostkonflikts, wie man sie hierzulande noch nie zu lesen bekam.
Das selbstkritische Buch eines sensiblen, nachdenklichen israelischen Autors, einer Innenansicht des Nahostkonflikts, wie man sie hierzulande noch nie zu lesen bekam.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2002Eine Region auf der Couch
Der israelische Psychiater Grosbard liefert eine etwas andere Analyse des Nahost-Konflikts
Ofer Grosbard: Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonflikts. Aus dem Englischen von Axel Monte. Patmos Verlag, Düsseldorf 2001. 247 Seiten, 24,90 Euro.
"Wir sollten nicht den Fehler der Intifada" - gemeint ist die erste - "wiederholen. Wir sollten uns daran erinnern, daß die Palästinenser einen langen Atem haben und viel motivierter sind, für ihre Hauptstadt in Jerusalem zu kämpfen. Unser Motiv dafür, Jerusalem unter Kontrolle zu behalten, ist narzißtischer Natur, während sie den Wunsch nach einer Hauptstadt noch nicht verwirklicht haben. Wir kämpfen aus der Angst heraus, daß man uns etwas wegnehmen will, das wir bereits besitzen. Sie kämpfen um ihr Leben und um ihre Unabhängigkeit. Die Intifada ist wie die Rebellion eines Heranwachsenden, sie sind stärker und ihre Sache ist gerechter als unsere, denn sie besitzen nichts."
Eskalation der Gewalt
Als der Israeli Ofer Grosbard, der Autor des zu rezensierenden Buches, diese Zeilen schrieb, befand sich der verfallende nahöstliche "Friedensprozeß" noch in einem weniger blutigen Stadium als heute, da offener Krieg herrscht. Und doch faßt der Absatz die Substanz all dessen zusammen, was aus psychologisierender Sicht zu der neuerlichen Eskalation der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern zu sagen ist. Der Psychiater Grosbard, 1954 in Israel als Sohn einer deutsch-litauischen jüdischen Familie geboren, ist in seiner Heimat kein Unbekannter. Das wird auch daraus deutlich, daß er Yoram Kaniuk für ein kurzes Geleitwort zu seinem Werk gewinnen konnte. Grosbard nahm 1973 am Jom-Kippur-Krieg teil - den die Araber als "Oktoberkrieg" bezeichnen -, er ist klinischer Psychologe und Psychoanalytiker. Für seinen Roman "An Arab in the Heart" (Der Araber in uns), eine belletristische Studie über den Nahost-Konflikt, erhielt er den Preis des israelischen Schriftstellerverbandes.
"Narzißmus", "Paranoia", "Depression", "Trauma", "Omnipotenz" - in dieser psychologischen Begrifflichkeit bewegt sich sein Buch "Israel auf der Couch", das einen Beitrag zur Psychologie des Nahost-Konflikts leisten möchte. Der Friedensprozeß - und jetzt müßte man sagen: seine neuerliche Entartung zu einem neuen Konflikt - soll mit den Kategorien der modernen Seelenkunde analysiert werden. Dies ist ein neuer Ansatz, der von den üblichen politischen, strategischen und sozio-ökonomischen oder sozio-kulturellen bis religionshistorischen Herangehensweisen abweicht. Grosbard zieht immer wieder die Phasen der seelisch-geistigen Menschwerdung, des Erwachsenwerdens individueller Personen heran und überträgt sie auf die Kollektive: der Israelis, der Palästinenser, der Sepharden und Askenasen, der Linken und der Rechten. Da er die israelische Gesellschaft viel besser kennt, steht sie im Vordergrund, weniger die Palästinenser.
Interessant ist, daß sich der Autor - obschon in der Stellung des objektiven Analytikers - bewußt bleibt, daß auch er zeit seines Lebens teilhatte an den "individuell-seelischen" Prozessen, die er auch für die jeweiligen Kollektive für charakteristisch ansieht. Grosbard selbst schwankte zwischen einer mehr rechten (Likud) und einer mehr linken (Arbeiterpartei) politischen Einstellung im israelischen Kontext. Heute steht er links, ist ihm aber das Aufeinanderbezogensein beider Seiten, ihre jeweilige Befindlichkeit innerhalb der psychologischen Entwicklung, einsichtig geworden. Und auch der gesellschaftlich notwendige Bezugspunkt einer Religion und ihrer Riten, in welcher der alttestamentliche Gott allerdings auch als, horribile dictu, Quäl-Vater seiner Geschöpfe auftritt, die ihm freilich, wie gebrochene Söhne und Töchter, willig gehorchen, bleibt ihm bewußt, denn die Religion vermag andererseits auch die lösenden Kräfte beizusteuern: Liebe und Einsicht in größere Zusammenhänge, als Menschen sie zu stiften und zu schaffen vermögen, sowie Halt in einer zerklüfteten Wirklichkeit. Offenkundig will der Autor integrierend für seine immer zerrissener wirkende Gesellschaft wirken.
Gleichwohl erscheint ihm sein Volk von einer omnipotenten, narzißtischen Struktur geprägt, die sich nach dem Trauma der Verfolgung und des Holocaust in den Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit geflüchtet habe. Vor allem nach dem erfolgreichen Sechstagekrieg von 1967. Auf beiden Seiten, vor allem aber auf der israelischen, stünden im wesentlichen emotionale Hindernisse dem Frieden und der Aussöhnung mit dem Bruder, dem man Unrecht angetan habe, entgegen.
Emotionale Prozesse
Der schwierige Prozeß der Annäherung und möglichen Normalisierung mit den Palästinensern erscheint als langwieriger, kollektiver Weg aus einer kollektiven Adoleszenz, die vor allem die eigene Unreife und Ichbezogenheit überwindet. Dies zu erkennen bedeutet nicht, den palästinensischen Terrorismus nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu entschuldigen oder die von Israel verübte Gewalt zu rechtfertigen. Es bedeutet, wie jedes Erkennen, eine tiefere Einsichtnahme in scheinbar Unverständliches. Die emotionalen Prozesse zwischen beiden Konfliktparteien ähneln denen zwischen rivalisierenden Jungen, die sich jeweils als bösartig empfinden, aber allmählich erwachsen werden müssen. Noch gilt die eigene Gewalt als heroisch, die des/der anderen hingegen als teuflisch. Erst wenn man "den Mörder in sich und den Helden im anderen" erkennen könne, sei man der Situation wirklich gewachsen. Niemand sei nur gut oder nur böse. In solchen provokanten Formulierungen, die auch die gegenwärtige Situation erhellen mögen, liegt ein größerer Wert als in der vielleicht doch fragwürdigen Gleichsetzung von individualpsychologischen mit kollektiven Prozessen als politischen Parametern. Man wünschte sich aber solcherlei selbstkritische Studien auch einmal von der anderen, der arabischen Seite.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der israelische Psychiater Grosbard liefert eine etwas andere Analyse des Nahost-Konflikts
Ofer Grosbard: Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonflikts. Aus dem Englischen von Axel Monte. Patmos Verlag, Düsseldorf 2001. 247 Seiten, 24,90 Euro.
"Wir sollten nicht den Fehler der Intifada" - gemeint ist die erste - "wiederholen. Wir sollten uns daran erinnern, daß die Palästinenser einen langen Atem haben und viel motivierter sind, für ihre Hauptstadt in Jerusalem zu kämpfen. Unser Motiv dafür, Jerusalem unter Kontrolle zu behalten, ist narzißtischer Natur, während sie den Wunsch nach einer Hauptstadt noch nicht verwirklicht haben. Wir kämpfen aus der Angst heraus, daß man uns etwas wegnehmen will, das wir bereits besitzen. Sie kämpfen um ihr Leben und um ihre Unabhängigkeit. Die Intifada ist wie die Rebellion eines Heranwachsenden, sie sind stärker und ihre Sache ist gerechter als unsere, denn sie besitzen nichts."
Eskalation der Gewalt
Als der Israeli Ofer Grosbard, der Autor des zu rezensierenden Buches, diese Zeilen schrieb, befand sich der verfallende nahöstliche "Friedensprozeß" noch in einem weniger blutigen Stadium als heute, da offener Krieg herrscht. Und doch faßt der Absatz die Substanz all dessen zusammen, was aus psychologisierender Sicht zu der neuerlichen Eskalation der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern zu sagen ist. Der Psychiater Grosbard, 1954 in Israel als Sohn einer deutsch-litauischen jüdischen Familie geboren, ist in seiner Heimat kein Unbekannter. Das wird auch daraus deutlich, daß er Yoram Kaniuk für ein kurzes Geleitwort zu seinem Werk gewinnen konnte. Grosbard nahm 1973 am Jom-Kippur-Krieg teil - den die Araber als "Oktoberkrieg" bezeichnen -, er ist klinischer Psychologe und Psychoanalytiker. Für seinen Roman "An Arab in the Heart" (Der Araber in uns), eine belletristische Studie über den Nahost-Konflikt, erhielt er den Preis des israelischen Schriftstellerverbandes.
"Narzißmus", "Paranoia", "Depression", "Trauma", "Omnipotenz" - in dieser psychologischen Begrifflichkeit bewegt sich sein Buch "Israel auf der Couch", das einen Beitrag zur Psychologie des Nahost-Konflikts leisten möchte. Der Friedensprozeß - und jetzt müßte man sagen: seine neuerliche Entartung zu einem neuen Konflikt - soll mit den Kategorien der modernen Seelenkunde analysiert werden. Dies ist ein neuer Ansatz, der von den üblichen politischen, strategischen und sozio-ökonomischen oder sozio-kulturellen bis religionshistorischen Herangehensweisen abweicht. Grosbard zieht immer wieder die Phasen der seelisch-geistigen Menschwerdung, des Erwachsenwerdens individueller Personen heran und überträgt sie auf die Kollektive: der Israelis, der Palästinenser, der Sepharden und Askenasen, der Linken und der Rechten. Da er die israelische Gesellschaft viel besser kennt, steht sie im Vordergrund, weniger die Palästinenser.
Interessant ist, daß sich der Autor - obschon in der Stellung des objektiven Analytikers - bewußt bleibt, daß auch er zeit seines Lebens teilhatte an den "individuell-seelischen" Prozessen, die er auch für die jeweiligen Kollektive für charakteristisch ansieht. Grosbard selbst schwankte zwischen einer mehr rechten (Likud) und einer mehr linken (Arbeiterpartei) politischen Einstellung im israelischen Kontext. Heute steht er links, ist ihm aber das Aufeinanderbezogensein beider Seiten, ihre jeweilige Befindlichkeit innerhalb der psychologischen Entwicklung, einsichtig geworden. Und auch der gesellschaftlich notwendige Bezugspunkt einer Religion und ihrer Riten, in welcher der alttestamentliche Gott allerdings auch als, horribile dictu, Quäl-Vater seiner Geschöpfe auftritt, die ihm freilich, wie gebrochene Söhne und Töchter, willig gehorchen, bleibt ihm bewußt, denn die Religion vermag andererseits auch die lösenden Kräfte beizusteuern: Liebe und Einsicht in größere Zusammenhänge, als Menschen sie zu stiften und zu schaffen vermögen, sowie Halt in einer zerklüfteten Wirklichkeit. Offenkundig will der Autor integrierend für seine immer zerrissener wirkende Gesellschaft wirken.
Gleichwohl erscheint ihm sein Volk von einer omnipotenten, narzißtischen Struktur geprägt, die sich nach dem Trauma der Verfolgung und des Holocaust in den Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit geflüchtet habe. Vor allem nach dem erfolgreichen Sechstagekrieg von 1967. Auf beiden Seiten, vor allem aber auf der israelischen, stünden im wesentlichen emotionale Hindernisse dem Frieden und der Aussöhnung mit dem Bruder, dem man Unrecht angetan habe, entgegen.
Emotionale Prozesse
Der schwierige Prozeß der Annäherung und möglichen Normalisierung mit den Palästinensern erscheint als langwieriger, kollektiver Weg aus einer kollektiven Adoleszenz, die vor allem die eigene Unreife und Ichbezogenheit überwindet. Dies zu erkennen bedeutet nicht, den palästinensischen Terrorismus nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu entschuldigen oder die von Israel verübte Gewalt zu rechtfertigen. Es bedeutet, wie jedes Erkennen, eine tiefere Einsichtnahme in scheinbar Unverständliches. Die emotionalen Prozesse zwischen beiden Konfliktparteien ähneln denen zwischen rivalisierenden Jungen, die sich jeweils als bösartig empfinden, aber allmählich erwachsen werden müssen. Noch gilt die eigene Gewalt als heroisch, die des/der anderen hingegen als teuflisch. Erst wenn man "den Mörder in sich und den Helden im anderen" erkennen könne, sei man der Situation wirklich gewachsen. Niemand sei nur gut oder nur böse. In solchen provokanten Formulierungen, die auch die gegenwärtige Situation erhellen mögen, liegt ein größerer Wert als in der vielleicht doch fragwürdigen Gleichsetzung von individualpsychologischen mit kollektiven Prozessen als politischen Parametern. Man wünschte sich aber solcherlei selbstkritische Studien auch einmal von der anderen, der arabischen Seite.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dies Buch zur Psychologie des eskalierenden Nahostkonflikts stellt für Rezensent Wolfgang Günter Lerch einen "neuen Ansatz" dar, der von den üblichen politischen, sozio-kulturellen bis religionshistorischen Herangehensweisen abweiche. Der 1954 geborene israelische Psychiater ziehe immer wieder die Phasen der "seelisch-geistigen Menschwerdung", des "Erwachsenwerdens individueller Personen" heran und übertrage sie auf die Kollektive der Israelis und der Palästinenser. Da der Autor die israelische Gesellschaft besser kenne, steht sie Lerchs Informationen zufolge im Vordergrund. Der Rezensent lobt den selbstkritischen Ton der Studie und wünscht sich eine ähnlich differenzierte Auseinandersetzung auch einmal von der palästinensischen Seite. Grosbard beschreibe den Weg der Annäherung der verfeindeten Parteien als langwierigen, kollektiven Weg aus einer "kollektiven Adoleszenz, die vor allem die eigene Unreife und Ichbezogenheit" überwinden müsse. Auf beiden Seiten, "vor allem der israelischen", stünden dem Frieden vor allem "emotionale Hindernisse" im Wege. Noch gelte die eigene Gewalt als heroisch, die andere als teuflisch. Doch erst wenn man den Mörder in sich und den Helden im anderen erkenne, sei man der Situation gewachsen, fasst der Rezensent eine zentrale These der Studie zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH