Als die Hamas am 7. Oktober 2023 über 1200 Israeli ermordete, war auf einen Schlag der von den Nazis verübte eliminatorische Antisemitismus zurückgekehrt. Und das ausgerechnet auf dem Boden jenes Staates, der seiner Bevölkerung eine existentielle Sicherheitsgarantie gegeben hatte.Als Reaktion auf den Überfall ordnete die Regierung Netanyahu an, den Aggressor auszuschalten. Da sich dieser aber im Gaza-Streifen versteckt hielt, kam es dabei zu einer enorm hohen Zahl an Opfern unter den palästinensischen Zivilisten.Die Bilder, die seitdem um die Welt gehen, führten zu einem Aufflammen des Antisemitismus in einem kaum noch für möglich gehaltenen Ausmaß. Begleitet werden diese Reaktionen von uferlosen Debatten, die häufig affektbesetzt und von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gezeichnet sind.Wolfgang Kraushaar unternimmt es, die altbekannten, häufig antisemitismusverdächtigen Stereotypen von triftigen Argumenten zu trennen. Dabei geht es ihm nicht - jedenfalls nicht primär - um historische Rekonstruktionen, sondern darum, das diskursive Feld von Topoi, Narrativen und Metadebatten nach Maßgabe einer Unterscheidung zwischen den zivilisatorischen Minimalbedingungen auf der einen und der Präzisierung und Ausdifferenzierung der Problem- und Grenzfälle auf der anderen Seite zu ordnen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als perfekten Einstieg in die Diskussionen um Israel, die Hamas und Gaza empfiehlt Rezensent Jens-Christian Rabe Wolfgang Kraushaars Band. Der widmet sich, erfahren wir, den zentralen heißen Eisen der Debatte, untersucht unter anderem die Gleichsetzung von Nakba und Holocaust, fragt, ob die Hamas eine Befreiungsbewegung ist, und legt dar, was es mit Parolen wie "From the River to the Sea" auf sich hat. Weder auf Polarisierung noch auf bloße lexikalische Aufzählung zielt Kraushaar ab, freut sich Rabe, vielmehr wendet er sich den Problemen in ernsthafter Rechtschaffenheit zu. So weist er laut Rabe etwa darauf hin, dass der Genozidvorwurf gegen Israel oft taktisch verwendet wird, dass aber gleichwohl das zunächst legitime Kriegsziel Israels in Gaza in ein genozidartiges Verbrechen umschlagen könne. Die Nakba wiederum sei nicht mit dem Holocaust gleichzusetzen, ein Vertreibungsverbrechen stelle sie allerdings schon dar. Insgesamt liefert Kraushaar uns hier, findet der Rezensent, eine wichtige Ergänzung zu anderen Büchern zum Thema und das perfekte Gegengift zu Talkshow-Diskursverknappungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2024Das Denken
entwirren
Ist der Nahostkonflikt unlösbar? Vielleicht. Ist er auch
unverstehbar? Das nicht: Wolfgang Kraushaar
liefert das überfällige Handbuch zum Thema.
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Von einem „scheinbar unlösbaren Konflikt“ ist im Untertitel von Wolfgang Kraushaars neuem Buchs „Israel, Hamas, Gaza, Palästina“ die Rede. Der Untertitel lässt nicht nur eine eher lakonisch-desillusionierte Lesart zu, sondern auch eine, die den spektakulären Eindruck erweckt, der Publizist und Politikwissenschaftler Kraushaar sei endlich der Mensch, der wisse, warum der immer nur weiter eskalierende Konflikt eigentlich lösbar ist. Das ist aus Verlagssicht verständlich, aber nicht glücklich – und vielleicht der einzige Fehler dieses in seiner Aufmachung sonst denkbar unscheinbaren und doch äußerst bemerkenswerten Buchs. Auf die Spur dessen, was Kraushaar im Buch eigentlich versucht, bringt einen viel besser das vorangestellte Zitat, das Konfuzius zugeschrieben wird: „Zuerst verwirren sich die Werte, dann verwirrt sich das Denken. Und wenn sich das Denken verwirrt, dann gerät die Politik in Unordnung. Und wenn das passiert, stürzt der Himmel ein.“
Kraushaar, der mit Büchern über Protestbewegungen und linken Terrorismus und Antisemitismus bekannt wurde, will das (deutsche) Denken über diesen Konflikt entwirren, und dieses auch recht titanische Unterfangen gelingt ihm bravourös. Bei der heiklen Frage, ob sich Deutsche überhaupt in israelische Belange (kritisch) einmischen sollten, verweist er auf den israelischen Philosophen Omri Boehm, der für sein Buch „Radikaler Universalismus“ gerade den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. In seinem vor vier Jahren erschienenen Buch „Israel – Eine Utopie“ schreibt Boehm, dass sich ein Deutscher, der sich in Bezug auf die israelische Politik Selbstzensur auferlege, weigere, den „Standpunkt der Aufklärung“ einzunehmen: „Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken.“ Kraushaar geht sogar so weit, zu sagen, dass das Nichteinmischungsgebot womöglich nicht nur keine Lösung, sondern noch ein wesentlicher Teil des Problems ist – und liefert tatsächlich eine so zugänglich geschriebene wie nüchtern-informierte Anleitung zum Verständnis dieses Konflikts.
Kern des Buchs sind die vier Hauptkapitel in der Mitte. Los geht es mit den „Topoi“ der Diskussion (unter anderem Zionismus, Palästina, Gazastreifen, Westjordanland, Hamas), dann werden die notorischen „Gleichsetzungen“ geprüft (unter anderem Nakba gleich Holocaust, Gaza gleich Ghetto, Westjordanland gleich Apartheid, Hamas gleich Befreiungsbewegung), bevor es um „Parolen und Narrative“ (unter anderem Schuldabwehr, „Free Palestine“, „Free Gaza from Hamas“, „From the River to the Sea“) und schließlich um die einschlägigen „Meta-Diskurse“ geht (unter anderem Staatsräson, Genozid, Zwei-Staaten-Lösung, Antisemitismus, Islamismus).
Heißeste Eisen allesamt, derer sich Kraushaar nicht einfach nur furchtlos, sondern vor allem angenehm umsichtig annimmt, was bedauerlicherweise alles andere als selbstverständlich ist. Seine Analysen blicken dabei nicht nur in die Geschichte, sondern betrachten immer wieder auch die jeweiligen jüngeren und jüngsten Entwicklungen und Debatten. Kraushaars erklärtes Ziel dabei: „Grundlagen sichtbar machen“.
Nicht jedem etwa, der die berüchtigte Parole „From the River to the Sea – Palestine will be free“ skandiert, so Kraushaar, mag klar sein, dass er – weil mit dem Fluss, um den es da geht, der Jordan gemeint ist, und mit dem Meer das Mittelmeer – damit die Auslöschung des israelischen Staates fordert. Auf jeden Fall aber könne jeder in Erfahrung bringen, dass genau das die Hamas fordere. Umgekehrt unterschlägt er auch nicht, dass viele Vertreter der in der israelischen Politik derzeit tonangebenden nationalkonservativen Rechten ein „Groß-Israel“ forderten, das seinerseits keinen Platz für einen Palästinenserstaat vorsieht. Es könne auch nicht bezweifelt werden, dass diese Position zum „Selbstverständnis“ von Regierungschef Benjamin Netanjahu gehöre, selbst „wenn er sie angesichts der israelischen Abhängigkeit von den USA eher hinter vorgehaltener Hand als offen für sich zu beanspruchen“ wage.
Es geht Kraushaar spürbar darum, den Stand der Dinge nicht polarisierend, sondern so genau wie möglich zu entfalten. Aber nicht trocken-lexikonhaft und pseudo-objektiv, sondern schlicht rechtschaffen. Die oft allzu leichtfertig oder taktisch verwendeten Schlagwörter nimmt Kraushaar wieder als Begriffe ernst, die keine rhetorischen Waffen sind, sondern einen überprüfbaren Inhalt und Sinn haben.
Gerade einmal viereinhalb Seiten widmet Kraushaar dem häufig vorgebrachten schweren Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen Genozid. Die haben es aber in sich. Zunächst weist Kraushaar darauf hin, dass unter Historikern, Völkerrechtlern und Sozialwissenschaftlern keine Einigkeit darüber herrscht, ob der Begriff im Fall Gaza angemessen ist. Er warnt deshalb davor, den Begriff „zu rasch und zu unkritisch“ zu gebrauchen, nicht zuletzt, weil seine Verwendung interessengeleitet sein könnte: Politische Gegner ließen sich schließlich kaum effektiver diskreditieren.
Mit Blick auf die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen, für die die „Absicht“ wesentlich ist, „eine nationale, ethische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, legt Kraushaar dar, dass der entscheidende Punkt im Nachweis eines genozidalen Aktes (für den die quantitative Dimension völkerrechtlich im Übrigen eine untergeordnete Rolle spielt) im Falle von Israels Vorgehen in Gaza fehle. Legitimes Kriegsziel sei erklärtermaßen die Vernichtung der Hamas, die per definitionem am 7. Oktober wiederum ihrerseits einen – über Monate geplanten – genozidalen Akt begangen habe. Könnte jedoch, so Kraushaar, ein legitimes Kriegsziel im gewaltsamen Akt seiner Verfolgung in ein „als genozidal einzustufendes Verbrechen umschlagen“? Das sei „durchaus denkbar“ und könne allein durch die abstrakte Berufung auf Legitimität nicht ausgeschlossen werden.
Ähnlich besonnen-instruktiv entfaltet sich das Kapitel zum Apartheid-Vorwurf gegen Israel. Die 750 000 israelischen Siedler, deren Vorstoß in ein Kerngebiet eines künftigen Palästinenserstaates nach internationalem Recht als illegal einzustufen sei, und die drei Millionen Palästinenser agierten im Wetsjordanland etwa jeweils in ganz unterschiedlichen Rechtssystemen. Die Siedler seien Bürger des demokratischen Rechtsstaats Israel, die Palästinenser dagegen lebten de jure in einem Militärregime. Konkret bedeute das, dass sie willkürlich enteignet oder sogar verhaftet werden können und im Falle des Falles keiner zivilen Rechtsprechung, sondern Richtern des israelischen Militärs unterstehen.
Der Schluss ist danach fast lehrbuchhaft. Er handelt als eine Art Zusammenfassung der Zusammenfassungen von zwölf „Essentials“, den zwölf essenziellen Erkenntnissen des Vorherigen. Dass das nicht redundant gerät, liegt daran, dass Kraushaar hier noch einmal vorbildlich dialektisch essayhaft versucht, die ganze Verzwicktheit der Situation zu fassen zu kriegen. Hier zählt nun wirklich jedes Wörtchen doppelt, und man spürt im besten Sinne, dass das dem Autor bei der Niederschrift bewusst war.
Zuerst geht es um die Grundlagen der Lage vor Ort. Ganz am Beginn steht für Kraushaar die Tatsache, dass sich Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ versteht. Als solcher wiederum befindet er sich im Grunde seit seiner Gründung „in einem offenen oder einem latenten Kriegszustand“. Nicht zuletzt, weil die Gründung seinerzeit auch mit einem „Vertreibungsverbrechen“ einherging. Auch im fünfundsiebzigsten Jahr des Bestehens ist die Vertreibung der Palästinenser „wohl immer noch größte Hypothek des Staates Israel“.
Diese Vertreibung, von den Palästinensern „Nakba“ genannt, sei allerdings, so Kraushaar, „nicht mit der Shoa gleichzusetzen“. So „tragisch und bitter Vertreibung und Massenflucht für die Palästinenser unbestreitbar war“, stelle sie „keinen genozidalen Akt“ dar. Das „Pogrom“ vom 7. Oktober habe die prekäre Lage des israelischen Staates vielleicht stärker als je zuvor sichtbar gemacht. Das Recht auf Selbstverteidigung sei deshalb legitim und unverzichtbar. Aber nicht um jeden Preis: „Wer die palästinensische Zivilbevölkerung monatelang bombardiert, um dem Terrorismus der Hamas das Handwerk zu legen, der läuft Gefahr, ein weiteres Vertreibungsverbrechen zu begehen, eine zweite Nakba.“
Danach rückt Deutschland in den Blick: Die „Existenzsicherung“ Israels gehöre, so Kraushaar, „zu Recht zu den unhintergehbaren Positionen deutscher Politik“. Den „obrigkeitsstaatlich vorbelasteten“ Begriff der „Staatsräson“ hält er dafür jedoch für fragwürdig. Die Solidarität mit dem Existenzrecht Israels sei nicht dasselbe wie die Nato-Beistandspflicht. Es dürfe, so Kraushaar, auch keine „Solidarität mit einem Besatzungsregime geben, das die Menschenrechte mit Füßen“ trete. Insofern sei es auch „inakzeptabel“, jede Form der Kritik an der Regierung Netanjahu und dem Vorgehen des Militärs „automatisch als offen oder verdeckt antisemitisch“ zurückzuweisen. Wenn die Kritik allerdings „einseitig“ ausfalle und sich weigere, das von der Hamas verübte Massaker zu verurteilen, „muss sie selbst einer entschiedenen Kritik unterzogen werden“. Die folgenden Essentials drehen sich um die Zukunft und klingen trivialer, als sie leider sind: Eine „bloß militärische Lösung“ des Konflikts sei „nicht vorstellbar“. Ebenso wenig unmöglich sei jedoch eine politische Lösung mit religiösen Kräften – und ohne die USA.
Die gerade insbesondere von Politik und Regierungen in aller Welt ins Spiel gebrachte Zwei-Staaten-Lösung aus den Neunzigern hält Kraushaar danach für „eher unwahrscheinlich“. Die Siedler hätten Fakten geschaffen. Ein Versuch, diese Fakten rückgängig zu machen, würde wohl eher der Anfang eines israelischen Bürgerkriegs sein als die Erfüllung „einer wesentlichen Rahmenbedingung für eine Zwei-Staaten-Lösung“. Realistischer ist für Kraushaar eine Art binationaler Staat, in dem es vor allem einmal darum gehe, allen Bewohnern die gleichen Rechte zu gewähren. Modell: „Two States – One Homeland“. Zwei Staaten, eine Heimat. Mehr als einen Hoffnungsschimmer wagt Kraushaar in dieser Idee vorerst aber nicht zu sehen, auch weil es natürlich mehr oder weniger das Ende – oder wenigstens eine deutliche Relativierung – dessen wäre, was Israel als jüdischer Nationalstaat heute ist.
Es wurden zuletzt diverse empfehlenswerte neue oder erstmals auf Deutsch erschienene Bücher zum Konflikt vorgelegt, etwa Benny Morris’ Dokumentation des ersten arabisch-israelischen Kriegs „1948“, Moshe Zimmermanns „Niemals Frieden? – Israel am Scheideweg“ oder Daniel Marweckis „Absolution? – Israel und die deutsche Staatsräson“. Wenn man jedoch eines für den Anfang empfehlen wollte, wäre es Kraushaars „Israel: Hamas, Gaza, Palästina“. Nicht zuletzt, weil man darin je nach Anlass auch immer wieder leicht Einzelnes nachschlagen und wiederlesen kann.
Mit anderen Worten: Kraushaars Buch ist die überfällige große kleine Handreichung zum Konflikt, die jedem empfohlen sei, der zwar wenig Zeit zu haben meint, aber doch das Bedürfnis hat, endlich mehr als ansatzweise durchzublicken. Dass es bislang von Kritik und Publikum weitgehend übersehen wurde, muss sich dringend ändern. Was für ein Segen wäre es, würde wenigstens hierzulande keine (Talkshow-)Diskussion mehr hinter den Stand dieses Buchs zurückfallen.
Nichteinmischung ist
auch keine Lösung,
argumentiert Kraushaar
Eine Zwei-Staaten-Lösung
hält Kraushaar für
„eher unwahrscheinlich“
Wolfgang Kraushaar wurde 1948 geboren und ist Historiker und Politikwissenschaftler.
Foto: Studioline Photography
Fliehende Palästinenser während der israelischen Bodenoffensive gegen die Hamas in Rafah am vergangenen Dienstag.
Foto: Jehad Alshrafi / AP
Wolfgang Kraushaar:
Israel: Hamas, Gaza,
Palästina – Über einen scheinbar unlösbaren
Konflikt.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2024.
218 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
entwirren
Ist der Nahostkonflikt unlösbar? Vielleicht. Ist er auch
unverstehbar? Das nicht: Wolfgang Kraushaar
liefert das überfällige Handbuch zum Thema.
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Von einem „scheinbar unlösbaren Konflikt“ ist im Untertitel von Wolfgang Kraushaars neuem Buchs „Israel, Hamas, Gaza, Palästina“ die Rede. Der Untertitel lässt nicht nur eine eher lakonisch-desillusionierte Lesart zu, sondern auch eine, die den spektakulären Eindruck erweckt, der Publizist und Politikwissenschaftler Kraushaar sei endlich der Mensch, der wisse, warum der immer nur weiter eskalierende Konflikt eigentlich lösbar ist. Das ist aus Verlagssicht verständlich, aber nicht glücklich – und vielleicht der einzige Fehler dieses in seiner Aufmachung sonst denkbar unscheinbaren und doch äußerst bemerkenswerten Buchs. Auf die Spur dessen, was Kraushaar im Buch eigentlich versucht, bringt einen viel besser das vorangestellte Zitat, das Konfuzius zugeschrieben wird: „Zuerst verwirren sich die Werte, dann verwirrt sich das Denken. Und wenn sich das Denken verwirrt, dann gerät die Politik in Unordnung. Und wenn das passiert, stürzt der Himmel ein.“
Kraushaar, der mit Büchern über Protestbewegungen und linken Terrorismus und Antisemitismus bekannt wurde, will das (deutsche) Denken über diesen Konflikt entwirren, und dieses auch recht titanische Unterfangen gelingt ihm bravourös. Bei der heiklen Frage, ob sich Deutsche überhaupt in israelische Belange (kritisch) einmischen sollten, verweist er auf den israelischen Philosophen Omri Boehm, der für sein Buch „Radikaler Universalismus“ gerade den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. In seinem vor vier Jahren erschienenen Buch „Israel – Eine Utopie“ schreibt Boehm, dass sich ein Deutscher, der sich in Bezug auf die israelische Politik Selbstzensur auferlege, weigere, den „Standpunkt der Aufklärung“ einzunehmen: „Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken.“ Kraushaar geht sogar so weit, zu sagen, dass das Nichteinmischungsgebot womöglich nicht nur keine Lösung, sondern noch ein wesentlicher Teil des Problems ist – und liefert tatsächlich eine so zugänglich geschriebene wie nüchtern-informierte Anleitung zum Verständnis dieses Konflikts.
Kern des Buchs sind die vier Hauptkapitel in der Mitte. Los geht es mit den „Topoi“ der Diskussion (unter anderem Zionismus, Palästina, Gazastreifen, Westjordanland, Hamas), dann werden die notorischen „Gleichsetzungen“ geprüft (unter anderem Nakba gleich Holocaust, Gaza gleich Ghetto, Westjordanland gleich Apartheid, Hamas gleich Befreiungsbewegung), bevor es um „Parolen und Narrative“ (unter anderem Schuldabwehr, „Free Palestine“, „Free Gaza from Hamas“, „From the River to the Sea“) und schließlich um die einschlägigen „Meta-Diskurse“ geht (unter anderem Staatsräson, Genozid, Zwei-Staaten-Lösung, Antisemitismus, Islamismus).
Heißeste Eisen allesamt, derer sich Kraushaar nicht einfach nur furchtlos, sondern vor allem angenehm umsichtig annimmt, was bedauerlicherweise alles andere als selbstverständlich ist. Seine Analysen blicken dabei nicht nur in die Geschichte, sondern betrachten immer wieder auch die jeweiligen jüngeren und jüngsten Entwicklungen und Debatten. Kraushaars erklärtes Ziel dabei: „Grundlagen sichtbar machen“.
Nicht jedem etwa, der die berüchtigte Parole „From the River to the Sea – Palestine will be free“ skandiert, so Kraushaar, mag klar sein, dass er – weil mit dem Fluss, um den es da geht, der Jordan gemeint ist, und mit dem Meer das Mittelmeer – damit die Auslöschung des israelischen Staates fordert. Auf jeden Fall aber könne jeder in Erfahrung bringen, dass genau das die Hamas fordere. Umgekehrt unterschlägt er auch nicht, dass viele Vertreter der in der israelischen Politik derzeit tonangebenden nationalkonservativen Rechten ein „Groß-Israel“ forderten, das seinerseits keinen Platz für einen Palästinenserstaat vorsieht. Es könne auch nicht bezweifelt werden, dass diese Position zum „Selbstverständnis“ von Regierungschef Benjamin Netanjahu gehöre, selbst „wenn er sie angesichts der israelischen Abhängigkeit von den USA eher hinter vorgehaltener Hand als offen für sich zu beanspruchen“ wage.
Es geht Kraushaar spürbar darum, den Stand der Dinge nicht polarisierend, sondern so genau wie möglich zu entfalten. Aber nicht trocken-lexikonhaft und pseudo-objektiv, sondern schlicht rechtschaffen. Die oft allzu leichtfertig oder taktisch verwendeten Schlagwörter nimmt Kraushaar wieder als Begriffe ernst, die keine rhetorischen Waffen sind, sondern einen überprüfbaren Inhalt und Sinn haben.
Gerade einmal viereinhalb Seiten widmet Kraushaar dem häufig vorgebrachten schweren Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen Genozid. Die haben es aber in sich. Zunächst weist Kraushaar darauf hin, dass unter Historikern, Völkerrechtlern und Sozialwissenschaftlern keine Einigkeit darüber herrscht, ob der Begriff im Fall Gaza angemessen ist. Er warnt deshalb davor, den Begriff „zu rasch und zu unkritisch“ zu gebrauchen, nicht zuletzt, weil seine Verwendung interessengeleitet sein könnte: Politische Gegner ließen sich schließlich kaum effektiver diskreditieren.
Mit Blick auf die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen, für die die „Absicht“ wesentlich ist, „eine nationale, ethische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, legt Kraushaar dar, dass der entscheidende Punkt im Nachweis eines genozidalen Aktes (für den die quantitative Dimension völkerrechtlich im Übrigen eine untergeordnete Rolle spielt) im Falle von Israels Vorgehen in Gaza fehle. Legitimes Kriegsziel sei erklärtermaßen die Vernichtung der Hamas, die per definitionem am 7. Oktober wiederum ihrerseits einen – über Monate geplanten – genozidalen Akt begangen habe. Könnte jedoch, so Kraushaar, ein legitimes Kriegsziel im gewaltsamen Akt seiner Verfolgung in ein „als genozidal einzustufendes Verbrechen umschlagen“? Das sei „durchaus denkbar“ und könne allein durch die abstrakte Berufung auf Legitimität nicht ausgeschlossen werden.
Ähnlich besonnen-instruktiv entfaltet sich das Kapitel zum Apartheid-Vorwurf gegen Israel. Die 750 000 israelischen Siedler, deren Vorstoß in ein Kerngebiet eines künftigen Palästinenserstaates nach internationalem Recht als illegal einzustufen sei, und die drei Millionen Palästinenser agierten im Wetsjordanland etwa jeweils in ganz unterschiedlichen Rechtssystemen. Die Siedler seien Bürger des demokratischen Rechtsstaats Israel, die Palästinenser dagegen lebten de jure in einem Militärregime. Konkret bedeute das, dass sie willkürlich enteignet oder sogar verhaftet werden können und im Falle des Falles keiner zivilen Rechtsprechung, sondern Richtern des israelischen Militärs unterstehen.
Der Schluss ist danach fast lehrbuchhaft. Er handelt als eine Art Zusammenfassung der Zusammenfassungen von zwölf „Essentials“, den zwölf essenziellen Erkenntnissen des Vorherigen. Dass das nicht redundant gerät, liegt daran, dass Kraushaar hier noch einmal vorbildlich dialektisch essayhaft versucht, die ganze Verzwicktheit der Situation zu fassen zu kriegen. Hier zählt nun wirklich jedes Wörtchen doppelt, und man spürt im besten Sinne, dass das dem Autor bei der Niederschrift bewusst war.
Zuerst geht es um die Grundlagen der Lage vor Ort. Ganz am Beginn steht für Kraushaar die Tatsache, dass sich Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ versteht. Als solcher wiederum befindet er sich im Grunde seit seiner Gründung „in einem offenen oder einem latenten Kriegszustand“. Nicht zuletzt, weil die Gründung seinerzeit auch mit einem „Vertreibungsverbrechen“ einherging. Auch im fünfundsiebzigsten Jahr des Bestehens ist die Vertreibung der Palästinenser „wohl immer noch größte Hypothek des Staates Israel“.
Diese Vertreibung, von den Palästinensern „Nakba“ genannt, sei allerdings, so Kraushaar, „nicht mit der Shoa gleichzusetzen“. So „tragisch und bitter Vertreibung und Massenflucht für die Palästinenser unbestreitbar war“, stelle sie „keinen genozidalen Akt“ dar. Das „Pogrom“ vom 7. Oktober habe die prekäre Lage des israelischen Staates vielleicht stärker als je zuvor sichtbar gemacht. Das Recht auf Selbstverteidigung sei deshalb legitim und unverzichtbar. Aber nicht um jeden Preis: „Wer die palästinensische Zivilbevölkerung monatelang bombardiert, um dem Terrorismus der Hamas das Handwerk zu legen, der läuft Gefahr, ein weiteres Vertreibungsverbrechen zu begehen, eine zweite Nakba.“
Danach rückt Deutschland in den Blick: Die „Existenzsicherung“ Israels gehöre, so Kraushaar, „zu Recht zu den unhintergehbaren Positionen deutscher Politik“. Den „obrigkeitsstaatlich vorbelasteten“ Begriff der „Staatsräson“ hält er dafür jedoch für fragwürdig. Die Solidarität mit dem Existenzrecht Israels sei nicht dasselbe wie die Nato-Beistandspflicht. Es dürfe, so Kraushaar, auch keine „Solidarität mit einem Besatzungsregime geben, das die Menschenrechte mit Füßen“ trete. Insofern sei es auch „inakzeptabel“, jede Form der Kritik an der Regierung Netanjahu und dem Vorgehen des Militärs „automatisch als offen oder verdeckt antisemitisch“ zurückzuweisen. Wenn die Kritik allerdings „einseitig“ ausfalle und sich weigere, das von der Hamas verübte Massaker zu verurteilen, „muss sie selbst einer entschiedenen Kritik unterzogen werden“. Die folgenden Essentials drehen sich um die Zukunft und klingen trivialer, als sie leider sind: Eine „bloß militärische Lösung“ des Konflikts sei „nicht vorstellbar“. Ebenso wenig unmöglich sei jedoch eine politische Lösung mit religiösen Kräften – und ohne die USA.
Die gerade insbesondere von Politik und Regierungen in aller Welt ins Spiel gebrachte Zwei-Staaten-Lösung aus den Neunzigern hält Kraushaar danach für „eher unwahrscheinlich“. Die Siedler hätten Fakten geschaffen. Ein Versuch, diese Fakten rückgängig zu machen, würde wohl eher der Anfang eines israelischen Bürgerkriegs sein als die Erfüllung „einer wesentlichen Rahmenbedingung für eine Zwei-Staaten-Lösung“. Realistischer ist für Kraushaar eine Art binationaler Staat, in dem es vor allem einmal darum gehe, allen Bewohnern die gleichen Rechte zu gewähren. Modell: „Two States – One Homeland“. Zwei Staaten, eine Heimat. Mehr als einen Hoffnungsschimmer wagt Kraushaar in dieser Idee vorerst aber nicht zu sehen, auch weil es natürlich mehr oder weniger das Ende – oder wenigstens eine deutliche Relativierung – dessen wäre, was Israel als jüdischer Nationalstaat heute ist.
Es wurden zuletzt diverse empfehlenswerte neue oder erstmals auf Deutsch erschienene Bücher zum Konflikt vorgelegt, etwa Benny Morris’ Dokumentation des ersten arabisch-israelischen Kriegs „1948“, Moshe Zimmermanns „Niemals Frieden? – Israel am Scheideweg“ oder Daniel Marweckis „Absolution? – Israel und die deutsche Staatsräson“. Wenn man jedoch eines für den Anfang empfehlen wollte, wäre es Kraushaars „Israel: Hamas, Gaza, Palästina“. Nicht zuletzt, weil man darin je nach Anlass auch immer wieder leicht Einzelnes nachschlagen und wiederlesen kann.
Mit anderen Worten: Kraushaars Buch ist die überfällige große kleine Handreichung zum Konflikt, die jedem empfohlen sei, der zwar wenig Zeit zu haben meint, aber doch das Bedürfnis hat, endlich mehr als ansatzweise durchzublicken. Dass es bislang von Kritik und Publikum weitgehend übersehen wurde, muss sich dringend ändern. Was für ein Segen wäre es, würde wenigstens hierzulande keine (Talkshow-)Diskussion mehr hinter den Stand dieses Buchs zurückfallen.
Nichteinmischung ist
auch keine Lösung,
argumentiert Kraushaar
Eine Zwei-Staaten-Lösung
hält Kraushaar für
„eher unwahrscheinlich“
Wolfgang Kraushaar wurde 1948 geboren und ist Historiker und Politikwissenschaftler.
Foto: Studioline Photography
Fliehende Palästinenser während der israelischen Bodenoffensive gegen die Hamas in Rafah am vergangenen Dienstag.
Foto: Jehad Alshrafi / AP
Wolfgang Kraushaar:
Israel: Hamas, Gaza,
Palästina – Über einen scheinbar unlösbaren
Konflikt.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2024.
218 Seiten, 18 Euro.
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