Es ist ein langer, heißer Augusttag im New Orleans der Trump-Ära. Der »Boss« Victor Tuchman, ein schwerreicher skrupelloser Geschäftsmann und brutaler Patriarch, kommt mit einem Herzinfarkt in die Notaufnahme. Seine Frau Barbra, gertenschlank und perfekt geschminkt, hört auch im Krankenhaus nicht auf, ihr tägliches Schrittpensum zu absolvieren. Während der Sohn Gary sich weigert, den Sterbenden zu besuchen, fährt die Tochter Alex nur hin, um die Mutter zum Reden zu bringen. Die Enkelinnen gehen längst ihre eigenen Wege. Die Schwiegertochter Twyla zeigt wie immer als Einzige Gefühle. Beobachtet vom Krankenhauspersonal und unterwegs in einer einst glanzvollen, jedoch vom Hurrikan Katrina noch immer gezeichneten Stadt, versucht Alex, die Wahrheit über die Familie zu ergründen, während zwischen Gary und Twyla der Kummer über ihre gescheiterte Ehe wieder aufflammt.Mit Ist alles deins! zeigt sich Jami Attenberg auf der Höhe ihrer Kunst: ein tiefgründiger Familienroman über die ungeheuren Auswirkungen missbrauchter Macht, alter Wunden und gefährlicher Abhängigkeiten.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Christiane Lutz kennt Jami Attenberg als Spezialistin für familiäre Abgründe. In ihrem neuen Buch nimmt Attenberg laut Lutz den nahen Tod eines Patriarchen zum Anlass, die zusammengekommenen Familienmitglieder über ihre Versehrungen durch den Moribunden Bilanz ziehen zu lassen. Vor allem die Frauen kommen in der 2018 in New Orleans spielenden Geschichte zu Wort, erklärt Lutz. Das Ganze erscheint wie eine Familienaufstellung, die Ängste, Betrug und Gewalt ans Licht bringt, wobei der Kranke laut Lutz selbst nicht zu Wort kommt. Aus Attenbergs Sektion gehen die Frauen am Ende einigermaßen befreit hervor, stellt die Rezensentin erleichtert fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2021Zeit der
irren Männer
Was tun, wenn der eigene Vater
ein zwielichtiger Sexist ist?
Wenn ein Mensch im Sterben liegt, ist es üblich, dass die Familie eilig zusammenkommt, betroffen. Man versammelt sich am Krankenbett, spendet einander Trost, hält die Hand des Verschwindenden und versucht, auf den letzten Metern noch Dinge zu klären. Um Verzeihung zu bitten. Selbst zu verzeihen. Zu sagen, dass man sich doch eigentlich ganz gern hat.
Was aber, wenn ein schlechter Mensch im Sterben liegt? Einer, der seine Frau schlägt und andere Frauen belästigt? Ein gefühlskalter Machtmensch, der sich mehr für seine Konten als für seine Kinder interessiert? Muss man dem auch verzeihen? Muss man nicht, entscheidet Alex. „Auch wenn sie das nie laut gesagt hätte, konnte sie nun kaum erwarten, dass ihr Vater starb, damit sie endlich die Wahrheit über ihn erfuhr.“ Nur diese Neugier ist es, die Alex ins Krankenhaus zu ihrem Vater Victor nach New Orleans treibt, Herzinfarkt. Die Neugier, und der Wunsch, Mutter Barbra beizustehen, die Victor nach vielen entwürdigenden Ehejahren immer noch nicht verlassen hat. „Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er ins Gefängnis gehörte, in diesem Augenblick, wirklich. Wenn er nicht im Sterben läge“, denkt Alex.
Schonungslos spielt die amerikanische Autorin Jami Attenberg in „Ist alles deins!“ die Verabschiedung von einem Mann durch, von dem sich eigentlich niemand verabschieden will. Sie erzählt die Geschichten der Mitglieder der Familie Tuchman, die nun antanzen – oder eben nicht. Mutter Barbra, die noch im Krankenhausflur ihre Schritte zählt, um wenigstens die Kontrolle über irgendwas zu haben. Tochter Alex, die selbst von ihrem Mann getrennt ist, ein schöner Trottel und etwas nachlässiger Vater für Tochter Avery, aber immerhin kein böser Mensch. Ihr Bruder Gary, der in Los Angeles ein Dasein als ewiger zweiter Regieassistent fristet und dessen größte Angst ist, so zu werden, wie sein Vater (was natürlich beinahe schon unvermeidbar scheint). Seine Frau Twyla hat sich in ihrer Einsamkeit auch von Victor einwickeln lassen rezitiert nun an seinem Bett schluchzend Bibelverse.
Es ist die Zeit in New Orleans nach Hurricane Katrina und die Zeit Donald Trumps (das Buch spielt im Sommer 2018), das ist Attenberg wichtig, festzulegen. Es ist eine Zeit der Unsicherheit, der Umbrüche und leider auch eine Zeit der wahnsinnigen Männer, die sich (fast) alles erlauben können. Es ist kein Zufall, dass Victor ausgerechnet Immobiliengeschäfte in New Jersey macht, auch das übersteigerte Ego des als nicht sehr attraktiv beschriebenen Mannes erinnert an Donald Trump, genauso wie die Dreistigkeit, mit der er sich nimmt, was er will.
Männer wie Trump, scheint Attenberg sagen zu wollen, schufen Räume, in denen Männer wie Victor unbehelligt ihre Widerlichkeiten ausleben konnten.
Als allwissende Erzählerin blickt Attenberg auch immer wieder in die Köpfe von Zufallsbegegnungen der Protagonisten in New Orleans. Zum einen ist das wohl eine kleine Umarmung der Stadt, in der Attenberg selbst lebt, zum anderen zeigt sie damit, wie eng Menschen in einer Gesellschaft miteinander verstrickt sind. Ein Mensch ist immer auch das, was er durch die Augen der anderen ist.
Raffiniert schlüsselt Attenberg in „Ist alles deins“ (Dein Erbe? Deine Last? Dein Problem?) das psychologische Familiengefüge auf, ohne die zentrale Figur Victor selbst zu Wort kommen zu lassen. Keine Verteidigung, sondern nur Angriffe von verschiedenen Seiten. Sie schildert die Wut auf seine Beleidigungen, die Angst und die Abhängigkeit, die vor allem Mutter Barbra spürt: „Hin und wieder schlug er sie. Die Auseinandersetzungen waren dumm, belanglos, es ging um nichts, um Geld, das sie reichlich hatten. Nichts rechtfertigte jemals Gewalt, doch sie gewöhnte sich daran, und in gewisser Weise wusste sie so, dass er sie noch beachtete“.
Victors geschäftliche Betrügereien und später die Anzeigen gegen ihn wegen sexueller Belästigung spielen beinahe eine untergeordnete Rolle, eigentlich geht es um die seelischen Verwundungen, die er in seinem Umfeld hinterlassen hat.
Familien und ihre Abgründe sind Attenbergs Spezialität, in „Die Middlesteins“ schilderte sie eine sich vordergründig liebende Familie, die die Mutter Edie vor der Fettleibigkeit bewahren will. In „Ist alles deins!“ geht es auch nur nur vordergründig ums Sterben, der Tod ist nur willkommener Anlass, Klartext zu reden.
Attenberg seziert die ungesunden Prägungen innerhalb einer Familie und fragt, ob es daraus eigentlich jemals ein Entkommen geben kann. Am Ende sind es, wohl nicht zufällig, die Frauen, die den Patriarchen auf ihre Weise überwinden und sich halbwegs frei strampeln, allen voran Tochter Alex. Ein – im besten Sinne – unversöhnliches Buch.
CHRISTIANE LUTZ
„Nichts rechtfertigte jemals
Gewalt, doch sie gewöhnte
sich daran“
Jami Attenberg: Ist alles deins. Roman.
Schöffling & Co, Frankfurt am Main, 2021.
320 Seiten, 24 Seiten.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
irren Männer
Was tun, wenn der eigene Vater
ein zwielichtiger Sexist ist?
Wenn ein Mensch im Sterben liegt, ist es üblich, dass die Familie eilig zusammenkommt, betroffen. Man versammelt sich am Krankenbett, spendet einander Trost, hält die Hand des Verschwindenden und versucht, auf den letzten Metern noch Dinge zu klären. Um Verzeihung zu bitten. Selbst zu verzeihen. Zu sagen, dass man sich doch eigentlich ganz gern hat.
Was aber, wenn ein schlechter Mensch im Sterben liegt? Einer, der seine Frau schlägt und andere Frauen belästigt? Ein gefühlskalter Machtmensch, der sich mehr für seine Konten als für seine Kinder interessiert? Muss man dem auch verzeihen? Muss man nicht, entscheidet Alex. „Auch wenn sie das nie laut gesagt hätte, konnte sie nun kaum erwarten, dass ihr Vater starb, damit sie endlich die Wahrheit über ihn erfuhr.“ Nur diese Neugier ist es, die Alex ins Krankenhaus zu ihrem Vater Victor nach New Orleans treibt, Herzinfarkt. Die Neugier, und der Wunsch, Mutter Barbra beizustehen, die Victor nach vielen entwürdigenden Ehejahren immer noch nicht verlassen hat. „Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er ins Gefängnis gehörte, in diesem Augenblick, wirklich. Wenn er nicht im Sterben läge“, denkt Alex.
Schonungslos spielt die amerikanische Autorin Jami Attenberg in „Ist alles deins!“ die Verabschiedung von einem Mann durch, von dem sich eigentlich niemand verabschieden will. Sie erzählt die Geschichten der Mitglieder der Familie Tuchman, die nun antanzen – oder eben nicht. Mutter Barbra, die noch im Krankenhausflur ihre Schritte zählt, um wenigstens die Kontrolle über irgendwas zu haben. Tochter Alex, die selbst von ihrem Mann getrennt ist, ein schöner Trottel und etwas nachlässiger Vater für Tochter Avery, aber immerhin kein böser Mensch. Ihr Bruder Gary, der in Los Angeles ein Dasein als ewiger zweiter Regieassistent fristet und dessen größte Angst ist, so zu werden, wie sein Vater (was natürlich beinahe schon unvermeidbar scheint). Seine Frau Twyla hat sich in ihrer Einsamkeit auch von Victor einwickeln lassen rezitiert nun an seinem Bett schluchzend Bibelverse.
Es ist die Zeit in New Orleans nach Hurricane Katrina und die Zeit Donald Trumps (das Buch spielt im Sommer 2018), das ist Attenberg wichtig, festzulegen. Es ist eine Zeit der Unsicherheit, der Umbrüche und leider auch eine Zeit der wahnsinnigen Männer, die sich (fast) alles erlauben können. Es ist kein Zufall, dass Victor ausgerechnet Immobiliengeschäfte in New Jersey macht, auch das übersteigerte Ego des als nicht sehr attraktiv beschriebenen Mannes erinnert an Donald Trump, genauso wie die Dreistigkeit, mit der er sich nimmt, was er will.
Männer wie Trump, scheint Attenberg sagen zu wollen, schufen Räume, in denen Männer wie Victor unbehelligt ihre Widerlichkeiten ausleben konnten.
Als allwissende Erzählerin blickt Attenberg auch immer wieder in die Köpfe von Zufallsbegegnungen der Protagonisten in New Orleans. Zum einen ist das wohl eine kleine Umarmung der Stadt, in der Attenberg selbst lebt, zum anderen zeigt sie damit, wie eng Menschen in einer Gesellschaft miteinander verstrickt sind. Ein Mensch ist immer auch das, was er durch die Augen der anderen ist.
Raffiniert schlüsselt Attenberg in „Ist alles deins“ (Dein Erbe? Deine Last? Dein Problem?) das psychologische Familiengefüge auf, ohne die zentrale Figur Victor selbst zu Wort kommen zu lassen. Keine Verteidigung, sondern nur Angriffe von verschiedenen Seiten. Sie schildert die Wut auf seine Beleidigungen, die Angst und die Abhängigkeit, die vor allem Mutter Barbra spürt: „Hin und wieder schlug er sie. Die Auseinandersetzungen waren dumm, belanglos, es ging um nichts, um Geld, das sie reichlich hatten. Nichts rechtfertigte jemals Gewalt, doch sie gewöhnte sich daran, und in gewisser Weise wusste sie so, dass er sie noch beachtete“.
Victors geschäftliche Betrügereien und später die Anzeigen gegen ihn wegen sexueller Belästigung spielen beinahe eine untergeordnete Rolle, eigentlich geht es um die seelischen Verwundungen, die er in seinem Umfeld hinterlassen hat.
Familien und ihre Abgründe sind Attenbergs Spezialität, in „Die Middlesteins“ schilderte sie eine sich vordergründig liebende Familie, die die Mutter Edie vor der Fettleibigkeit bewahren will. In „Ist alles deins!“ geht es auch nur nur vordergründig ums Sterben, der Tod ist nur willkommener Anlass, Klartext zu reden.
Attenberg seziert die ungesunden Prägungen innerhalb einer Familie und fragt, ob es daraus eigentlich jemals ein Entkommen geben kann. Am Ende sind es, wohl nicht zufällig, die Frauen, die den Patriarchen auf ihre Weise überwinden und sich halbwegs frei strampeln, allen voran Tochter Alex. Ein – im besten Sinne – unversöhnliches Buch.
CHRISTIANE LUTZ
„Nichts rechtfertigte jemals
Gewalt, doch sie gewöhnte
sich daran“
Jami Attenberg: Ist alles deins. Roman.
Schöffling & Co, Frankfurt am Main, 2021.
320 Seiten, 24 Seiten.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Jami Attenberg zeichnet für jede Nebenfigur ein plastisches Charakterbild, das uns an diesem Augusttag im Jahr 2018 nicht nur eine jüdische Familie von der Ostküste, sondern auch den Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft vor Augen führt.«Miriam Zeh, Deutschlandfunk Büchermarkt